Mitten rein ins Idyll

24.5., immer noch der Mittwoch der letzten Woche. Hier geht alles nach, auch der Autor, wie seine Söhne längst festgestellt haben. Ich fahre nach der Arbeit mit einem bemerkenswert pünktlichen und sauberen Zug nach Lübeck, sehr komfortabel ist das. Tolles Ticket auch, dieses Deutschlandding, ich erwähnte es bereits hier und da. Mittlerweile hat es sich in aller Deutlichkeit für mich gelohnt, finanziell und auch sonst. Während ich von Hamburg wegfahre, fährt die Herzdame gerade in einem anderen Zug von Süden auf Hamburg zu. So ist das in dynamischen Beziehungen, alles ist in Bewegung.

Die Zufallsstichprobe der Mitreisenden im Blickbereich umfasst heute einen Mann, der reglos aus dem Fenster sieht und einen Pullover trägt, auf dem mehrere lustige Faultiere im Cartoon-Style herumhängen, Motive wie auf einem Kinderpyjama sind das. Ferner ein anderer Mann, der in einer slawischen Sprache leise telefoniert, es klingt ernst und dringend. Eine Frau, die ein Fachbuch durchblättert, in dem es wohl um Knochenbrüche geht, lauter große Röntgenaufnahmen mit viel Erklärtext in winziger Schriftgröße daneben. Ein Mann mit einem langen, grauen Bart, den er mit mehreren Zopfgummis etagenweise abgebunden hat. Es sieht aus, als würden unter seinem Kinn drei unterschiedlich große Meisenbälle hängen. Es sieht merkwürdig aus und ich glaube, es würde mich wahnsinnig machen, so etwas da hängen, baumeln zu haben. Kinnklöten.

Aber doch immer wieder großartig, nicht wahr, wie anders andere Menschen sind. Schon dafür braucht man doch den ÖPNV, jedenfalls wenn man im Beruf keinen Kundenverkehr hat. Wie die alle aussehen! Und was die alle so machen! Und was die so tragen! Und lesen! Wie interessant das immer alles ist. Da hinten eine Frau mit einem enorm dicken Fantasy-Schmöker, schillernde Drachen auf dem Titelbild, die sich auf Gold räkeln, sie guckt während der ganzen Fahrt nicht einmal hoch, es muss spannend sein. Und da vorne noch der Mann, der zwar einen bürotauglichen Anzug trägt, dazu aber selbstgestrickt aussehende Wollringelsocken in verschiedenen Erdfarbtönen. Er ist hervorragend gelaunt, er grinst, er freut sich über etwas, er ist dem Aussehen nach der glücklichste Mensch im Waggon. Vielleicht wegen der Socken, man weiß es nicht.

Vor den Zugfenstern zieht Schleswig-Holstein in der entschiedenen Hübschigkeit der Maienblüte und des frischen Grüns vorbei. Wenn man das so sieht, man möchte sofort da irgendwo hinziehen, mitten rein ins Idyll, wie viel besser als die Mitte der Großstadt ist diese Gegend hier. Aber es wird ja wieder November. Und dann sieht es da anders aus, ich kenne das. Ich war da schon tief drin, in dem Idyll. Jahrelang.

Das Smartphone shuffelt mir währenddessen The Tennors in die Kopfhörer, und ich höre schon wieder: „I can gather all the news I need from the weather report”, das Lied ist eben gerade dran.

Ich treffe meinen Bruder in Lübeck, wir haben einen gemeinsamen Termin. Vorher gehen wir noch eine Weile und ein Stück durch die Innenstadt, in der ich wieder lange nicht war. Mir fällt etwas auf, was vermutlich speziell für reisende Hamburger ist: Hier liegen deutlich weniger Menschen als bei uns auf den Fußwegen und in den Hauseingängen herum. Wie sichtbar Armut, Alkohol, Drogen und Elend aller Art bei uns sind.

Ich sehe ansonsten auf diesem Spaziergang nebenbei vier von den sieben Türmen der Altstadt, die aus welchen unbegreiflichen Gründen auch immer nach wie vor nicht autofrei ist, das finde ich seit langer Zeit seltsam. Immerhin vier Türme also. Vier Siebtel, das kann man nicht weiter kürzen, sagt mein innerer Home-School-Lehrer. Den werde ich wohl nie mehr los, das ist auch so ein Spätschaden.

Im Zug und in Lübeck kein einziges Bild gemacht. Schlimm.

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6 Kommentare

  1. dieser text macht mich froh, die meisenbälle und kinnklöten begeistern mich. Danke dafür, ist ein toller einstieg in meinen tag auf dem land, gruß roswitha

  2. Ich bin ja auch eigentlich Lübecker und habe noch familiäre Verbindungen in die Königin der Hanse. Auch aus anderen Gründen lese ich online hl-live.de. Da wird viel über den Autoverkehr in Lübeck berichtet. Die Brücken sind marode und werden zwecks Eurneuerung gesperrt und es gibt Verkehrsversuche. Aber die Autofahrer meckern immer und über alles. Die Kommentare darf man aus gesundheitlichen Gründen lieber nicht lesen: Ich sage nur Blutdruck.

  3. Ein schönes Plädoyer für das Reisen mit dem ÖPNV!
    „Wie die alle aussehen! Und was die alle so machen! Und was die so tragen! Und lesen! Wie interessant das immer alles ist. “
    Ja! Das zu bemerken setzt allerdings voraus, dass man nicht selbst nur aufs Smartphone schaut, sondern den Blick hebt und schweifen lässt. Das machen heute nicht mehr viele = mein Eindruck.

  4. Liebe Grüße aus dem innerstädtischen ÖPNV.
    Gerade in der Bahn sitzend bei offener Tür am Bahnsteig einem Jungen begegnet, der originalgetreu ein Warnsignal immitieren konnte, das defininitiv nicht dem der schließenden Türen glich. Also woher sollte es kommen? Interaktives Rätselraten am Votmittag. Irritierend amüsierend.

  5. Den Kommentar zu früh versandt:
    Highlight des Tages schon jetzt: zwei
    unauffällig, gesittet wirkende Senior:innen inkl. Fahrradhelm auf E-Bikes mit lautstarker Boombox.

  6. Selbst in unterschiedlichen Bezirken der gleichen Großstadt – egal ob Hamburg oder Berlin – ist es sehr unterschiedlich, in welchem Ausmaß Armut sichtbar ist.

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