Figuren in Fenstern

Ein Terminhinweis, Tanja Maljartschuk liest am 19.10. in der Hamburger Zentralbibliothek aus „Blauwal der Erinnerung“. Ich habe das Buch gerne gelesen und werde nach Möglichkeit hingehen.

Apropos Lesen, ich lese abends Drei Geschichten von Flaubert, in der Übersetzung von Elisabeth Edl. Irgendwann vor Jahren habe ich das schon einmal angefangen, vermutlich in älterer Übersetzung, dann weggelegt, jahrelang vergessen, jetzt aber doch wieder vorgenommen. Und wie gut das ist. Flaubert hat Ewigkeiten daran gearbeitet, an diesen drei eher kurzen Geschichten, es war sein letztes Buch und wenn ich den Briefwechsel richtig erinnere, hat er erheblich darunter gelitten, dass er nicht fertig wurde – aber man merkt des den Texten auch an, das Schleifen, das schier endlose Feilen, das Polieren, es sind Sätze und Konstrukte in Perfektion. Das Ende der Geschichte vom Heiligen Julian ist fürchterlich gut, beeindruckend, nachhallend, es ist vielleicht eines der besten Enden, die ich jemals bei Geschichten gelesen habe. Nicht schön, das gar nicht, aber gut.

Ich höre auf den Wegen durch den Alltag und zum Discounter und ins Büro Effie Briest vom ollen Fontane und finde es immer noch gut. Ich habe es damals in der Schule schon gemocht und war damit verhaltensauffällig und ich weiß gut, dass es der Schrecken vieler Schülerinnen war. Gerade neulich wurde das wieder ausführlich auf Twitter diskutiert, das Buch sei so unfassbar langweilig, eine elende Schwarte. Keine Ahnung, warum ich da so anders ticke, aber es gab da neulich einen Dialog mit einem Sohn, der es vielleicht ausreichend erklärt:

Ich: „Was war bei dir jetzt mit Friseur?“

Sohn: „Papa. Du lebst geistig im neunzehnten Jahrhundert. Ich möchte mit dir nicht über Frisuren sprechen.“

Okay.

Es ist ansonsten, Sie haben es vielleicht bemerkt, Oktober geworden. Ich finde das erstaunlich, es kam plötzlich und unerwartet. Das Wetter passt, das sehe ich ein, das Zeitgefühl passt gar nicht und ich denke mittlerweile, es wurde im März 2020 dermaßen gründlich beschädigt, es wird vielleicht nie wieder etwas passen. Das gehört wohl zur Geschichte der Pandemie dazu, dass wir uns seelisch ein für alle Mal vom Kalender getrennt haben und für den Rest unseres Lebens entfremdet auf Monatsnamen und Jahreszahlen sehen. Diese Zeit ist nicht mehr unsere, diese Zeit ist nicht von hier. Morgen ist Mittwoch. Auch komisch.

Das Wetter war heute gut, was ich leider nur daran gemerkt habe, dass ich beim Herumrennen zwischen zwei Verpflichtungen ganz fürchterlich ins Schwitzen geriet. Es war also warm. Auf dem Boden, ich sah es, als ich an einer Ecke kurz etwas auf dem Smartphone checkte, zertretene Haselnüsse, Eicheln und Kastanien, was hier so als urbaner Herbstschmuck durchgeht.

Als ich mir endlich erschlossen hatte, dass heute vermutlich einer dieser goldenen Oktobertage war, sah ich aus dem Fenster, schließlich doch noch gewillt, die Pracht der Natur wenigstens kurz zur Kenntnis zu nehmen. Da war es allerdings schon dunkel geworden. Im Nachbarhaus, das immerhin, übte ein Elternpaar mit den Töchtern, beide etwa im Alter der Söhne, gerade das Tanzen, Figuren in Fenstern. Paartanz, good old Discofox, es wurde viel gedreht, nach jeweils einem Satz Grundschritt, und es sah gut aus, so ohne Musik, nur die Silhouetten am Fenster, das Wiegen, das Drehen, das Hin und Her. Die wehenden Haare, ich glaube, sie hatten Spaß da.

Weil du dem Leben trotzt, tanzt du den Discofox.“ Olli Schulz hat das einmal gesungen (Dann schlägt Dein Herz). Ich kann den Lindy-Hop-Grundschritt noch, ich habe es dann in der Küche probiert, während die Nudeln kochten. Immerhin, dachte ich, immerhin.

***

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4 Kommentare

  1. Effi Briest hat mich letztes oder vorletztes Jahr beim Hören tief erschüttert, wie kann man das bloß langweilig finden?? Zeitgefühl hier auch völlig abhanden gekommen, ertappe mich immer wieder, wie ich die letzten Jahre innerlich versuche, auf die Reihe zu bringen… immer wieder schön, bei Ihnen zu lesen, danke dafür!
    Herzliche Grüße
    Madame Bix

  2. Der Sohn hat einen wunderbaren Humor. Wie soll’s auch anders sein? Mit diesem Geburtstagstag hat man die beste Sternenkonstellation für guten Humor. Ich spreche da aus Erfahrung, wie Sie wissen.??

    Dabei bin ich so bei Ihnen: Irgendwo im Vielfrüher fühle ich mich wohl, ganz ohne Effie, aber mit Faust und Konsorten.?
    „Und dann noch diese [deine] Haare! Da fehlen mir die Worte.“
    ?Vielleicht überraschen Sie demnächst den Sohn und untermauern die geistige Haltung mit dem Frisurentrend des 19. Jahrhunderts: dem Backenbart. ??

    Olli Schulz rausgeholt.
    ?(Prophylaxe gegen den zu erwartenden Ohrwurm)
    ?In der U-Bahn. Feierabend. Nach-Hause-Weg.?Neben mir ein junger Mann mit einer Form von Tourette. ?Nach den U-Bahn-Gesprächen über den nächsten Urlaub (2 Wochen Australien) und wie nice und Insta und Likes und Stories vom Mega-DJ eine angenehm ehrliche, weil sehr unvermittelte Mitteilungsform. Die Türen piepen beim Schließen – flatternde Handbewegung dazu und ein entzücktes Lachen. Die Bahn fährt an – die Finger beider Hände stark durchgebogen, erst parallel zum Boden, dann sich langsam Richtung Decke bewegend. Sie schieben den Zug an. Die Anspannung des Körpers wird deutlich und lässt nach, sobald die Wunsch-Geschwindigkeit erreicht ist und der Körper sich nicht mehr der Beschleunigung entgegen bewegen muss. ??

    Dankbarkeit für dieses kleine, höchstkomprimierte Stück zu Hause.:

    Der Film beginnt.
    ?Beeindruckend, wie sehr ich mich in jedem seiner Songs wiederfinde. ?

    Sehnsucht. Schmerz. Müßiggang. Misanthropie. Melancholie, Philosophieren und Quatschkopfisieren in einem Atemzug. Und ein wenig Aufbauendes.?Perfekt für diesen Liebeskummer. Perfekt zum Zerfallen und wieder Zusammensetzen. ?So klug, so fein, so müde.?
    Schon lange was defekt.

    PS.: Lindy Hop geht immer.

  3. Ich mochte Effi Briest damals auch sehr und war in meinem Oberstufen-Deutschkurs damit recht allein.

  4. Mit dem Zeitmatsch seit März 2020 kann ich nur zustimmen. Es ist schwer zu sagen wann was passiert ist. Ich musste lange nachdenken wann ich z. B. meine erste Impfung bekommen habe.

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