Aufbruch

Wir reisen Samstagmittag ab, was ein ungünstiger Zeitpunkt ist, jedenfalls wenn es vorher noch zwei, drei Stunden gibt, die nicht mit Terminen und To-Dos gefüllt sind. Denn dann fällt, wir haben das das getestet, den Mitreisenden quasi im Minutentakt etwas ein, was besser auch noch mitgenommen werden soll. Habe ich eigentlich? Brauche ich nicht vielleicht? Würde man das hochrechnen, es ergäbe einen Umzug des Hausstandes. Man verlagert sich im Laufe der Stunden gedanklich allmählich komplett und braucht schließlich im Zweifelsfalle alles, auch für ein paar Tage.

Dann noch einmal und noch einmal überlegen, ob man dies oder jenes wirklich eingepackt hat, in was auch immer. Besser erneut nachsehen, aber worin war es denn bloß? Es ist eine Art Slapstick-Inszenierung mit Koffern und Rucksäcken.

Ich ziehe mich auf rationale Verteidigungspositionen zurück und mache einfach nicht mit. Wir fahren nach NRW, da kann man, glaube ich, zur Not alles kaufen, Zahnbürsten, Unterhosen, Ladekabel, Medikamente, beerdigungstaugliche Oberbekleidung, Tischtennisschläger, das ist dort immerhin ein zivilisiertes Bundesland. Also in weiten Teilen.

Im Hamburger Hauptbahnhof laufen beeindruckend viele Betrunkene in fröhlichen Grüppchen herum, das überaus innige Verhältnis dieser Gesellschaft zum Alkohol ist gut zu erkennen. Es ist zwar kurz vor Muttertag, sieht aber sehr nach Vatertag aus, es ist etwas verwirrend. Lauter kostümierte und unterschiedlich stark angeschickerte Wanderparty-Inszenierungen, die nach Junggesellenabschied, rundem Geburtstag, Firmenausflugs-Event und was auch immer aussehen, Menschen mit Plastikkrönchen, Party-Accessoires und Sekt- oder Bierflaschen in den Händen. Dazwischen enorm viele Reisende in teils großen Familiengruppen, die zielstrebig durch die Wandelhalle hasten und Koffer und Kinder hinter sich herzerren, es ist hier gerade der vermutlich unentspannteste Ort der Stadt. Eine Frau hält ein Pappschild hoch, auf dem „4-Tage-Woche“ steht. Ich kann um sie herum keinen Demo-Kontext erkennen, aber gut, hat sie das Thema eben geschickt platziert, wie wir sehen. Auch eine Strategie.

Ein Mann diskutiert laut mit der Frau, die ihn an der Hand hinter sich herzieht, er sagt, als er an mir vorbeigeht, laut zu ihr: „Ich mag einfach keine Menschen!“ und weist mit der Hand auf die etwas irre wirkende Menge um ihn herum. Ich hebe den Daumen, um meine spontane Zustimmung zu signalisieren, er sieht mich an und sagt: „Nur Sie! Sie mag ich!“ Wir highfiven uns gestisch, wir finden uns sympathisch.

Die Söhne holen sich noch eben Essen bei einem Imbiss, weil sie schon seit zehn Minuten aus dem Haus sind und seitdem auf den ganzen 500 Metern zum Bahnhof nichts konsumiert haben. Weil das vermutlich alle Teenager im Bahnhof denken und empfinden, ist der Imbiss etwas voll und es dauert und dauert. Wir erreichen unser Gleis erst drei Minuten vor der Abfahrt des Zuges. Eine Minute vor der Abfahrt des Zuges wird das Gleis noch einmal spontan geändert und es folgt meine sportliche Höchstleistung des Jahres bisher, treppauf, treppab, die ich immerhin souverän absolviere. Nur Sekunden später sind wir alle im richtigen Zug, der sensationell pünktlich abfährt, und kurz vor Hannover habe ich auch schon wieder halbwegs normalen Puls.

Geht doch.

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