Süße Bretterbuden

Sonntag, der 2. Juli. Gartengeburtstag, so steht es heute im Familienkalender. Wir sind, ich muss es erst nachrechnen, jetzt im siebten Gartenjahr. Ohne Gewähr, es ist mir gerade zu kompliziert. Gestern waren wir kurz dort, es gab die Hundertjahr-Feier des Gartenvereins bei strömendem Regen, ein Wettergeschenk für die verdorrenden Parzellen zum Jubiläum. In der Laube war es erstaunlich kühl, eine feuchtklamme Oktobertemperatur war es, aber wir hatten keine Zeit, das ausgiebig zu genießen. Wir haben nur eben einen Großeinkauf in die Schränke verräumt und mussten dann schnell weiter.

Nebenbei habe ich auf dem Fest mit einem geschätzten Gartenfreund kurz besprochen – auch dieser Verein hat also einen Bezug zum Jahr 1923, über das ich gerade so viel lese. Auch der Verein hat selbstverständlich mit deutscher Geschichte zu tun, und das nicht zu knapp. Man könnte die letzten hundert Jahre dementsprechend auch am Beispiel dieser Kolonie abbilden, die immerhin schon aufgrund ihrer Insellage im Fluss ein bemerkenswertes Phänomen ist, auch in der deutschen Schrebergartenwelt. Man könnte hundert Jahre hinter Hecken ergründen und abbilden, die letzten Zeitzeugen über vergangene Jahrzehnte befragen – aber wer sollte für so ein Projekt Zeit haben.

Es gibt eine Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert, Sie kennen sie vielleicht, „Billbrook“. Darin geht es um einen kanadischen Feldwebel, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg stationiert ist, er heißt Bill Brook. Er bemerkt, dass es in Hamburg einen Stadtteil Billbrook gibt, der also so heißt, wie er heißt, es irritiert ihn sehr, eine verwirrende Erfahrung, er liest das Schild mit dem Hinweis immer wieder. Und er beschließt, dorthin zu gehen, vom Alsterufer in der Innenstadt aus, an dem sein Hotel steht. Es ist ein weiter Weg nach Billbrook von der Alster aus, er geht zu Fuß und er geht lange, stundenlang. Zuerst geht er noch durch halbwegs normal anmutende Straßen, nur hier und da eine Ruine, dann immer mehr durch eine unwirkliche Geröllwüste, denn das östliche Hamburg liegt direkt nach dem Krieg komplett zerstört und größtenteils menschenleer. Es geht in der Geschichte darum, was dieser Gang durch die Wüste im Kanadier auslöst, wie es ihn mitnimmt. Er steht irgendwann auf einer Brücke mitten im Nichts, auf einer Brücke, die zerbombte Geröllfelder verbindet. Es könnte die Brücke sein, die bis heute zur Billerhuder Insel führt, auf der unser Garten liegt, sie liegt am Weg. Ich zitiere nach Projekt Gutenberg:

„Er fühlte sich unbehaglich, Bill Brook, und er war froh, als er plötzlich auf einer leicht geknickten geländerlosen Brücke vor einem kleinen hellen grünsilbernem schlickschwarzen Kanal stand. Er vergaß froh die Wüste, die im kilometerweiten Kreis ihn umkreiste. Er war ganz glücklich auf einmal und er hätte beinahe in die Hände geklatscht wie vor einem Geburtstagstisch, der sechsundzwanzigjährige Mann, als er am Kanalufer ein paar bunte lebendige Gärten, Wäscheleinen und Rauchfähnchen sah. Junge auch! knirschte er zwischen seinen breiten weißen Zähnen. Denn da schrien Kinder, eine Frau sang, einige Männer schimpften auf die Spielkarten, eine Gießkanne zischte, ein Dackel hustet. Junge auch, und die Unterhosen, die Strümpfe, die hellblauen, blaßroten Büstenhalter auf der Wäscheleine wedelten und ruderten und winkten aufgeregt: He, Herr Feldwebel, kommen Sie getrost näher. Sie können ruhig mal rüberkommen, Herr Feldwebel, wirklich, genieren Sie sich nicht!

Und Bill Brook, der Mann aus Labrador, schlug erleichtert mit beiden Fäusten auf das Stück Brückengeländer, das aus Versehen stehengeblieben war. Und er dachte glücklich: Sieh mal an! Diese kleinen süßen Bretterbuden! Wie kleine appetitliche Paläste! Und aus den Fenstern und Dächern kommen diese allerliebsten herrlichen gebogenen verdrehten Ofenrohre. Und aus diesen prächtigen pechschwarzen Rüsseln von Ofenrohren kommt so ein ganz blauer beweglicher krauser Rauch. Holzrauch, Pappenrauch, Rauch von gestohlenen Planken und Zäunen. Richtiger lebendiger lebenskräftiger unschuldig himmelblauer kräuslicher Rauch! Einen Moment, du verwegener alter Rauch, Moment, du alter hustender Dackel, Moment, ihr bildschönen Büstenhalter, einen Moment: Ich komme! Ich komme mal eben runter zu euch, wenn es recht ist.“

In den Gärten schrien die Kinder, schreibt Wolfgang Borchert, und es gibt heute noch Menschen in unserem Verein, die sind dort tatsächlich geboren worden, mitten in den Gärten, auf der Insel in der Bille, in den kleinen, süßen Bretterbuden. Aber gut, es könnte auch eine andere Stelle auf dem Stadtplan in der Kurzgeschichte gemeint sein, es gibt noch mehr Gartenvereine auf dem Weg und ich weiß bei den anderen nicht, wie alt sie sind.

Das gesprühte Wort "Brook" an der S-Bahnstation Rothenburgsort

Jedenfalls die Feier vor dem Vereinsheim im Regen. Es besteht im baulichen Kern übrigens aus den Resten einiger Baracken des Roten Kreuzes, noch von 1945 … na, das ist ein zu weites Feld.

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Der Tag war ansonsten eine ausführliche Ausarbeitung des alten und von mir als eher blöd empfundenen Spruchs „große Kinder, große Sorgen“, wie alle Eltern sicher wissen, kommt es manchmal doch hin. Ich halte den Satz dennoch für grundsätzlich falsch, aber egal. Wir haben uns also eher durch den Tag gemüht, die Herzdame und ich, es gab Ärger, Sorgen und Zumutungen verschiedener Art, variatio delectat.

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Ein Kommentar

  1. Ich warte ja schon etwas ungeduldig auf das Auftauchen mehrere Menschen mit Strabismus im Stadtteil, nur um dann endlich lesen zu können „in Brook schielts“.

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