Here we go again

Ich setze mich an den Schreibtisch, ich fange an zu tippen. Ich habe nichts zu erzählen, denke ich, aber das macht nichts. Und zwar macht es nichts, weil ich das schon seit Jahren denke, besonders aber seit dem März des letzten Jahres denke, seit diesem März also, der seitdem anhält und einfach nicht vergehen will, der sich in Kürze auf die elend beeindruckende Länge von 24 Normalmonaten aufgebläht haben wird. Ich habe nichts zu erzählen. Ich sehe nichts, ich erlebe nichts, ich komme nicht herum. Ich treffe keine Menschen, ich reise nicht, das schon gar nicht. Ich habe nichts zu erzählen; damit will ich anfangen. Darüber gibt es nicht den leisesten Zweifel. Sie sehen später, warum das kursiv ist, es ist nur ein kleiner Scherz am Rande.

Dafür, dass ich nichts zu erzählen habe, steht hier oft recht viel, finde ich. Ab und zu fällt mir das auf, dann scrolle ich ein wenig hinunter und lese hier und da nach, weil ich mich selbst fragen muss, worüber zum Teufel ich denn bloß dauernd schreiben konnte, wenn doch nichts ist und auch sicher nichts war. Dann staune ich manchmal, auf was ich da gekommen bin, was nicht damit gleichzusetzen ist, dass ich das dann gut finde. Ich bin eher unfreundlich als Kritiker meiner selbst, mein innerer M2R grantelt routinemäßig, wer soll denn das bitte lesen wollen: „Dieser Text hat mich unsäglich gelangweilt.“

Ich lese gute und sehr gute Bücher, ich denke, hör bloß auf zu schreiben. Ich höre Werke der Weltliteratur, ich denke, was machst du hier eigentlich. Und bitte, das ist kein fishing für compliments, ich versuche, nur, etwas zu erklären. Es ist nämlich so: Ich denke, dass mir nichts einfällt, ich denke, dass ich auch das nicht gut genug ausdrücken kann. Ich gehe an den Schreibtisch und schreibe das auf. Ich setze mich an den Schreibtisch, ich fange an zu tippen. Im Grunde, das wollte ich nur eben sagen, stößt mir das zu, dass hier immer wieder etwas steht. Ich weiß auch nicht, wie das kommt. Ich habe gar nichts zu erzählen. Ich denke nicht einmal genug, denke ich immer wieder.

Ich habe Urlaub, ich gehe am Morgen zur Booster-Impfung. Die findet beim Orthopäden statt, die Herzdame hatte bei einem ihrer Besuche gesehen, dass der so etwas anbietet und mir dort kurzerhand einen Termin gekapert, auf den Tag genau 5 Monate nach meiner letzten Impfung. Es ist ein Timing wie unter pünktlichen Pedanten, die in Finanzabteilungen arbeiten, es ist ein Timing, das mir gefällt. Der Morgen ist eisig, ungewohnt klar und kalt, ich gehe einen Teil des Weges zum Arzt zu Fuß. Ich höre dabei die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens. Warum sollte ich sie nicht hören, sie passt jetzt wieder. Natürlich kenne ich die Geschichte schon sattsam, aber hey, Traditionen, Rituale, ich erwähnte es neulich bereits und ich meinte es ernst. Es ist außerdem über weite Strecken eine gute Geschichte, wenn auch vielleicht nicht durchgehend, aber egal. Sie beginnt so:

Marley war tot; damit wollen wir anfangen. Darüber gibt es nicht den leisesten Zweifel.

Ich halte das für einen hervorragenden Anfang. Und kurz darauf schon erscheint das Gesicht Marleys auf dem eisernen Türklopfer, es ist ein guter und lockender Einstieg. Lassen Sie es sich einmal vorlesen, wenn Sie es noch nicht kennen oder längst wieder vergessen haben, von ihrem Gespons, von ihren Kindern, Eltern oder etwa auch von Sven Görtz per Hörbuch.

Im Wartezimmer des Arztes sitzt mir eine Frau gegenüber, die mit Fug und Recht als Dame bezeichnet werden kann. Um Ihre Fantasie auf die richtige Spur zu bringen, stellen Sie sich vielleicht die Präsidentin eines obersten Gerichtes vor, die Aufsichtsratsvorsitzende einer bekannten Hamburger Aktiengesellschaft, die Inhaberin einer ehrwürdigen hanseatischen Privatbank, die Grande Dame des deutschen Kaffeehandels, etwas in dieser Art – Sie verstehen die Richtung. So eine Ausstrahlung. Ein harmonischer Dreiklang von Distinktion, Wohlstand und Kompetenz, eine Dame aus einer anderen sozialen Sphäre. Ich kenne einige wohlhabende Menschen, aber diese Dame hier verfügt über mehr. Und länger schon. Zumindest sieht sie so aus, zumindest wirkt sie so.

Und die sitzt da also nun, kerzengerade, wie solche Menschen eben immer sitzen und wie ich rückenbedingt gar nicht sitzen kann, da fängt es ja schon an, da falle ich schon ab, da habe ich schon erste Abzüge in der Haltungsnote. Sie sitzt mir gegenüber und ruckt ab und zu mit der Schulter. Das tut sie äußerst dezent und nur dann, wenn ich gerade nicht hinsehe. Ich sehe es lediglich aus dem Augenwinkel. Wenn ich etwa beiläufig aus dem Fenster sehe, hebt sie eine Schulter, soweit es unauffällig gerade noch geht, dehnt den Hals ein wenig dabei, beugt den Kopf. Ich sehe sie an, sie sitzt augenblicklich still und sieht stoisch über mich hinweg, auf die abstrakte Wartezimmerkunst über mir. Ich sehe wieder aus dem Fenster, sie hebt noch einmal die Schulter. Ich nehme an, sie sucht den Schmerz, der sie zum Besuch in dieser Praxis getrieben hat. Vielleicht schmerzt es seit einer Weile nicht mehr, vielleicht überlegt sie, was sie hier eigentlich macht und ob sie nicht einfach gehen kann, am Ende ist das alles Zeitverschwendung? Da ist doch gar nichts? Ich glaube, ich habe ähnliche Verrenkungen auch schon in Wartezimmern aufgeführt, was sagt man dem Arzt, wo genau tut es weh und wie sehr. Dann durchfährt es sie auf einmal mit Macht und sie zuckt jäh zusammen. Sie hat die Stelle zweifellos gefunden, die falsche Bewegung noch einmal gemacht, das Problem lokalisiert. Ein feines Zischen ist durch zusammengepresste Zähne zu hören, wo alle Welt vermutlich etwas von Scheiße gebrüllt hätte, und sie hält sich für einen kurzen Moment die jäh aufflammende Stelle am Schultergelenk und lächelt mich dabei verbindlich an. Contenance par excellence. Ich lächele zurück. Ich sollte nichts sehen, ich habe nichts gesehen. Ich denke mir nur: Einmal wieder etwas so im Griff haben, wie diese Dame sich selbst. Das wäre schön.

Die Impfung erfolgt auf die denkbar fröhlichste Art, lauter gutgelaunte Menschen wuseln um mich herum, eine spaßhafte Angelegenheit ist das und überhaupt ist man es hier gewohnt, Nadeln in mich zu jagen. Der Oberarm ist dabei eine vergleichsweise entspannt zu erreichende Stelle, das ist auch gut.

Ich warte danach die obligatorischen zehn Minuten ab, ich höre Charles Dickens im Wartezimmer. Im weiteren Verlauf sagt Scrooge da zu dem einen Geist, dessen belehrende Vorführungen er nicht mehr zu ertragen vermag: „Umspenstere mich nicht länger!“ Carl Kolb war der Übersetzer, er ist für diesen Imperativ unbedingt zu loben. „Umspenstere mich nicht länger!“ Das vielleicht auch mal dieser Pandemie ungnädig zurufen.

Es ist so eine Sache mit Charles Dickens und der Gegenwart. Da draußen ist selbstverständlich kein rußiger Londoner Nebel, aber die Kälte passt doch und die zerlumpten Gestalten in den Hauseingängen sieht man auch, wenn man nur hinsieht. Auf dem Weihnachtsmarkt etwa, den ich gerade für das Goethe-Institut beschrieben habe, lag eine solche Gestalt hinter einer wohlduftenden Bude für Schmalzgebäck. Ein Mann lag da auf dem Straßenpflaster und schlief, in einem zerfetzten Schlafsack, direkt hinter den Lichtern des Marktes. Er kam in meinem Text nicht vor. Klischees, Klischees, ich weiß, aber es ist eben noch so. Es wird vielleicht auch immer so sein, was weiß ich.

An der Straße, die ich täglich zum Einkaufen entlang gehe, stand schon vor der Pandemie immer eine Bettlerin, jeder kannte die, immer an der gleichen Stelle stand sie. Heute stehen auf diesem Weg manchmal mehr als zehn bettelnde Menschen, zwölf waren es neulich, und diese eine Bettlerin, die da immer schon stand, rief mir gestern zu: „Ich krieg jetzt gar nichts mehr!“

Ich habe in den letzten Monaten oft erwähnt, dass die Schlange vor der wöchentlichen Essensausgabe der Kirche im letzten Jahr immer länger wurde. Ich könnte hier am Küchenfenster gewisse Szenen von Dickens lesen oder hören und dabei runter auf diese Schlange sehen. Sie machen sich keinen Begriff, wie das passen würde, es ist vollkommen absurd, besonders bei gewissen Wetterlagen, wenn es nass und kalt ist und die Menschen eng an den Wänden stehen und etwas Schutz suchen.

In der Weihnachtsgeschichte vom alten Geizhals Scrooge, Sie werden es vermutlich kennen, kommt auch Tiny Tim vor, der kranke Junge mit der viel kurzen Lebenserwartung. Es geht da um die unvorstellbare Härte, mit der ihm gesellschaftlich begegnet wird, und später dann, eh klar, geht es um die rettende Liebe und Wohltätigkeit, wie oft bei Dickens. Auf Twitter sah ich gestern (und es ist kein Gestern, dass ich hier aus dekorativen Gründen einfüge, es war tatsächlich gestern) wie jemand unter eines dieser öfter zu sehenden Hilfsgesuche für kranke Kinder schrieb, es war zufällig ein kleiner Junge, um den es da ging, dass es doch gut sei, wenn die Natur das Schwache aussortieren würde, da müsse man dann nichts mehr machen. Das war eine bemerkenswert exakte Spiegelung eines Absatzes von Dickens, das kommt im Buch so vor, fast textgleich sogar. Ich höre und lese diese Bücher aus dem Neunzehnten Jahrhundert eigentlich, um dem Jetzt gelegentlich zu entkommen. Es ist eine Übung, die nicht einfacher geworden ist in den letzten Jahren.

Ich habe also die Booster-Impfung, von der jetzt alle reden. Ich bin etwas angeschlagen, aber auf diese angenehme Art, als sei ich leicht krank und könne ruhig mal einen Tag entspannt im Bett bleiben und das vielleicht sogar genießen. So mittelgrippig, aber schon auf dem Weg der Besserung.

Die Söhne gehen noch einmal zur Schule, es ist endlich der letzte Tag vor den Ferien. Es wurde auch Zeit, niemand kann hier noch. In einer Schulmail wurde gestern gebeten, dass sie alle Sachen mit nach Hause nehmen, die Bücher, die Hefte, die Ordner. Nur zur Vorsicht, versteht sich, denn man wisse ja nicht, wie der Januar … Well. Here we go again.

Aber erst einmal Weihnachten. Bloß nicht zu weit nach vorne denken, es könnte uns verunsichern.

***

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5 Kommentare

  1. Würden Ihre Texte von einer Kanzel herab vorgetragen werden, könnte ich mich in eine eifrige Kirchenbesucherin verwandeln.

    Ich hatte vor vielen Jahren beschlossen, nie an einem bettelnden Menschen vorbeizugehen, ohne etwas zu geben. Mich macht es nicht arm und der Person hilft es vielleicht ein wenig.Heutzutage sehe ich mich wegen der vielen Bedürftigen fast außerstande, meinem Vorsatz treu zu bleiben.

  2. ich bin noch nicht soweit. ich bin noch nicht im hier und jetzt dieses blogs angekommen, ich bin im Dezember 2018 lesend unterwegs.
    und da fand ich gerade eben diesen satz:

    “ . . . was natürlich nur daran liegt, dass ich da altmodisch bin, schon klar. Aber hey, ich bin aus dem letzten Jahrhundert, ich darf das.“

    ja, das dürfen Sie, das dürfen alle die aus dem vorigen Jahrhundert sind. wir kommen nämlich, so ganz nebenbei, auch noch aus dem vorigen JAHRTAUSEND .
    und genau dieser umstand macht unsere wahrnehmungen der heutigen zeit aus.

    zurück ins jetzt, Dickens ist immer lesenswert. ich habe in meiner jugend alles was ich in der Stadtbücherei, in deutsch übersetzt finden konnte, gelesen. wirklich alles. und die stadtbücherei in Charlottenburg war damals eine der größten des alten West-Berlins. die vielen Dickens waren teilweise schwere lektüre, viel zum nachdenken, viel zum schlucken auch.
    mich hat meine jugendliche fanbereitschaft zu den Beatles, insbesondere John Lennons, an Dickens gebracht. der hat nämlich in einem Interview, zu seiner schulzeit befragt, erklärt, er hasse Dickens. Uih. ich kannte bis dahin ja nur die weihnachtsgeschichte. und die war klasse. das wollte ich genauer wissen was Lennon an Dickens so hasste.
    sie lesen es, herr Buddenbohm, auch ich schweife ab.
    btw: es schneit gerade sehr schön an der Schlei – das ist doch wirklich zu und zu schön (ja, den Kempowski, also richtiger wäre es ja Frau Kempowski zu sagen, zitiere ich häufiger. wie isses nur möglich . . .)

    mögen Sie, die Herzensdame und die Söhne schöne Weihnachten 2021 haben.
    (ich werde sie mit Buddenbohm&Söhne weiterlesend verbringen)

  3. Habe nach Ihrem Post ebenfalls die Weihnachtsgeschichte gehört und bin, weil es so gut gefiel, jetzt bei Oliver Twist gelandet.
    Was für eine herrliche Sprache! Der beschriebene Londoner Nebel kam so lebensecht rüber, dass er heute Morgen sogar durch meinen Wald waberte.
    Danke für den Tip.

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