Reeperbahn

Auf dem Weg durch Sankt Pauli, siehe gestern, gingen die Herzdame und ich auch ein Stück über die Reeperbahn, wo ich also ebenfalls lange nicht war, und wo sich an dem aufgeführten Stück nichts geändert hat. Der gleiche alkoholbetriebene Tourismusbetrieb wie immer, das gleiche zusammengebrochene Elend am Straßenrand, die Armut, das Trinken im Endstadium. Die feiernden, johlenden Fußballfans in lauten Gruppen auch, die üblichen schwankenden Touristen aus England und anderen Ländern. Ich höre Dänisch, ich höre Schweizerdeutsch, ich höre Sprachen, die ich nicht erkenne.

Die gleichen eher angespannt aussehenden Reisenden aus der Provinz, teils im eng zusammengehenden Familienverband. Auf der Suche nach dem, was es dort nun alles ausmachen soll, dieses Legendäre, das Berühmte, das eben, von dem sie alle immer reden.

Sich immer wieder umsehend, was ist es denn nun eigentlich. Sind wir zu früh und wo gehen wir rein, einen Reiseführer in der Hand. Auch heute noch sieht man sie vereinzelt in Buchform, diese Reiseführer, und ein älterer Mensch hält tatsächlich einen Stadtplan, die kreuzenden Straßen darauf mit der Beschilderung abgleichend, über die Lesebrille hinweg.

Das gleiche Gedränge wie früher auf dem Fußweg vor den Lokalen, die teils noch so heißen, wie sie immer schon hießen. Also wie sie in meiner Wahrnehmung immer schon hießen. Die gleichen Menschenmassen, die Horden, das Geschiebe. Die Torkelnden im Weg, die fetten Imbissgerüche über allem, das Erbrochene an den Ecken auch, die Glasscherben. Die aggressiven Streitgeräusche aus einer Kneipe, vielleicht ein Schlägereibeginn, die Polizeisirenen. Das schrille Lachen der jungen Freundeskreise. Zehn singende junge Männer in den gleichen, lustig sein sollenden T-Shirts.

Die kreisenden Piccolöchen und Bierflaschen in Betriebsausflugs- und Rentnergruppen. Irgendwo weiter hinten warten die Reisebusse, die Fahrer lehnen rauchend in den offenen Türen, es ist ein warmer Abend.

Wie bei uns im kleinen Bahnhofsviertel ist das alles, nur drastisch gesteigert. Der ganze Tourismus- und Szene-Viertel-Wahnsinn im Quadrat und mit deutlich mehr Promille und dazu noch mit blinkenden Neonschriftzügen an den Fassaden. Und mit den rufenden Koberern, die vermutlich eine bessere Menschenkenntnis haben als wir alle.

Es ist, ich muss erst rechnen, über zwanzig Jahre her, dass ich aus Gründen des Entertainments selbst nachts auf der Reeperbahn war. Es ist gefühlt ein Leben her. Wie Erlebnisse und Kapitel aus einem vorhergehenden Band einer mittlerweile recht umfangreichen Romanreihe, so fühlt es sich an. Damals kamen noch Figuren in den Handlungssträngen vor, die längst keine Rolle mehr in meiner Lebenserzählung spielen. Die teils schon beerdigt sind. Oder die weggezogen sind nach Berlin, Köln, aufs Land in Schleswig-Holstein, elbaufwärts und wer weiß wohin. Die womöglich schon vergessen sind oder deren Rolle ein unklar offenes Ende beim Abgang hatte. Was wurde eigentlich aus der und aus dem. Es kommen Gesichter vor, da bin ich mit den Namen nicht mehr sicher, irgendwas mit J vorne vielleicht, aber so hießen sie ja alle. Die zwanzig Julias, die man kennenlernte.

Und mit der einen wichtigen Figur, die über alle Bände in der Geschichte blieb, gehe ich heute Arm in Arm dort entlang. Und die Herzdame und ich reißen uns dabei zusammen und führen nur ein kurzes, eher betont beiläufiges Weißt-du-noch-Gespräch. Es bleibt alles im Rahmen. Wir verlieren uns nicht in Nostalgie, es trägt uns nicht fort und durch die Jahre.

Wir haben es im Griff, zumindest für einen Moment. Und so schlecht war der nicht, dieser Moment.

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