Meterweise den Elbbrücken zu

Sonnabend, der 15. Juli. Gestern war irgendeine Triathlon-Großveranstaltung in der Stadt, ich bin da nicht interessiert und weiß also nichts Genaueres. Ich weiß nur, dass dafür wieder etliche wichtige Straßen ringsum gesperrt wurden, was dazu führte, dass die halbe Stadt umleitungshalber durch die Tempo-30-Zone vor unserer Haustür wollte und dort dann prompt im Stau stand. Und also unentwegt hupte, denn das hilft ja in solchen Situationen. Vielleicht klingt es noch lustig, nach ein paar Stunden war es das für die Anwohnerinnen allerdings definitiv nicht mehr, es ist auf Dauer doch eher nervenzersetzend.

Stundenlanges Dauergehupe, dazu aggressives Brüllen und Toben, weil bei so etwas immer irgendwer annimmt, der Fahrer vor ihm sei schuldig an allem, die männliche Form habe ich hier nicht zufällig gewählt. Außerdem etwa alle zehn Minuten Polizei, Feuerwehr oder Krankenwagen, die sich auch noch mit Tatütata durch die verknäuelten Blechmassen drängten, ferner die ganze Zeit Hubschrauber überm Haus und allgemein eine Stimmung in der Stadtmitte wie in einem Ameisenhaufen, in den man plötzlich einen Stock gerammt hat, hektisches Gewimmel – es war wieder ein Tag, um sich nach anderen Wohnlagen umzusehen. Anstrengend.

Am Abend kam einer der Hubschrauber sogar runter, immer weiter runter, wir sahen es vom Wohnzimmerfenster aus … siehe diese Meldung dazu. In einigen Medien stand abweichend „Notarzt seilte sich ab“, und es ist ein gutes Beispiel, an dem man merkt, dass man Frauen bei dieser Wortewahl tatsächlich nicht mitdenkt. Ich zumindest würde das spontane Mitdenken von Notärztinnen an dieser Stelle für reichlich unwahrscheinlich halten. Aber es war eben eine.

Wir sind immer erleichtert, vielleicht versteht man das, wenn die Kette der sommerlichen Groß- und Spaßveranstaltungen ein herbstliches Ende findet, um die nächste Jahreszeit in dieser Sommersaison erstmalig zu erwähnen.

Sonnabend, der 16. Juli, auch mal einen Tag aufholen. Wir fahren nach Nordostwestfalen, wofür wir allerdings erst einmal bis zur Autobahn kommen müssen, noch so ein größeres Problem. Die Stadt feiert schon wieder oder immer noch den Stau, was weiß ich, die Stadt steht jedenfalls komplett. Dummerweise machen wir diesmal auch noch mit, es gefällt mir ganz und gar nicht. Ich sehe in den anderen Autos wieder die tobenden Menschen, wie sie unbeherrscht auf Lenkräder schlagen und herumschreien, ich denke an meine Theorie und finden sie ringsum umfänglich bestätigt.

Wir schieben uns meterweise langsam den Elbbrücken zu, in einer gigantischen Blechinstallation voller durchknallender Menschen, s‘ist leider Krieg – und ich begehre, nicht schuld daran zu sein, wie Matthias Claudius geschrieben hat, als es im damals sicher idyllischen Wandsbek noch gar keine Hauptverkehrsstraßen gab.

Ab der Autobahn und südelbisch geht es dann besser, viel besser, wir sehen aber in der Gegenrichtung, zum Meer hin, die Mutter aller Staus, unfassbar lang ist die Schlange der Autos. Die Menschen dort werden Stunden auf der Autobahn stehen, in glühender Hitze, es ist alles falsch so.

Aber, wie gesagt, wir fahren auch. Kein Grund zur Selbstgerechtigkeit also, man ist so weit Mensch, man hängt fast unweigerlich mit drin. Ich verhalte mich selbst keineswegs vorbildlich, was solche Fragen angeht, ich kriege es in dieser Hinsicht nur hin, nicht zu fliegen. Das allerdings finde ich auch nicht schwer. Nicht einmal ansatzweise.

In Nordostwestfalen hat es geregnet, kurz bevor wir dort ankommen, aber die Temperatur steigt schon wieder, als wir aussteigen, die Wolken reißen auf, es fühlt sich an, als würde jemand gerade eine gigantische Heizung aufdrehen, es geht schnell und es ist dann heiß, schwül, drückend, tropisch.

Ich gehe kurz nach der Ankunft mit einem Sohn rüber zur Schule und an die Tischtennisplatte auf dem Hof dort, wir haben so eine Tradition. Auf der Platte liegen noch drei Sektkorken, vermutlich von der letzten Dorffeierlichkeit. Drei Sektkorken auf nasser, grauer Tischtennisplatte. In einem deutschen Kinofilm könnte es das Einstiegsbild sein, denke ich, eine Großaufnahme, wie die Plastikkorken da im Wind noch leicht ruckeln und letzte Tropfen von ihnen abperlen, dahinter das leere Schulgebäude, der verlassene Schulhof, der Basketballkorb, das Netz noch in leichter Bewegung von der letzten Gewitterbö, nur dezent. Dahinter dann gleich die Felder bis zum Horizont, Mais und Kartoffeln natürlich, abziehende Regenwolken darüber, dunkel und tief, ganz hinten noch ein Trecker, auf die Landstraße einbiegend.

Mit dem anderen Sohn gehe ich später über den Friedhof, auch bei seinem verstorbenen Opa vorbei. Wir stellen fest, dass wir die meisten Grabstätten nicht mögen. Es gibt einen unübersehbaren Trend, Gräber betont pflegeleicht zu gestalten, das entspricht dann im Ergebnis den Schottergärten vor den Häusern in den Straßen ein paar Meter weiter. Es sind Miniaturausgaben davon, seltsame Spiegelungen.

Schön finden wir dagegen einige Grabsteine, die über hundert Jahre alt sind. Sie werden gerade abgeräumt und liegen am Rande des Friedhofs durcheinander. Eine Weile stehen wir auch vor den Kreuzen, die an den Zweiten Weltkrieg erinnern. Wir staunen über die Häufigkeit der gleichen Vornamen. Wilhelm, Wilhelm, Wilhelm, Heinrich, Heinrich, Heinrich. Diese Namen gibt es auch in unserer Familie, bis heute sogar oder doch bis vor kurzer Zeit noch.

Dazu die Häufigkeit der gleichen Nachnamen, eine ganze Dorfgeneration wurde da ausgelöscht, und wenn man überlegt, wie klein das Dorf ist – man kann sich den Wiederanfang nach dem Krieg einfach nicht vorstellen.

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