„Man kommt ja nicht auf Null.“ Eine Schlussfolgerung, bei der man in pandemischen Zeiten oft landet, man kommt ja nicht auf die Null, man kommt nicht auf ein komplett risikofreies Verhalten. Man kann dies und das und vielleicht auch fast alles reduzieren, einen Faktor nach dem anderen, aber irgendetwas bleibt doch. Man geht täglich zum Einkaufen, die Kinder gehen sowieso dauernd zur Schule und treffen da tausend andere Kinder, man bringt Retouren weg und macht zuhause dem Paketboten die Tür auf, man macht überhaupt dauernd dies und das und trifft Nachbarn im Treppenhaus oder geht zu einer Ärztin oder zum Friseur, man sieht dann doch mal die zwei, vier, sechs Freunde und Familienmitglieder, die sich mittlerweile eindeutig als der engste Kreis erwiesen haben. Man kommt nicht auf die Null, nein. Meine Mutter hat sich in der Warteschlange beim Impfen angesteckt, auch das geht. Aber dieses Käsescheibenmodell mit den Löchern, das mittlerweile jede und jeder kennt, doch, doch, man ist so weit bemüht. Die einen mehr, die anderen weniger.
Zu Weihnachten haben wir dann doch die rote Warnung in der Corona-App, weihnachtlich glänzet sie rot sozusagen, es fehlt nur die grüne Girlande drumherum und ein güldenes Glöckchen für das festliche Design. Das Datum prüfen, das da angezeigt wird. Ach guck, dieser Tag war das, ja, so kann das also passieren, so erwischt es einen. Warum wird da eigentlich keine Uhrzeit in der App angezeigt, das müsste doch gehen? Wir fragen Freunde, die dabei waren, ja, die auch. Das war dann also zu dieser Uhrzeit, das war also da, dann müssen wir den auch mal fragen, der war doch ganz in der Nähe, wenn schon nicht direkt dabei? Den haben wir da doch gesehen? Ach guck, der auch.
Ich sehe auf Twitter, dass es anderen auch so geht, die Abläufe ähneln sich, mehrere Meldungen in dieser Art. Ist das beruhigend? Ja, irgendwie schon.
Wir fahren durchs menschenleere Nordostwestfalen, wir suchen Tests. Alles haben wir dabei, lange haben wir diesmal über das Packen nachgedacht, aber Schnelltests haben wir nicht im Gepäck. In all den Monaten der Pandemie haben wir immer noch nicht genug gelernt. Vor der Abfahrt haben wir noch welche gemacht, das kam uns richtig und wichtig vor. Es war aber nicht richtig genug. Eine Apotheke soll heute bereit sein, so lesen wir im Internet, sie sieht aber geschlossen aus. Wir parken, wir gehen um das Gebäude herum, wir sehen nach, da ist nichts, alles ist dunkel. Wir steigen wieder ins Auto, während ein anderes Auto hält. Ein Paar steigt aus, geht um das Gebäude herum, sieht nach. Steigt wieder ein, als gerade noch ein Auto hält, aus dem ein Paar steigt … Immer überall Muster erkennen.
Wir finden doch noch eine Apotheke mit Notdienst, die verkauft Schnelltests, nach denen nicht nur wir heute fragen. Was wir nicht finden, das sind Testcenter, die auch offen und nicht voll ausgebucht sind. Die Schnelltests sind teuer, dazu kommt noch der Sonderöffnungszuschlag der Apotheke, was machen eigentlich die, die sich das nicht leisten können? Die vielleicht auch nicht erst lange recherchieren können, was wo geht oder vielleicht noch gehen könnte, Plan B und C? Die Kundin vor uns ist verzweifelt, weil sie jemanden im Krankenhaus besuchen muss, sofort, heute noch, es geht da um Leben und Tod, sagt sie, da braucht sie doch einen Test mit Zertifikat, jetzt, also jetzt! Die Apothekerin versucht sie zu beruhigen und telefoniert.
Ich finde das alles nach wie vor bemerkenswert schlecht organisiert. Nein, es ist eigentlich unfassbar schlecht organisiert.
Wir stehen auf einem leeren Parkplatz irgendwo im Nirgendwo und machen Schnelltests, wir balancieren wie irre Hobbychemiker Plastikreagenzgläschen auf den Knien und träufeln tropfenweise seltsame Flüssigkeiten auf Teststreifen. Auf einem großen Plakat in der Nähe wird für fröhlichen After-Work-Glühwein geworben, im Autoradio läuft Weihnachtsmusik der eher schlagerhaften Art. Der bestens gelaunte Moderator rät, das Haus heute lieber nicht zu verlassen. Es ist kalt, wie es lange nicht war, der Himmel ist strahlend blau und an den wenigen Passanten sieht man, dass da draußen ein scharfer Wind weht, eisig fasst er die Leute an und brennt in ihren Augen, rötet ihre Wangen und Finger.
Wir warten die obligatorischen 15 Minuten, wir durchdenken Szenarien, wir beobachten rote Striche. Wir lesen Symptome nach. Wer hat im Winter nicht dauernd irgendwelche Symptome, hast du nicht gestern mal gehustet? Geniest? Wie oft niest du eigentlich in letzter Zeit, ist das denn normal? Müdigkeit, Müdigkeit, Leitsymptom Müdigkeit, ich habe alles, wenn es danach geht. Erschöpfung, ja, aber hallo, und das hier ist übrigens schon wieder anstrengend, was wir jetzt gerade machen. Wie soll man denn nicht erschöpft sein, bitte, wir sind alle erschöpft. Habe ich vielleicht seit Tagen ein Kratzen im Hals, und was für ein abstoßendes Wort ist eigentlich Nachtschweiß, wer hat denn so etwas. Ach, Du? Okay. Kopfschmerzen, okay, wenn ich noch länger über Symptome nachdenke, dann habe ich auch die, aber das kann ich bei vielen Symptomen leisten. Tinnitus. Nein, das steht da gar nicht, das ist nur ein Link irgendwohin, wieder Werbung. Als wenn etwas gegen Tinnitus helfen würde, das wüsste ich doch.
Die Tests sind schließlich negativ. Wir telefonieren, wir melden, wir warten auf weitere Meldungen aus Hamburg. Alle Tests sind negativ. Wir kaufen weitere Tests auf Vorrat, wir fahren wieder durch Nordostwestfalen. Am Armaturenbrett leuchtet fröhlich der orangefarbene „Fehler Motosteuerung“, an den wir uns mittlerweile gewöhnt haben. Er kommt immer, wenn wir gerade denken, dass wir jetzt wirklich nichts Weiteres gebrauchen können. Solange der Motor aber nicht automatisch runtergeregelt wird, fahren wir noch weiter. Hier gibt es jetzt eh keine geöffnete Werkstatt, und als wir beim letzten Besuch in dieser Gegend in einer Werkstatt waren, wurden wir dort mit Querdenkerquatsch zugetextet, das war nicht schön.
Vielleicht kommen wir trotz dieser Meldung noch zurück nach Hamburg. Vielleicht bleiben wir irgendwo liegen, dann ist das eben so. Weder die Herzdame noch ich haben Lust oder Kraft, uns überhaupt noch aufzuregen, worüber auch immer. Fehler Motorsteuerung, meine Güte. So auch ich, denke ich, so auch ich, wenn nicht sogar wir alle.
Bei den Eltern der Herzdame ist der Kamin an. Ich neige nicht zum Neid, aber dieser Kamin … Und die schnurrende Katze natürlich. Die Söhne fragen eher desinteressiert, wie die Tests waren. Sie werden in der Schule so oft getestet, das Thema kann einfach nicht mehr interessant sein. Negativ, ja, natürlich sind die negativ, man testet doch immer so lange, bis alle negativ sind. Okay. Sie kennen sich aus.
Ich lege mich auf das Sofa, ich lese auf dem Handy die Nachrichten nach. Ich lese das Wort „Distanzunterricht“, ich lese „Rekordzahlen“, ich denke, man muss auch nicht dauernd Nachrichten lesen.
Es gab keinen Streit, es gab sehr guten Kuchen und sehr gutes Essen von Schwiegermutter. Ich habe es dermaßen genossen, einmal bekocht zu werden. Die Söhne fanden ihre Geschenke gut, niemand ist irgendwie eskaliert. Es gab die Katze, es gab den Kamin und einmal sogar einen gemeinsamen Mittagsschlaf mit der Herzdame, dazu kommen wir sonst nie. Es war alles gut. Es war nicht bei null Anspannung, aber auf Null kommt man eh nicht.
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Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!
Danke für diesen wunderbaren Text. Hier war es Magen Darm. Am heiligen Abend. Das war dann irgendwie eine andere Null.
„We have nothing to fear, but the fear itself“.
Franklin Delano Roosevelt, 4. März 1933 während seiner Rede zur Amtseinführung als 32. Präsident der USA. DAS (erst die Weltwirtschaftskrise, dann Faschismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, 2. Weltkrieg) war eine Krise, die Mr. Roosevelt 12 Jahre zu meistern hatte.
Im Vergleich dazu erleben wir keine Krise.
Lasst Euch keine Angst machen.