Ein Augenzeuge

Eine Kleinigkeit aus den letzten Tagen nur, kurz gesehen, schnell erzählt, alltäglich und nebenbei. Ich gehe durch die Wandelhalle des Hauptbahnhofs. Falls Sie die nicht kennen, stellen Sie sich die in etwa wie die Hauptpasssage eines Einkaufszentrums vor, mit Gleisanschluss, das trifft die Ausstrahlung in etwa. Es ist voll, natürlich ist es voll, es ist kurz vor Weihnachten. Die Menschen brauchen noch Geschenke, die Menschen bringen sich Geschenke, kaufen Geschenke. Sie haben Verwandte im Schlepptau, sie stehen herum und warten auf weitere Verwandte, sie fahren selbst zu Verwandten, schwer bepackt, sie starren auf digitale Tafeln mit Abfahrtzeiten. Sie haben es natürlich eiliger als in normalen Einkaufszentren, sie müssen ja alle irgendwohin, einige rennen auch, immer rennen hier einige durchs Bild. Sie machen Fotos von der prächtigen Weihnachtsdeko, sie essen Franzbrötchen und Donuts und belegte Brötchen und Frikadellen und Sushi und Hamburger, sie stehen sich essend im Weg. Sie trinken Latte Macchiato und Bier und Sekt und Glühwein und guck mal, da gibt es Waffeln, wer will eine Waffel. Sie stehen vor Blumen und Parfüm und Notizbüchern, vor Schuhen und vor Hamburg-Souvenirs mit Stadtwappen, sie gehen herum und im Kreis und von rechts nach links und umgekehrt, es ist hier Betrieb, und wie hier Betrieb ist, es brummt nur so und über allem liegt das unaufhörliche Grollen der Rollkoffer.

Security mit und ohne Schäferhund. Bahnpolizei, Bundespolizei, Wachdienste, alle möglichen Leute in Uniform, man streift aufpassend durch die Menge, die Hände am Funkgerät oder am Gürtel, in dem sehr viel Zubehör steckt, Handschellen, Taschenlampen etc., ich denke immer an Playmobil, wenn ich das sehe, so viele kleine Dinge, die mitgeliefert werden.

Drei junge Männer in angeheitertem Zustand und in Weihnachtsmannkostümen schieben sich durch die Menge, leere Säcke tragen sie über den Schultern. Einer von den Männern hat etwas Überlänge, so ein Zweimetermann ist das, vielleicht ist er auch noch größer, ein Riese im roten Mantel. Sie halten sich an den Schultern und stören dadurch die Passanten, sie sind in der Gruppe zu breit. Sie wühlen sich dennoch durch, vermutlich glühweinselig und auf dem Weg zu mehr Alkohol. Drei aus dem Umland sind es vielleicht, die einen spaßorientierten Hamburg-Tag machen, so etwas in der Art, oder gibt es auch zu dieser Zeit noch Junggesellenabschiede, es würde passen. Jetzt singen sie auch noch, passend zu ihren Kostümen, Jingle Bells singen sie, arrangiert für trunkene Fußballfans. Einige Menschen gucken prüfend hin, einige gucken schnell weg. Sie sind ein Ärgernis, werden manche denken, die hier versehentlich angerempelt werden, aber ein eher gewöhnliches Ärgernis, denn sie ziehen ja weiter, sie machen nichts, sie wollen nicht einmal spielen. Schon sind sie weit hinten in der Halle, man sieht nur noch den Kopf des einen, von dem mit der Überlänge, der ragt deutlich über die anderen hinaus, auch über die wabernde Menge, eine rote Mütze mit wippendem Weihnachtsbommel. Sie gehen sicher zum nächsten Weihnachtsmarkt.

Neben mir ein Kind an der Hand seiner Eltern, ein Vierjähriger, so ungefähr jedenfalls, und der guckt kurz hoch und sieht, da ganz hinten, kurz vorm Verschwinden schon, unerreichbar auf jeden Fall und auch nur einen Blick lang, den Kopf des übergroßen Mannes, diese Weihnachtsmannmütze von hinten, und er macht sich los, er zeigt dorthin, man hört ein triumphierendes: „Da!“ Und er sieht sehr, sehr zufrieden aus. Die Eltern wiegen die Köpfe und lächeln, ja, nein, man weiß es nicht, könnte sein, meinst du?

Der Junge grinst. Er weiß ja, was er gesehen hat.

***

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Ein Kommentar

  1. Danke für diese schöne Skizze- und auch für alle Texte in diesem Jahr. Es ist schön, auf diese Weise ein bisschen etwas aus Hamburg zu lesen- und natürlich über Bücher und Hörbücher.
    Frohe Weihnachten für Sie und die ganze Familie ?

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