Kleine Jahresfortschrittsmeldung

Die Republik, die schon lange im Sterben gelegen hatte, war endlich tot. Sie war daran gestorben, dass die bürgerliche Mitte sich den Gesprächsstoff vom Feinde hatte diktieren lassen und die Sozialdemokratie mit der bürgerlichen Mitte über die Argumente des Feindes debattierte.

Alfred Andersch in „Die Kirschen der Freiheit“, seinem Desertations-Buch, über die Ereignisse 1933. Heute ist sein Geburtstag, sehe ich gerade, beim WDR gibt es ein Zeitzeichen über ihn, 15 Minuten.

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Ein Nachtrag zum letzten Text: Giardino wies auf Mastodon darauf hin, dass es eine Untersuchung über das Artensterben in der Literatur gibt, siehe hier, dort wird ein Rückgang der spezifischen Bezeichnungen für Arten sogar schon ab 1835 feststellbar.

Der erste bekannte deutsche Roman mit einem Umweltthema ist übrigens meines Wissens „Pfisters Mühle“ von Wilhelm Raabe, aus den Achtzigern des vorletzten Jahrhunderts. Das ist allerdings nur dekoratives Quizwissen, ich habe das Buch nicht gelesen, nur vorgemerkt.

Freundliche zehn Grad am Morgen, sanfter Nieselregen auf den Dachfenstern. Es singen um fünf Uhr Kohlmeise, Rotkehlchen und Zaunkönig unten auf dem Spielplatz, eine Rabenkrähe krächzt äußerst unfreundlich dazwischen, als würde sie dringend noch etwas schlafen wollen. Nicht nur über den Benennungszauber schreiben, ihn auch vornehmen. Vor dem Fenster sehe ich später in der Dämmerung kahle Linden, eine grünbemooste Eiche, eine Platane, eine Mirabelle, einen Holunder, einen verirrten Bambus, Blauregen, Efeu, Zierkirsche, Weißdorn und Flieder. Viel Natur für die Mitte der Millionenstadt. Wir könnten auch steiniger wohnen, mit Blick auf Beton und Mauern. Die meisten hier in der Nähe wohnen sogar so, und vielleicht stört es sie nicht einmal.

Um den Kirchturm kreisen immer wieder zwei Möwen, die sich entweder spielerisch jagen oder ernsthaft verprügeln wollen, das kann ich nicht erkennen. Wie ich auch die Art der beiden Vögel nicht bestimmen kann, obwohl ich die Merkmale schon mehrmals nachgeschlagen habe. Ich habe bei Möwen eine seltsame und leider dauerhafte Lernsperre. Es sind jedenfalls keine Lachmöwen, das Ausschlussverfahren geht.

Eine Jahresfortschrittsmeldung am Rande: Im Drogeriemarkt stehen nun wieder die beiden Drehständer mit den Saatguttütchen für Radieschen, Salat, Bohnen etc. Sie sind noch dicht bepackt, übervoll, davon kauft jetzt noch niemand etwas.

Und in die Bildsprache der Onlinewerbung mischen sich zunehmend rote Herzchen und rosafarbene Hintergründe, der Valentinstag naht.

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Heute ansonsten Demokratie an der Basis gelebt, es gab die Jahreshauptversammlung im Schrebergarten. Gar nicht als Scherz gemeint, denn Demokratie fängt tatsächlich da an, wo man sie gerne belächelt, siehe auch Elternabende. Zwei Spiegelungen fallen mir auf, das Große im Kleinen: Zum einen ist die Demokratie auch hier anstrengend und erfordert Sitzfleisch, Geduld, das Aushalten anderer Meinungen, Kompromisse und die bemerkenswerten Leistungen von Menschen, die sich tief, tief ins Kleingedruckte wagen. Das zieht sich durch alle Ebenen so durch. Zum anderen zeigt sich auch in deutschen Kleingärtenvereinen die Bilanz der letzten Jahrzehnte, in denen man die Infrastruktur nicht oder doch im Rückblick zu wenig gepflegt hat. Es ist überall ähnlich: Die Substanz bröckelt, sei es nun bei Autobahnbrücken, bei Bahnhöfen, Schulgebäuden oder nur bei den mittlerweile uralten Wasserleitungen zwischen den Parzellen.

Es wurde lange gespart, und es war nicht gut so.

Im Tagesbild angeschmuddelte Lampions weit jenseits ihrer Buntheit, außerdem tropfnasse Lichterketten. Februarfröhlichkeit.

Angeschmuddelte Lampions weit jenseits ihrer Buntheit und tropfnasse Lichterketten hängen im Garten

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4 Kommentare

  1. Donnerstag bin ich an einem Valentinstagsaufsteller eines Pralinenherstellers vorbeigehechtet und musste nach dem ersten Schreck (Hä? Die sind aber früh dran! Es ist doch noch gar nicht… Ach doch! Oha.) an Sie denken, also an Ihre phänologischen Stadtbeobachtungen. Mir geht das gerade alles zu schnell. Aber gut, dass es diese Möglichkeiten zur Feststellung des fortschreitenden Jahres gibt, sonst wäre ich einfach bis Ostern hindurch weitergehechtet.

  2. Wow! Das Andersch-Zitat ist ja so was von krass. Ich sehe gerade von 1952. Ich finde es so großartig, dass Sie das hervorholen, weil mir scheint, heute muss man gar nicht so viel neu analysieren und wieder neu „entdecken“, wo es die entsprechenden Kenntnisse doch längst gibt.

    Danke dafür.

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