Tulpen, Erdbeeren, Italopop

Der Montag ist ein Dienstag, deswegen ist morgen schon übermorgen. Ich bin terminlich leicht verwirrt, zerlege mir gekonnt den Kalender und mache morgen daher mehrere nicht zusammenpassende Dinge gleichzeitig. Egal, irgendwann ist Freitag, dann renkt sich das wieder ein.

Ich arbeite im Home-Office. Ich mache das mit offenem Fenster, das ist auch eine Saisoneröffnung. Anfenstern, siehe Anspargeln, Angrillen etc. Zwischendurch gehe ich raus, es ist weiterhin frühlingshaft und verlockend. Der Bettler vor dem Drogeriemarkt hört lauten Italopop aus den Achtzigern, und ich erkenne im Vorbeigehen sogar, was da läuft. Ricchi e Poveri hört er, während Passanten ihm Geld zuwerfen, wie passend ist das denn. Mamma Maria hieß der Song, 1982 war das. Der hing als Ohrwurm damals etwa ein Jahrzehnt fest. Grauenvoll.

Schrift an einer Laterne: Wer hat, der gibt

Vor dem Drogeriemarkt steht jetzt der saisonale Aufsteller mit Straßenkreide und Strandspielzeug, die Kinder müssen wieder gelüftet werden.

An einer Ecke das erste Erdbeerbüdchen, es ist noch geschlossen. Ein Zettel verweist auf den Mai. Die große Magnolie verliert ihre Blütenblätter, die bei Bodenkontakt sofort furchtbar hässlich werden, ein abstoßender Brei auf dem Weg, Unfarben, brauner Schmodder. Und wie schön war das da oben.

Vor einem Restaurant sitzt eine Frau in der Sonne und sagt: „Das ist dann Visual Merchandising.“ Der Mann ihr gegenüber sieht sie an und sagt: „Ja.“

Am Weg liegen die Pappmöbel. Ich habe schon mehrfach erwähnt, dass im Laufe der letzten zwei Jahre deutlich mehr Obdachlose im Stadtteil aufgetaucht sind, viel mehr als je zuvor. Sie schlafen unter, auf, in und zwischen Kartons und schützen sich mit kaputten Regenschirmen und zerschlissenen Schlafsäcken vor dem Wind, sie liegen in Hauseingängen, in Durchgängen, vor dem Kirchenportal, wir haben hier teils auch möblierte Straßenränder. Jemand hat heute Tulpen auf die Kartons gelegt, überall. Je zwei, drei welke Tulpen pro Karton, es sieht sehr traurig aus und war vielleicht doch gut gemeint. Was weiß man schon.

Vor einigen Restaurants stehen Schottertöpfe. Die sind das urbane Pendant zu Schottergärten, die es hier in der Stadtmitte natürlich nicht gibt. Aber die nett bepflanzten Blumentöpfe, die hier früher die Außenflächen der Cafés etc. begrenzt haben, die hat man nach zu viel Vandalismus gegen Schottertöpfe getauscht. Weiße Kiesel in Blumentöpfen, manchmal steckt auch noch eine blassgrüne Plastikpflanze drin, und der routinierte Großstadtmensch ist so symbolkundig, dass er da vorbeigeht und gleich denkt: „Ach guck, Gartenambiente.“ Und dann setzt er sich dahin, neben so einen mit Steinchen gefüllten Blumentopf, und entspannt sofort und tief. Terrassenfeeling, summer in the city

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Ich lese Die Zimtläden von Bruno Schulz. Er kam aus einer Stadt, die heute in der Ukraine liegt, wirkte aber im polnischen Kulturraum. Gucken Sie mal, wie das Buch anfängt: „Im Juli fuhr mein Vater alljährlich ins Bad und gab mich samt der Mutter und den älteren Brüdern den weißglühenden und betäubenden Sommertagen preis. Wir blätterten, verrückt vom Licht, in dem großen Ferienbuch, dessen Blätter sämtlich vor Hitze brannten und auf ihrem Grund den bis zur Ohnmacht süßen Matsch goldener Birnen hatten.“ Ist das schön? Ich denke doch. Die deutsche Übersetzung ist von Josef Hahn.

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Ich höre ein Buch von Thomas Hüetlin: Berlin, 24. Juni 1922 – Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland. Das ist ein definitiv in unheimlichster Weise aktuell wirkendes Buch. Hier eine Rezension zum Buch. Ich zitiere daraus: „ … und wenn man einmal mit diesem blendend erzählten Buch angefangen hat, liest man es in einem durch. Es erzählt von Menschen, die nicht mehr leben und nur noch wenigen bekannt sind, aber es betrifft das Publikum des Jahres 2022 unmittelbar. Da ist die Koalition der Feinde der parlamentarischen Demokratie mit ihrem offenen Hass gegen Vertreter der Politik, des Staates und des öffentlichen Lebens. Da ist das schon in Weimar aktive Querdenker-Milieu, auch diese irrsinnige Trägheit bei der strafrechtlichen Verfolgung von rechter Gewalt, die Neigung, das Thema kleinzureden: Einzelfälle, Alkohol, verwirrte junge Leute. Da ist der fatale Mechanismus, die Schuld für rassistische und antisemitische Anfeindungen bei den Opfern zu suchen: Hätten sie sich mal besser integriert! Wären sie mal nicht so frech!

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Constantin Seibt über Putin, den Krieg und die Lage.

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Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!

4 Kommentare

  1. Es gibt eine Neuübersetzung von den Zimtläden, die von Doreen Daume erstellt wurde und in unterschiedlichen Medien sehr positiv besprochen wurde.

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