No other love

Es ist Donnerstag, die Woche zieht sich etwas, und das ist betont zurückhaltend ausgedrückt. Zur seelischen Stabilisierung und wider die geistige Zerfransung gebe ich mich völlig meinem aktuellen Ohrwurm hin, „No other love“, gesungen von Jo Stafford. Es ist ein hinreißend schönes Stück, man kann es unsinnig oft hintereinander auf repeat laufen lassen und es wird einfach nicht schlechter, ich habe das für Sie getestet. Nein, für mich.

Es beruhigt etwas. Und es macht, wenn man es als Soundtrack hört, seltsame Dinge etwa mit all den Menschen, die morgens um halb acht im Hauptbahnhof auf eine S-Bahn Richtung Südelbien warten. Es macht nur in meinem Kopf etwas mit denen, versteht sich, sie hören es ja nicht. Aber es verändert ihre Gesichter, in meiner Wahrnehmung.

Ich sehe lauter Menschen, die irgendeinen Gesichtsausdruck haben, darunter nur wenige mit einer Andeutung von guter Laune neben viel zu vielen, die traurig aussehen, mutlos oder bestenfalls sacht betrübt bis grummelig. Es gibt auch einige mit etwas im Gesicht, das wohl Wut ist, es wird bei manchen auch Verzweiflung dabei sein, dann Durchhaltewillen, eine allgemeine Dennoch-Haltung und sicher auch Verbitterung, seelische Verelendung, fortschreitende Verzagtheit und selbstverständlich gucken einige auch vollkommen ausdruckslos, wie abgeschaltet oder, tageszeitbedingt, eher wie noch nicht angeschaltet. Die ganze Bandbreite der Mimik eben, wie es bei einer Stichprobe von vielleicht fünfzig bis hundert Menschen, die in einer unspektakulären Situation ins Leere sehen, nun einmal zu erwarten ist.

Wenn man aus Noise-cancelling-Kopfhörern etwas übertrieben laut „No other love“ hört, während man an denen langsam vorbeigeht und sozusagen die Parade abnimmt, dann sieht jedes dieser Gesichter für einen Moment und zumindest mit etwas Fantasie so aus, als sei der Gesichtsausdruck gerade jetzt passend nach einer besonderen Nacht, nach einer schweren Entscheidung am Morgen oder einer folgenreichen Erkenntnis vielleicht, nach einer kitschig schicksalhaften Weichenstellung, nach einem Kapitelende, was auch immer, das geht auf diversen Niveau-Ebenen. Ich gehe das Gleis zweimal auf und ab, ich spiele im Geiste mit den Darstellerinnen herum und stelle fest, dass viele Gesichter einwandfrei filmtauglich aussehen, wenn man sie so betrachtet. In Schwarzweiß wäre es womöglich noch wesentlich besser, aber meine Brille filtert so nicht, irgendwas ist immer.

„No other lips could want you moreFor I was born to glory in your kiss.”

In Wahrheit, ich weiß, memorieren die Leute im Geiste nur Einkaufszettel, schreiben hohle To-Dos für Bullshit-Jobs oder planen bestenfalls die Streaming-Slots am Wochenende. Aber wer weiß.

Die Melodie ist von Chopin, hier das Original:

Ich höre wieder zuhause noch einmal Text, etwas vom Schnitzler, „Das neue Lied“, eine ziemlich gemeine Geschichte. Dabei fällt mir ein, dass ich auf Youtube einmal eine Filmaufnahme von ihm gesehen habe, die kennen Sie vielleicht nicht, es soll die einzige von ihm sein, so heißt es da:

Wissen wir das also auch jetzt, so sah er in Bewegung aus, der Herr Schnitzler.

***

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3 Kommentare

  1. Eine sehr schöne Musiktherapie legen Sie den geneigten Leser:innen hier buchstäblich ans Herz. Und das Musik hilft, kann wohl fast jede und jeder bestätigen. Noch viele schöne literarische und musikalische Entdeckungen in diesem Jahr wünsche ich Ihnen.

  2. Ein großes Dankeschön für den Ohrwurm! Einmal mit geschlossenen Augen dazu im Sessel sitzen macht sehr friedlich.

  3. Oh, eine schöne Version von Lang Lang – und dass die Melodie für Lieder benutzt wurde, wusste ich gar nicht. Vielen Dank! (und einen Kaffee)

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