Zusammenreimen und weitermachen

Freitag, der 7. Juli. Abschließend zu meiner in den letzten Tagen wiederholt geäußerten Medienkritik zitiere ich eine Meldung auf der Startseite eines großen deutschen Mediums, am Morgen habe ich sie heute gesehen: „Wembys Sicherheitsmann schlägt Britney Spears ins Gesicht – Großes Gedränge vor einem Restaurant, Fans drängen und kreischen. Britney Spears tippt einem bekannten Basketballspieler von hinten auf den Rücken. Security erkennt auf Angriff – und autsch!“

Das ist der Spiegel, der so schreibt, und mehr muss man dazu wohl auch nicht mehr sagen. Thema durch.

***

Mittlerweile bin ich mir halbwegs sicher, meine eigene kleine allgemeine Feldtheorie über die sozialen Entwicklungen und Verwerfungen der Gegenwart gefunden zu haben. Lange habe ich mich gefragt, wie sich alles zusammenreimen lässt, ich fand einiges schier unbegreiflich, so überaus sonderbare und seltsam schnelle Entwicklungen um mich herum, jetzt aber weiß ich es. Selbstverständlich bin ich allerdings nur ein Blogger von eher geringem Verstand und erhebe daher nicht den geringsten Anspruch darauf, mit meinen An—oder Einsichten richtig zu liegen. Es ist ungemein befreiend, diesen Anspruch nicht zu haben, ich empfehle das ausdrücklich zur Nachahmung.

Es ist nämlich so. Die Gegenwart, die wir alle in irgendeiner Weise empfinden, vermutlich auch immer aufdringlicher empfinden, sie drängt uns immer mahnender zu moralischen Entscheidungen und zu ethisch korrekten Handlungen. Das hat sie längere Zeit nicht oder nur kaum hörbar getan, jetzt aber tut sie es. Man kann wohl darüber streiten, wie lange schon, man kann aber kaum darüber streiten, dass sie es immer nervtötender tut, immer lauter, drängender, fordernder. Wir müssen uns gründlich anders verhalten, um die Welt zu retten, um uns zu retten und die paar noch übrigen anderen Arten auch. Wir müssen in allem nachhaltiger werden usw., wir müssen also, das heißt es unabwendbar, an vielen Stellen verzichten, vermutlich erhebliche Wohlstandsverluste hinnehmen oder unseren Wohlstand doch zumindest grundlegend anders verstehen, definieren und gestalten. Wir werden außerdem vermutlich demnächst mit wesentlich größeren Krisen zurechtkommen müssen, als es in den letzten paar Jahrzehnten, etwa in meiner Jugend, von uns erwartet wurde, das sicher auch. Wir müssen also viel vernünftiger sein, um es auf eine konzentrierte Formel zu bringen.

Das ist nun eine Eltern-Ich-Formulierung, nicht wahr, um ein altes Modell zu benutzen, es passt mir gerade hervorragend. Das Eltern-Ich mahnt also ernst zu Mäßigung und Verzicht, in vielen Zusammenhängen und in etlichen Situationen. Es ist dies aber eine schlimme Forderung, eine furchtbare Zumutung. Denn die Fähigkeit zur Mäßigung war zwar über viele Jahrhunderte eine eminent wichtige und auch als erstrebenswert geltende Tugend in nahezu allen Weltgegenden und Religionen, sie war es aber nicht bei uns in den letzten, na, sagen wir sechzig Jahren. Der Verzicht ist in dieser Zeit eher das Böse schlechthin geworden, weil er das Gute ist, wenn Sie mir noch folgen können. Das Gute nervt uns nämlich erheblich, Moral und Ethik, igitt, geh mir weg.

Oder um den Finanzminister zu zitieren: „Ich will nicht verzichten!“ Es ist ein bemerkenswert infantiler Satz, den er da vor einiger Zeit getwittert hat, aber es ist doch auch ein großes Zitat, weil es einem zur Einsicht verhelfen kann, worum es bei allem geht.

Es ist diese Angst vor dem Verzicht und der Mäßigung, welche die Menschen noch mehr in die Gier treibt, in die Torschlusspanik oder auch nach Sodom und Gomorrha und auch zum babylonischen Turmbau bis hoch zum Mars, wie man es sehen möchte. Die Angst vor dem Verzicht treibt das innere Kind in wildeste Trotzreaktionen, denn das Kind will alles haben, alles behalten, alles benutzen oder auch kaputtmachen, ganz nach Belieben, und zwar jetzt.

Das ist die eine Seite. Sie erklärt mir den weiterhin steigenden Absatz an SUV, die überhöhten Geschwindigkeiten im Straßenverkehr, die Grillorgien, die vielen Flugfernreisen, die Kreuzfahrten, Fast Fashion und alles, was in diese Richtung geht, die ganze Gier, das unbedingte Habenwollen und Behaltenwollen, das Maßlose auch, sie erklärt mir ebenfalls, wieso die Menschen so aggressiv reagieren, wenn man sie auf dies und das hinweist. Es sind stets die inneren Kinder, die da rebellieren, die jetzt in der Trotzphase sind, die sich auf den Boden schmeißen und brüllen, dass „Die Grünen“, gemeint als Wahngebilde aller, die irgendetwas mit moralischer Begründung wollen, bloß abhauen sollen. Doch, ich denke, es erklärt sich tatsächlich so, es ist dieser Mechanismus.

Und auf der anderen Seite haben wir dann aber die, welche sich im strebenden Eifer auf die Elternseite begeben, die Überkompensierenden. Das erklärt mir die seltsamen Ausgeburten an brennendem Belehrungseifer, an Puritanismus, Prüderie und an Hochleistungen im Moralkeulenschwingen, die man gleichfalls kaum übersehen kann. Pietcong in etlichen Ausprägungen, Rechthaberei in merkwürdig entgrenzter Raserei, verbrennt sie, verbrennt sie, sie ist eine Hexe, und wo steht der Pranger, wir brauchen ihn jetzt wieder.

Tobendes Kinder-Ich hier, schimpfendes Eltern-Ich da. Vermutlich kommt beides in verschiedenen Anteilen ins uns allen vor, je nach Themengebiet. Was macht man aber nun, wenn man mit der Mehrheit dessen, was man bewusst steuern zu können meint, dazwischensteht und sich nicht dauerhaft auf eine Seite schlagen möchte, weil einem beide Clubs nicht recht sympathisch vorkommen?

Man macht, und jetzt schlägt argumentativ meine große Stunde, einfach weiter. Sie können das kurz googeln, was man denn bloß machen soll, wenn das Kind in die Trotzphase kommt, wie hilft man da, wie erzieht man da, was macht man denn bloß, soll man strafen, soll man loben, herumtricksen, ablenken, was ist richtig, wie geht das? Man verhält sich einfach weiter und richtig, das ist die Antwort. Oder es ist zumindest eine der möglichen Antworten, und vermutlich die beste. Vorbild sein, so nennt man es auch. Aber das klingt mir schon wieder viel zu schlimm und vor allem zu mahnend, und ich würde da auch meinen eigenen Ansprüchen kaum je gerecht werden können. Ich sage daher nur: Weitermachen, auch wenn keiner guckt. Und dann erst recht.

Nicht als hysterisch tobendes Kind ohne jede Affektkontrolle, nicht als belehrender Vater mit rigoroser Moral und erhobenem Zeigefinger, sondern als stets bemühter, möglichst erwachsener Mensch.

Und dann einfach dieses Mittelmaß und die damit verbundene Mäßigung in aller gebotenen Dezenz unaufgeregt ausstrahlen.

Das ist alles. Mit dieser Theorie kann ich so gut wie alles verknubbeln. Glaube ich. Aber bitte, glauben Sie ruhig etwas anderes, das ist in Ordnung und am Ende haben Sie sogar Recht.

Ich für meinen Teil, ich finde das alles sehr zufriedenstellend so.

Egal. Weitermachen.

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel

14 Kommentare

  1. Guten Morgen und herzlichen Dank für diese Treffende Analyse und den Tipp: „Weitermachen!“

  2. Ich glaube, Sie haben mit Ihren Gedanken zum Tobenden Kind-Ich den Nagel auf den Kopf getroffen. Es war mir auch immer ein riesiges Rätsel, wieso trotz Klimawandels immer größere und schwerere Autos gekauft werden, selbst auf die Gefahr hin, dass diese nicht mehr ins Parkhaus passen.

  3. Als früheren Spiegel-Abonnenten autscht mich das Zitat echt krass, Diggah!
    Aber vielleicht sollte ich doch einmal wieder einen Blick hinein werfen, als Lehrwerk leichter Sprache.

    Der Theorie übrigens kann ich gut folgen, sogar ausreichende Evidenz scheint mir gegeben, trägt man alle Berichte und Gespräche der letzten Zeit zusammen.
    Es bleibt aber noch eines offen: Warum treten Kind- und Elter-Ich gerade so extrem zutage?

  4. Das kann ich beantworten, denke ich – durch Stress. Durch Stress tritt alles deutlicher zutage, wie jede Familie bestätigen kann, im Guten wie im Schlechten. Und ich denke schon, dass die aktuelle Weltlage massiv Stress auslöst. Überhaupt nicht vergleichbar etwa mit der Zeit, in der ich Berufsanfänger war, um nur ein Beispiel zu nennen. Es gab diesen Stress damals so nicht. Nicht in dieser Form, nicht mit dieser Annahme der Unlösbarkeit, das schon gar nicht.

  5. Danke für diese so treffende Darstellung und die gute Schlußfolgerung daraus. Ja, so ist es, und auch mir bleibt einfach, nach meinem Denken zu handeln, mich selbst (heimlich) manchmal auf die Schulter zu klopfen und hoffen. Als Oma hoffe ich auch auf die Enkel, sie wachsen anders auf, mit mehr ökologischem Wissen und Gewissen, es wird sich zeigen, wie das nutzt.

  6. Ja, dem kann ich auch nur zustimmen.
    Und die Frage stellen: wer aller fühlt sich denn so, als würde er eh dieses unaufgeregte Mittelmaß ausstrahlen?
    Da kommt das Ding von Eigen- und Fremdsicht ins Spiel ;-), denn schließlich sind es immer die anderen. Ich hab ja einen verdammt guten Grund dafür, einen SUV zu fahren, auf Kreuzfahrt zu gehen, etc bla bla.

  7. Danke.
    Für die Analyse und für die Handlungsempfehlung. Ich fühle mich nicht mehr allein. Weitermachen.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert