Ich habe den ersten Band der Kafka-Biographie von Reiner Stach durchgelesen und den zweiten dann geradezu gierig begonnen, die Jahre der Entscheidungen (der Band erschien vor dem von mir zuerst gelesenen, er hat die Jugend zum Schluss beschrieben, aber egal). Nach wie vor bin ich schwer beeindruckt von der Fülle der Details und der Genauigkeit, man muss beim Lesen immer wieder „Was muss das für eine Arbeit gewesen sein!“ denken. Aber die drei Bände haben auch ein paar Jahre gebraucht. Zwanzig, wenn ich es richtig erinnere.
Sich zwanzig Jahre lang mit dem Leben eines anderen zu beschäftigen, das kann ich mir kaum vorstellen, finde es aber als Konsument des Ergebnisses gut und lobenswert, dass es jemand gemacht hat.
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Am durchsonnten Feiertagsmorgen habe ich Brötchen vom Bäcker geholt. Die Passanten liefen alle in Sommerkleidung herum, sogar mit der lässigen Barfußvariante schon und teils auch in Klamotten, die verdächtig nach Pyjama aussahen, sind wir hier in Berlin oder was. Drei bedruckte T-Shirts begegneten mir auf dem kurzen Weg nacheinander, das wirkte schon wieder alles seltsam inszeniert, diese Wirklichkeit war mir schon wieder durchgehend verdächtig.
Auf dem ersten T-Shirt stand „Moin!“, auf dem zweiten stand „Strandglück“ und auf dem dritten stand „Love autism, hate racism“. Eine norddeutsch progressive Textilparade sah ich da. Wobei ich mir bei der dritten Variante nicht hundertprozentig sicher bin, es hing immer etwas Jacke vor den Buchstaben. Dies schien mir aber die wahrscheinlichste Ausdeutung zu sein, und immerhin auch eine, mit der ich sympathisieren kann.
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Es starb Paul Auster, an dessen Büchern ich irgendwann einmal, vor etlichen Jahren, gescheitert bin, ich weiß längst nicht mehr, warum genau und an welchem Buch eigentlich. Da vielleicht noch einmal hineinsehen. Man ändert sich, die Lesephasen ändern sich und auch Todesfälle bestimmen manchmal die Leseliste. Serendipity der schattigen Art.
Serendipity. Ich lese die Wortherkunft nach, wieso habe ich das nicht längst einmal gemacht. So ein merkwürdiger Begriff, was ist das für ein Fremdwort und woher bloß. Der Wortstamm verweist auf Ceylon, guck an, und während ich das lese, ich mache leider zu oft mehrere Sachen gleichzeitig, läuft nebenbei ein Podcast über Ceylonzimt und steht in sämtlichen Nachrufen, dass es Paul Auster oft um den Zufall ging. Schön, schön. Vielleicht auch eher: „Hex, hex.“
Ich lese also die Nachrufe (hier im Guardian etwa). Es gibt welche, in denen auch Kafka genannt wird, ich bleibe also im aktuellen Bezugsrahmen. Ich lese auch die online stehenden Klappentexte seiner Werke, ich merke dies und das vor. „Baumgartner“ könnte mich gerade interessieren, nehme ich an. Beim SRF sehe ich in einem Nachruf eine eingebettete SRF-Literaturclub-Sendung mit 16 Minuten über das Buch, eher verreißend, eher abwertend und sogar mit einleuchtenden Argumenten, aber ich finde es dennoch interessant. Es wird in dem Buch zu viel über das Alter gejammert, höre ich, da kann ich also nachlesen, was ich später nicht tun soll. Okay, das ist auch recht, ich bin lernwillig.
Siri Hustvedt schreibt dagegen auf Instagram, dass der Autor in der letzten Zeit nicht gejammert habe, überhaupt nicht. Wenn ich schon dabei bei, in ihre Bücher auch noch einmal ansehen. Schon hat man wieder viel vor, was das Lesen betrifft.
Es ist vielleicht etwas unpassend, das ausgerechnet bei einem Todesfall zu notieren, aber ist es nicht überaus angenehm, dass es mit absoluter Sicherheit immer genug zu lesen geben wird? Was für ein überzeugend tröstlicher Gedanke. Man durchschwimmt diesen Ozean nicht, es geht nicht ums Anlanden. Alles wird unermesslich bleiben, was auch ein guter Titel für einen Prosatext wäre, aber das nur am Rande.
Selbst wenn man hundert Jahre und mehr erreichen sollte, kann man vermutlich immer noch neue Bücher entdecken, die begeistern oder neue Richtungen aufzeigen werden. Das ist sehr gut eingerichtet.
Bei aller Schlechtigkeit und umfassenden Trostlosigkeit der Welt, auch einmal die brauchbaren und rettenden Details loben. Das scheint mir seelisch nützlich zu sein.
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Ich zitiere : aber ist es nicht überaus angenehm, dass es mit absoluter Sicherheit immer genug zu lesen geben wird?
Ja, das ist tröstlich
Liebe Grüße Katrin
Serendipity würde ich am ehensten mit „Eine Bibliothek macht es möglich, daß einer den Marx sucht, den Schopenhauer findet und die Bibel entleiht.“ (Ernst R. Hauschka) umschreiben. Wobei das ja eher die Definition als die Wortherkunft ist.