Gleichförmiges fliegt vorbei

Gleich hinter dem Hamburger Hauptbahnhof steht „HIPPIE“ auf einem Zaun am Gleis, ansonsten sieht man abgestellte, aufgestapelte Container mit Reederei-Logos und dahinter aufragende Kräne. Flüssiggaswaggons, wartende Lastwagen, Baustellen, Baumaschinen aller Art und Lagerhallen, es sieht dauernd nach Arbeit und Bruttosozialprodukt und Industrieland aus vor dem Zugfenster. Bis Hannover immer wieder die Container auf Nebengleisen und neben den Gleisen, immer wieder Hamburg-Süd und Maersk und andere. All die Waren und das Zeug, das von Süden auf Hamburg zustrebt und dann in die Welt geht oder umgekehrt, was weiß ich, es ist ein unübersichtliches Hin und Her im globalen Handel. Ein Güterzug mit Hunderten von Neuwagen in den Trendfarben der Zeit darauf, dunkelgrau und anthrazit.

Um mich herum reden im Waggon alle Englisch, vor, hinter und neben mir, es geht international zu im Metronom von Hamburg nach Hannover, das passt zu den Waren, die im Güterverkehr an uns vorbeitransportiert werden. Die Welt und die Waren reisen durch Niedersachsen, das darauf stoisch mit immer mehr Raps reagiert. Es tut eben, was es kann, wie wir alle.

Ab und zu ragen alte Backsteineinfamilienhausgiebel in Vorortsiedlungen über die bunt besprühten Lärmschutzwände an den Schienen. Aus den Kinder- oder Schlafzimmern in diesen Häusern kann man auf fahrende Züge blicken, man kann tagsüber reisenden Menschen winken und nachts auf vorbeirasende Lichter sehen, so entstehen hier vermutlich die Träume.

Ein Sohn kündigt an, uns künftig kategorisch nicht mehr im Auto begleiten zu wollen, er findet jetzt Züge cooler. Besser als überhaupt kein Erfolg in der Erziehung, denke ich mir.

Auf einem Zaun am Gleis steht „LOVE“ in sehr großen Buchstaben, sogar mehrfach steht es da. It must be love, love, love. Ich sitze etwas ungünstig, ich kann nicht durchgehend hinaussehen und habe kein vollständiges Bild, aber ab und zu sehe ich doch den Landschaftspostkartenhimmel über Norddeutschland im Mai.

Kaufland, Takko, McDonald’s, Kreissparkassen, Tankstellen. Gleichförmiges fliegt vorbei, alle Ortschaften ähnlich zusammengebastelt. Der Zug hält, ein ICE muss vorgelassen werden, darin sitzen die mit den anderen Fahrkarten, die haben es eiliger als wir, die haben mehr Geld oder die sind nur auf Dienstreise.

Vor dem Bahnhof in Lüneburg hält ein Bus, der fährt zu einem Fähranleger, so steht es dran. Da würde ich jetzt auch gerne hin, zu irgendeiner Fähre. Am Anleger mit baumelnden Beinen sitzen und gucken, wie Menschen aussteigen und einsteigen, mehr nicht. Und dann vielleicht noch ein, zwei Stunden lang nur zusehen, wie der Fluss so vorüberzieht. Egal, unser Zug fährt schon weiter. Aber in der Theorie, so denke ich mir, würde das jetzt tatsächlich gehen. Ich könnte aus dem Zug springen und dann rein in den Bus dort drüben, ich könnte zu diesem Fähranleger fahren und mir das da ansehen, es wäre alles im Ticket mit drin und ich finde es nach wie vor großartig. Wenn die Söhne ab jetzt dieses Gefühl haben werden, jederzeit fast überall einsteigen zu können, werden sie die Welt in Bezug auf die Mobilität grundsätzlich anders wahrnehmen als meine Generation. Und das ist doch was.

Dann üppiger Flieder, der über die Gleise ragt, wippende Dolden vor alten Dienstgebäuden der Bahn. Darüber und dahinter sich drehende Windradflügel, die rotweißen Spitzen kreisen durch blauen Himmel.

In Keyserlings „Abendliche Häuser“, ich lese es während der Fahrt, ein passender Satz dazu: „Die Glastüren zur Veranda standen offen und der Duft des Flieders drang herein, der wie eine Mauer aus weißem und hellblauem Gewölk den Garten einhegte.“

In Eschede ein blauer Wegweiser zur Gedenkstätte, den habe ich auf der letzten Fahrt nicht gesehen.

Auf einem Sicherungskasten neben der Strecke steht „ARMUT“, lilafarbene Schrift auf dunklem Grund. Fast sieht es schön aus.

In Hannover steigen wir um in die S-Bahn nach Minden. Die ist brechend voll, es gibt nur noch Stehplätze. Menschen mit Rädern benutzen diese rabiat als Rammbock, um doch noch hineinzukommen, es ist immer wieder verblüffend, wie allgemein und selbstverständlich Rücksichtslosigkeit geworden ist. Ich stehe anderthalb Stunden zwischen jungen Männern, die irgendwohin fahren, um sich dort planmäßig zu betrinken, es ist wirklich ein Trend an diesem Wochenende. Sie lachen jetzt schon bei dem Gedanken, dass es heute vielleicht nicht alle wieder nach Hause schaffen werden, höhö. Diese Phase ist bei mir schon entschieden zu lange her, ich bin nicht mehr der Richtige, um dafür noch Verständnis zu zeigen, bekenne aber immerhin, sie irgendwann damals gehabt zu haben. Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche, man kennt das dank Herrn Bernstein.

Wie auch immer, ich stehe anderthalb Stunden in dieser Bahn und hasse alles, dann erreichen wir endlich Minden. Da steht die Herzdame am Gleis, und wie toll ist das denn.

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3 Kommentare

  1. Und kurz vor dem Mindener Bahnhof sind Sie auch an dem Hausgiebel vorbeigefahren, von dem auch ich zwischen 1993 und 1998 auf fahrende Züge geschaut habe (oft mit Rangierverkehr als Geräuschkulisse, auch nachts. Meistens habe ich trotzdem gut geschlafen).

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