Spiegelungen des Verfalls

Die gefühlte Temperatur weicht am Morgen ab, der gefühlte Wochentag auch, das gefühlte Alter ebenfalls. So ein Tag.

Ich höre in irgendeiner Sendung, dass die Schulnoten oder überhaupt unsere so geliebten und mittlerweile dermaßen tief in der Gesellschaft verankerten und auch allgegenwärtigen Leistungsbewertungen auf die Meritentafeln der Jesuiten zurückzuführen sind, die also haben damit angefangen. Und ich wäre dafür, dieses wunderbare alte Wort wieder zu benutzen. Die Zeugnisvergabe in den Schulen und auch die Bonusprogramme für die Manager in Firmen, überhaupt alles in dieser Richtung „Jährliche Beschauung der Meritentafeln“ nennen, damit der Vorgang etwas würdevoller klingt.

Egal. Ich gehe zum Einkaufen raus und über die etwas würdelose Straße vor unserer Haustür, sie hat entwertende Mängel und Löcher. Man braucht eine Weile für die Wahrnehmung, es fällt mir nur langsam auf, weil es doch eine schleichende Veränderung ist, aber die Straße hat nun deutlich mehr Löcher als früher, größere auch, und es beseitigt sie niemand mehr. Dieses Thema mit dem Verfall der Infrastruktur beginnt tatsächlich zehn Meter vor unserer Haustür, wo eine Lücke in den Pflastersteinen nun so groß ist, dass sie radfahrende Menschen zum spontanen Salto über den Lenker animieren kann.

Es ist so eine Lücke, die man auch in der Lokalzeitung abbilden könnte, mit einem Menschen daneben, der klagend und ernsten Blickes in die Kamera sieht, was bekanntlich eine ganz eigene Fotokatagorie in Lokalzeitungen ist. Klagende Menschen vor schlimmen, ernsten Sachen. Gerne mit vor der Brust verschränkten Armen und vorgeschobenem Kinn, oft etwas kindlich beleidigt wirkend: Jetzt spielen wir aber nicht mehr mit.

Und auch hier scheint wieder das literarische Sammelgebiet auf, möchte ich meinen, „Spiegelungen des infrastrukturellen Verfalls in der deutschen Gegenwartsliteratur seit 2000“, und dann geht es in endloser Zitatkette aus Romanen und Geschichten um bröckelnde Brücken, kaputte Weichen, marode Turnhallen, einstürzende Altbauten etc., eine Fundstelle nach der anderen, herausgearbeitete Deutungsverschiebungen über die Jahrzehnte dann im Anhang. Ich würde das reizvoll finden. Die Bröckelbrücken als Metapher der Moderne, die über Straßen und Flüsse, auch die im Mund, selbstverständlich auch die über gesellschaftliche Differenzen hinweg.

Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret. Das allerdings war Gryphius, das war ein anderes Kapitel. Barockdichtung könnte man auch mal wieder lesen, das mal vormerken.

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Abends dann aber nicht Gryphius, sondern Joy Williams gelesen, Kurzgeschichten, Deutsch von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz. Sehr angetan gewesen, gleich die erste Geschichte hat ein so gelungenes Ende – wenn man selbst schreibt, auch wenn man gar keine Geschichten schreibt, kann man manchmal auf eine nicht unangenehme Art neidisch auf die Sätze anderer sein.

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5 Kommentare

  1. „Es ist so eine Lücke, die man auch in der Lokalzeitung abbilden könnte, mit einem Menschen daneben, der klagend und ernsten Blickes in die Kamera sieht, was bekanntlich eine ganz eigene Fotokatagorie in Lokalzeitungen ist….“
    Ja. Da ploppt doch eine Erinnerung auf. Der Spielplatz im Hinterhof des Bremer Genossenschaftsmiethauses in dem ich bis 2009 lebte wurde in den 90ern erst erneuert nachdem sich ein Nachbar mit anklagendem Blick auf das verrostete Karussel ablichten ließ und in der Bildzeitung ein Bericht erschien der den Spielplatz als den schlimmsten des Stadtstaates bezeichnete. So gesehen, dass einzig gute was dieses Drecksblatt je bewirkt hat.

  2. „…kann man manchmal auf eine nicht unangenehme Art neidisch auf die Sätze anderer sein.“
    schrieb der Mensch vor dessen Worten und Sätzen die Räuberin regelmäßig staunend stehen bleibt und sie immer wieder mal nahezu proklamierend anderen vorträgt.

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