5 Grad am Morgen

5 Grad am Morgen, um 5 Uhr, es ist alles passend eingerichtet. An dem Sofa, auf dem ich tippend sitze, geht ein hundsgemeiner Zugwind vorbei und vereist meinen Nacken. Von wo nach wo geht der, wie bewegt sich hier die Luft durch die Wohnung und warum. Darum müsste man sich mal kümmern, aber andererseits – worum soll man sich noch alles kümmern. Man kann auch einen Rollkragenpullover über den Schlafanzug anziehen, dann bleibt der Nacken warm. Pragmatisch bleiben! Lösungen finden, Abkürzungen auch.

1987, pardon, ich springe kurz etwas zurück, habe ich morgens auf dem Weg zur Arbeit belegte Brötchen, die damals noch spottbillig waren und ohne Alibi-Salatblatt und Remoulade auskamen, bei einem Schlachter gekauft, es gab damals also auch noch Schlachter, die bei Ihnen vielleicht Metzger hießen, Opa erzählt wieder vom Krieg. Heute gibt es hier weit und breit keinen Schlachter mehr, aber egal. In dieser Schlachterei hing jedenfalls ein Werbeplakat, ich sah es jeden Morgen, während ich darauf wartete, dass die greise Mutter des Schlachters meine Brötchen mit zitternder Hand beschmierte und belegte, und auf diesem Plakat stand: „Schweinefleisch weckt Herbstkraft“, darunter war natürlich ein entsprechendes Nutzvieh in freier Natur abgebildet, glücklich herumtollend. Das war noch lange vor dem Erstarken der vegetarischen Bewegung, und das Wort vegan war, wenn ich es recht erinnere, bzw. eben nicht erinnere, noch nicht einmal bekannt. So lange ist das her, die Welt war eine andere.

„Schweinefleisch weckt Herbstkraft.“ Das fällt mir nur ein, weil wir diese Herbstkraft gerade alle nicht zu haben scheinen, womit ich jetzt nicht den Konsum von Schweinefleisch propagieren möchte, keine Sorge, mir geht es um etwas anderes. Denn wann immer ich schriftlich oder mündlich erwähne, dass ich müde bin, erschöpft, durch, kaputt und gestresst, bestätigen das umgehend nahezu alle um mich herum, oft sogar mit Verweis auf die besondere und überwältigende Intensität dieses Gefühls in diesem Jahr und fast wettbewerbsorientiert, ich bin noch viel müder als du. Wir sind also vermutlich gesamtgesellschaftlich durch, Eltern und ein paar andere Spezialgruppen womöglich noch mehr als andere, aus sattsam bekannten Gründen. Wir sind dermaßen durch, müde, urlaubsreif, sabbaticalreif, rentenreif, fix und fertig, unerholt und jederzeit unausgeschlafen, aber im Dauerzustand und ganz egal, wie lange wir nachts in den Betten liegen.

Früher, also noch vor dem März 2020, ganz damals also, da haben wir nach dem Sommerurlaub noch einmal reingehauen, hingelangt, sind wir durchgestartet, sind wir den Endspurt gelaufen, haben einen heißen Herbst gehabt und dies lediglich beruflich und leistungsorientiert gemeint, in aller Unschuld und Tatkraft noch. Früher war diese Jahreszeit einmal richtig gut, um etwas zu machen, um sogar besonders viel von allem zu machen. Man hat Anlauf genommen und ist dann hineingesprungen, in den Herbst, in die Hochleistungsphase des Jahres, um dann erst gegen Weihnachten kurz umzufallen, nach all der sportlichen Mühe.

Und nun dieses verzagte (ich meine das vollkommen vorwurfsfrei) Abwarten. Wir lassen es alles langsam angehen, wir lassen alles erst einmal auf uns zukommen. Wir ziehen den Kopf ein, wir gehen in Deckung, wir warten ab, wir gucken vorsichtig. Man weiß es ja nicht, wir wissen es ja nicht. Ich, du, er, sie, es weiß es ja nicht. Kopfschütteln, Wellenerwartungen, Krisenbefürchtungen. Beinharter Realismus, gesunde Skepsis, wegduckender Pessimismus, zögerlicher Fatalismus, was auch immer. Wir sind keine Gesellschaft mehr, die mit Schwung etwas regelt, zu keiner Jahreszeit, aber zu dieser schon gar nicht.

Es ist natürlich nur ein Verdacht, weil es enorm schwer ist, das vorhersehen zu wollen, aber für den Moment lege ich mich doch fest, dass die Plan-, Mut- und Entschlusslosigkeit unserer Gesellschaft später einmal als epochebestimmend angesehen werden wird. Ein kleiner Kasten im Geschichtsbuch mit pappeinfachen Ableitungen und vier, fünf leicht zu merkenden Stichwörtern dazu, die werden dann für die Klausuren wichtig sein. Corona, Krieg, Energie, Inflation, Lieferketten und so weiter, das wird gerade festgelegt und wir sind live dabei.

Der Anfang der Zwanziger dieses Jahrhunderts, das wird dann die Phase gewesen sein, in der wir einfach überhaupt nicht mehr weiterwussten. Nicht als Staat, nicht als Mensch. Vielleicht begann es auch schon etwas früher, vielleicht fällt Ihnen der Zeitpunkt ein. 2015 oder was weiß ich, mir geht es gar nicht um Politik.

In seinem immer gerne gelesenen sonntäglichen Newsletter schreibt Nils Minkmar heute über Berlin: „Wenn ich in Berlin bin, kurz mal lachen möchte, fahre ich am Humboldtforum oder „Stadtschloss“ vorbei. Dort ist es immer schön leer und man kann gut nachdenken. Viele gute Absichten, viele gute Leute waren an der Errichtung des riesigen Gebäudes beteiligt, aber am Ende steht ein unbefriedigendes Ergebnis, denn niemand weiß, wozu das Forum eigentlich da ist.“

Wenn man nicht mehr weiterweiß, macht man irgendwas, baut etwa ein Stadtschloss wieder auf.

Ja, Bezüge zum Römischen Reich und so. Und warum auch nicht. Noch einmal den Romulus nachlesen, vom ollen Dürrenmatt. Fliegt hier irgendwo herum, noch in der Reclam-Ausgabe aus der Schule. Vier, fünf Stichwörter dazu, Krieg ist auch wieder dabei, war immer und überall dabei.

Egal. Jetzt ein belegtes Brötchen. Mit ohne Fleisch.

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Ein Kommentar

  1. An der Wand einer Bäckerei in Bielefeld-Stieghorst hing in den Siebzigern ein Spruchschild, soweit ich es erinnere, aus Teig gebacken. Die Inschrift lautete: „Altes Brot ist nicht hart. Kein Brot, das ist hart.“

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