Die Hunde meines Geistes

Merkwürdigkeiten

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Gehen als Ausdruck von Zeitreichtum. Genau mein Ding.

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Ich könnte jetzt erwähnen, dass ich gerade den gewohnten jährlichen Tiefpunkt haben, Energie und Stimmung ganz weit unten, drittes UG hintendurch oder so, und ich könnte ob dieses Zustandes auch noch ein wenig herumnölen, das machen andere immerhin auch und gerne. Dann würden Sie aber kraft Ihrer umfassenden küchenpsychologischen Bildung sicher einen Zeigefinger oder gar einen Zaunpfahl erheben und besserwissend etwas murmeln oder gar kommentieren, etwas von “self-fulfilling prophecies” würden Sie nämlich murmeln oder schreiben, mit Anglizismus natürlich, und wissen Sie, was ich Ihnen dann spontan antworten würde? “Na und!” Das würde ich Ihnen antworten, wörtlich und aus tiefster Überzeugung würde ich das antworten, denn es ist ja so – irgendwo muss der Energietiefpunkt des Jahres nun einmal hin, es gibt kein gleichmäßiges Hoch, nicht beim Wetter, nicht an der Börse und schon gar nicht in mir, nicht beim Dax und nicht beim Max, haha, und wo würde dieser regelmäßig zu erwartende Tiefpunkt denn bitte besser hinpassen als in den in jeder Beziehung ohnehin grottenelenden Februar, der da schon seit Tagen vor der Tür herumlungert? Bitte sehr, haben wir das geklärt. Ich lege mich wieder hin, stöhne etwas herum und strecke mich gemächlich und energiesparend, das gehört so, es ist alles gut und eigentlich ganz in der Ordnung.

Wobei, ich erinnere noch kurz und aus Gründen an die kürzlich gelesenen und sehr empfehlenswerten Tagebücher von Sandor Márai, es gibt darin eine Stelle, da sinniert er absatzlang über die Sprache der Zulu, wie auch immer er darauf kam, das habe ich schon wieder vergessen. Depressive Stimmungen, so schreibt er dort, nennt man in dieser Sprache: “Die Hunde meines Geistes hetzen umher”, ist das nicht schön? Die Dämmerung nennt man “die Zeit, in der man die Hörner der Kühe kaum noch erkennen kann”, und wenn man das kombiniert, hier mal kurz mitdenken bitte, in dieser Zeit des allgemeinen grauen Dauerdämmerns: “In der Zeit, in der man die Hörner der Kühe kaum noch erkennen kann, hetzen die Hunde meines Geistes umher.” Wenn man das so denkt und eventuell auch mal leise mitspricht, dann ist man zwar immer noch verstimmt und seltsam todmüde, aber irgendwie doch viel schöner als vorher. Literatur hilft, ich sage es ja.

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Musik! Heute den Blues.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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The trowel

Die Feuilleton-Chronik des Monats

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“Maulbeerbaum”, sagt die Herzdame ohne jeden erkennbaren Zusammenhang. Wir sind aber schon so lange verheiratet, ich kann mir ohne jede Mühe zusammenreimen, dass sie in der sonntäglichen Besinnungszeit wieder in dem großen Stapel Gartenzeitschriften geblättert und dabei etwas gefunden hat, wobei “gefunden” bei ihr dann gleichbedeutend mit “Muss ich haben” und auch “Jetzt!” ist. Es liegt dann an mir, diesen Wunsch gegebenenfalls jahreszeitlich zu justieren, was ich aber stets erst durch geeignete Fundstellen beweisen muss, mir glaubt hier ja keiner was. Ein Maulbeerbaum also. Ich überlege, was mir zum Thema Maulbeerbaum einfällt, das ist nahe am Nichts. Ich erinnere ganz dunkel, dass es Schnaps aus den Früchten gibt, aber aus welchen Früchten gibt es keinen Schnaps, das ist kein Alleinstellungsmerkmal. Maulbeerbäume kamen in meinem Leben bisher überhaupt nicht vor, glaube ich.

“Und Blauregen”, sagt die Herzdame, darunter kann ich mir wenigstens etwas vorstellen. Blauregen blüht schön, ist giftig, wächst aus unerfindlichen Gründen bei uns in üppiger Pracht auf dem Spielplatz und rankt, wenn man ihn denn lässt, alles in Grund und Boden, er zerlegt auch Mauern und Dächer. Malerisch auf Ruinen!

“Wir wissen gar nichts über Maulbeerbäume”, sage ich.

“Egal”, sagt die Herzdame, “das ist wie bei Kindern, da weiß man vorher auch nichts drüber. Erst mal machen, alles andere findet sich dann.”

Ich hätte es wesentlich weitschweifiger ausgedrückt, aber das fasst vieles ganz gut zusammen und ersetzt womöglich auch zwei, drei Ratgeber.

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Ich lerne mit Sohn I Englischvokabeln und lese mit Staunen das Wort “trowel.” Das habe ich noch nie gehört, es wird im Lehrbuch mit “kleiner Spaten” übersetzt und ich habe kurz die Gedanken, die auch die Schüler dauernd haben, nämlich wozu man das denn nun bitte jemals … Sie kennen das. Ich verfolge den Gedanken aber nicht weiter, denn das führt ja zu nichts, der Sohn muss das eben lernen, fertig, dann weiß er künftig, was ein kleiner Spaten ist und kann mir den im Garten englisch zureichen, auch gut.“Can you hand me the trowel, please”, da staunen die Nachbarn aber, und dann pflanzen wir die Mulberry. Wobei wir gar keinen kleinen Spaten haben, was soll das überhaupt sein, meine Spaten haben alle drei ein Standardmaß, aber egal, niemals den Lehrstoff anzweifeln, das führt kategorisch zu nichts. Nicht für den Garten, für die Schule lernen wir.

Ich gehe in die Küche und höre mein Buch weiter, “Unterm Birnbaum” von Fontane, da ist quasi ein Krimi von ihm. “Er trat aus dem Haus”, sagt die Erzählstimme, “und trug einen kleinen Spaten in der Hand.”

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Hörbücher

Ich höre jetzt dauernd Bücher, ich habe mich daran gewöhnt. Sie unterstützen das Fitnessprogramm, ich gehe wegen der Bücher zu Fuß zur Arbeit, dann dauert der Weg länger und ich höre mehr Kapitel. Ich gehe öfter einkaufen, ich gehe öfter um den Block, ich komme herum, ich höre. Die Bücher unterstützen auch den Kampf um Konzentration, denn ich bemerke bei Hörbüchern viel eher, wenn ich geistig sonstwo bin. Gedruckte Bücher kann ich kapitellang lesen, ohnen auch nur einen Satz mitzubekommen, das ist geradezu eine Superkraft von mir, wenn auch eine völlig sinnfreie. Beim Hören fällt es mir viel früher auf, dass da jemand seltsamerweise zu mir spricht, warum habe ich eigentlich diese Stimme im Ohr? Ach ja, und dann geht es wieder ein paar Absätze lang.

Bei David Foster Wallace, “Die wahre Traurigkeit der Erwachsenen”, ich finde gerade keine Angabe zur Übersetzung, habe ich gemerkt, wie sehr eine beim Vorlesen in den Text gelegte Bedeutung stören kann. Das sind drei Essays, einer thematisch furchtbarer als der andere, Hummer, Depressionen, Pornos, dennoch lesenswert, versteht sich. Gelesen von Lars Eidinger, Christian Ulmen und Moritz von Uslar, der eine eher rotzig-lässig, der andere witzelnd, einer abgeklärt, was ist da die Wahrheit, was hat der Wallace gemeint, das hat mich irritiert. Jeder der drei hat den Autor durch seine Art vereinnahmt, mir ging das zu weit. Wobei ich Christian Ulmen als Leser sowieso wieder heikel finde, nicht weil er das nicht könnte, sondern weil ich den immer sofort vor mir sehe, wenn ich die Stimme höre, das hat mich schon bei Bölls Ansichten eines Clowns von Heinz Baumann erheblich gestört. Falsche Gesichter in der Geschichte sind entschieden seltsam.

Bei Huckleberry Finn von Mark Twain (Deutsch Sonja Hartl), für meine Ohren passend gelesen von Ken Duken, den ich als Schauspieler gottseidank nicht kenne, das macht es eben leichter, hat mich ein Bild irritiert, ein längst vergessenen Bild, das mich beim Lesen als Kind enorm beschäftigt hat. Als Huck nämlich seinen Tod vortäuscht, um seinem gewalttätigen Säufervater zu entkommen, reißt er sich Haare aus und klebt diese an eine Axt, die er vorher mit Schweineblut beschmiert hat, es geht um das Auslegen einer falschen Spur. Wie ich da als Kind drüber nachgedacht habe, wie mich das beschäftigt hat, diese Axt, das Blut, überhaupt das Abhauen, das Herumlaufen – alleine! – bei Nacht und Vollmond, das waren ja Effekte wie aus einem Horrorfilm. Wobei ich gar keine Horrorfilme kannte, ich war noch viel zu jung und diese Szene war daher mein Horrorfilm. Dieses Kind im Buch da, auf sich gestellt und mit der Axt und dem Blut und den büschelweise ausgerissenen Haaren, mir reichte ja schon das Ziepen beim Bürsten nach dem Haarewaschen. Ich war viel zu jung für das Buch oder zu ahnungslos oder zu unschuldig, was weiß ich. “Ein bekanntes Kinderbuch”, das werden die Erwachsenen gedacht haben, aber ich war in diesen Jahren schon mit “Mio, mein Mio” überfordert, das ich noch abgründiger und schlimmer als diese Löwenherz-Sache fand, und zwar viel schlimmer. Bei Huck Finn jedenfalls, und das war interessant, gab es eine kurze Erinnerung daran, wie bildstark ich als Kind gelesen habe, wie bewegend und nachhaltig nervenzerfetzend Bücher einmal waren.

Ich habe lange, lange “Die Leute von Seldwyla” von Keller gehört, das ist eine immerhin reichliche Menge Novellenstoff. Da hatte ich eine Bildungslücke, breit wie ein Scheunentor, und ich kann sogar genau sagen, warum ich die hatte. Weil die Geschichte “Pankraz, der Schmoller” eine ausgesprochen schwache Geschichte ist, das sehe ich heute so, das habe ich auch damals beim ersten Leseversuch gedacht, da war ich etwa zwanzig Jahre alt und habe mich gewundert, wieso nun dieser Keller zur ganz großen Weltliteratur zählen soll, denn diese Geschichte, also wirklich. Tatsächlich ist der Rest des Sammelbandes, besonders “Die missbrauchten Liebesbriefe”, großartig. Jetzt noch den Grünen Heinrich? Und welche Version nimmt man da?

Ich lasse mir nach und nach die ganzen Märchen von Andersen, Hauff und den Grimms vorlesen, ich versuche, mich zu erinnern. Beim Andersen hatte ich als Kind eine illustrierte Ausgabe, die Bilder sehe ich beim Vorlesen zuverlässig wieder, es ist überaus faszinierend. Und ich kenne gar nicht alle Märchen von ihm, das merke ich jetzt erst, das war damals natürlich nur eine Auswahl, da hätte ich auch früher drauf kommen können. Die Grimms dagegen – so toterzählt und übergehört, da kommt nichts mehr hoch. Beim Hauff manchmal nur ein ganz ferner Anklang, der Kalif Storch etwa, doch, das habe ich irgendwann mal irgendwie gelesen, aber das ist viel zu weit weg, verschollen und verschwommen.

Ansonsten habe ich den Roman “Blackbird” von Matthias Brandt sehr genossen, aber darüber schreibe ich an anderer Stelle. Eine dicke Empfehlung dennoch auf die Schnelle, das ist außerordentlich gut.

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Musik! Mal etwas ganz anderes, Nora Fischer.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Es ist schwer, wenn man im Frühling schreibt, du weißt

Nein, so geht der Text in Wahrheit gar nicht, schon klar. Und nein, es ist auch gar kein Frühjahr. Obwohl – wer weiß, die Narzissen haben da ihre eigene Meinung, sie cornern halbstark im Park herum, und der eine Baum am Spielplatz da, die Mirabelle, die hat so einen verdächtig grünen Schimmer, wenn man genau hinsieht. Der Kalender behauptet dennoch stereotyp etwas von Januar, Tag für Tag behauptet er das und bei jeder Temperatur, aber der Kalender ist am Ende nicht aus dieser Zeit, wenn man es recht bedenkt.

Ich kam auch überhaupt nur auf den etwas seltsamen Titel des Beitrags, weil ich auf Youtube über Rod McKuen gestolpert bin, der mir bisher überhaupt kein Begriff war, es hört einfach nicht auf mit den Entdeckungen dort. Ein amerikanischer Musiker, der auch Brel und andere Franzosen übersetzt hat, von ihm ist die bekannte englische Version von “Le Moribond”, bei der man sofort und reflexmäßig an Terry Jacks denkt, Seasons in the sun, bekannt von Oldiepartys und Sendersuchlaufabenteuern auf Autobahnen.

Die Version von Rod McKuen selbst kann man aber auch ruhig kennen, finde ich. Eine sehr interessante Aufnahme.


Die kann man aber selbstverständlich nicht erwähnen, ohne kurz an das Original zu erinnern, das Original von dem Mann, bei dem jeder einzelne Gesichtsmuskel an der Interpretation beteiligt war:

Und abschließend die für mich immer noch gültige Version in deutscher Sprache und damit auch die Brücke zum Titel, der junge Klaus Hoffmann singt. Weil du so rein wie weißes Brot, weiß ich mein Weib hat keine Not:


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Leicht war das nicht …

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Davon abgesehen müssen wir weiter das Kinderzimmer weiter umbauen, es ist schwer, wenn man beim Umbau schreibt, du weißt. Morgen mehr. Vermutlich.

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Fremdbilder

In der S-Bahn saß mir ein Mann gegenüber, ein mir völlig fremder Mann, der mich immer wieder ansah, also unverhältnismäßig oft und lange für Hamburger Verhältnisse, wir haben es hier ja nicht so mit der Kontaktstärke im öffentlichen Raum. Er sah mich an, er sah kurz aus dem Fenster, er sah mich wieder an, er sah zur Decke, er grübelte offensichtlich. Er gab sich schließlich einen Ruck, beugte sich vor und fragte mich: “Sag mal, bist du nicht Stefan?” Und er sah so erwartungsvoll aus, als würde er recht sicher kein Nein erwarten. Das konnte ich aber nicht bejahen, denn ich kenne zwar gefühlt über hundert Stefans, ich bin aber keiner, ich bin auch nie einer gewesen. Er sah mich an und glaubte mir vermutlich nicht, denn das kann ja jeder sagen, dass er kein Stefan sei, so guckte er zumindest. Ganz und gar nicht überzeugt. “Du bist nicht Stefan? Echt nicht?” Eine ausgesprochen skeptische Nachfrage war das, ergänzt durch einen freundlichen Hinweis, denn ich könnte ja gerade für einen Augenblick meine wahre Existenz vergessen haben: “Also Stefan, der Pilot?”

Und das immerhin hatte vorher noch nie jemand zu mir gesagt, dass ich aussehe wie ein Pilot, zumal ich doch gar keine spiegelnden Sonnenbrillen trage und auch sonst keines der klischeemäßigen Merkmale bedienen kann, die einem da so einfallen können.

Weiter. Eine Frau sagte zu mir: “Du siehst aus wie ein Rotweintrinker.” Ich hinterfrage das sofort misstrauisch und denke insgeheim über die mir vielleicht entgangene auffällige Grobporigkeit meiner Nase nach, es scheint aber ein ernsthaftes Kompliment zu sein, denn sie mag Rotweintrinker, so sagt sie, und sie hat da so diese Intellektuellenassoziationen. Ich werde dem leider nie gerecht werden können, ich mag gar keinen Rotwein, vom Intellekt ganz zu schweigen.

Das sind aber selbstverständlich nur banale Äußerlichkeiten, ein rotweintrinkender Pilot namens Stefan, bin ich ein deutscher Romanheld oder was. Und klingt die Verbindung von Rotwein und Pilot nicht auch irgendwie haltlos, bei längerem Nachdenken und mit etwas Fantasie geradezu absturzgefährdet? Möchte man so sein?

Egal, denn in Wahrheit soll man auch mich natürlich an den Früchten erkennen, was macht der Mann denn so, wie kommt das an und wie wirkt das auf andere, was er treibt? Eine weitere Frau erhellt mir das etwas durch eine Frage, auch auf einer Party, als ob ich dauernd auf Partys gehen würde. Ganz nebenbei gestellt wird diese Frage, ein netter Einstieg in den Smalltalk nur: “Schreibst du noch diese … Tagestexte?”

Ich habe das natürlich bejaht, Leugnen zwecklos, das kann ja jede und jeder nachlesen. Ich denke aber seitdem intensiv darüber nach, ob ich nicht doch über den Tag hinaus schreiben sollte. Ich meine, solche Fragen sind ja immer Hinweise wie in einem Game, man muss da ernsthaft drüber nachdenken und etwas damit machen, etwa bei einem guten Glas Rotwein, pfui Spinne. Man muss es jedenfalls alles ernsthaft im Kopf hin- und herwenden, und das meine ich gar nicht scherzhaft. Man muss auch mal etwas versuchen, sich solchen wie zufällig herangetragenen Möglichkeiten immer wieder öffnen, denn das verhindert eventuell das, was Wolfdietrich Schnurre in seinem Schattenfotografen mit dem ganz und gar großartigen Wort “Schicksalsschimmel” bezeichnet hat.

Und was soll ich sagen, diesen Text etwa habe ich bereits gestern geschrieben, nicht heute, das sind also schon zwei Tage, der ist schon etwas abgehangen. Ich weiß nicht recht, ob das zählt, aber man sieht doch immerhin, ich arbeite daran. “Herr Buddenbohm war stets bemüht”. Bitte so dereinst auch auf meinem Grabstein vermerken, ich mag den Satz wirklich mit jedem Jahr lieber.

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Musik! Pippi Langstrumpf in einer coolen Jazzversion von Jan Johansson, der das Stück, also die bekanntere Variante, auch geschrieben hat. Man muss dabei etwas sechzigerjahremäßig gucken und genau hinhören, es ist dann ganz wunderbar, auch ohne Video.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Am Limit

Ergänzend zum kürzlich erwähnten Aussterben der Menschen – siehe hier. Man kann beide Artikel auch für erbaulich halten, it all depends.

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Kiki denkt über ihre Arbeitsprozesse nach.Das ist immer gut, ich liebe das auch. Vielleicht sogar mehr als das Arbeiten. Schlimm.

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Beim Podcast von Patricia und Marcus, ich hänge etwas hinterher, geht es um Whatsapp. Ja, man stöhnt schon bei der Erwähnung. Ja, es ist dennoch interessant.

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Neulich habe ich das Kartoffeltobinamburpilzgulasch wieder gekocht, das hier vor Jahren schon einmal vorkam. Es ist immer noch ein gutes Rezept und es gibt jetzt ein neues, überaus verblüffendes Feature – die Söhne essen das beide auch. Wer rechnet denn mit so etwas! Dies jedenfalls als Tipp, falls Sie Kinder haben, das schmeckt im Grunde hauptsächlich und ziemlich heimelig nach Gulasch.

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Zu meinen musikalischen Vorlieben, die sicher nicht mehrheitsfähig sind, gehört Chip Taylor, den kennen viele nicht. In seinen biographischen Angaben findet man immer zwei auffällige Details: Er ist der Onkel von Angelina Jolie und er hat zwei sehr bekannte Songs geschrieben, Angel of the morning und Wild thing, die kennt praktisch jeder – aber nicht von ihm. Neuerdings kommt er, bzw. kommen Songs von ihm wohl in der Serie Sex Education vor, entnehme ich gerade frischen Youtube-Kommentaren, die Serie habe ich aber nicht gesehen. Ich hatte im Blog schon einmal sein “Fuck all the perfect people” vor einiger Zeit, das war dieses hier, Sie erinnern sich vielleicht:

In Ergänzung dazu habe ich noch etwas gefunden – die Sache mit dem letzten Video:

Oder hier, ohne Video, nur mit dem knappen Text dabei, so etwa zwei Minuten pure Traurigkeit, das muss man dann allerdings auch abkönnen:

Auf Spotify findet man viel von ihm, ein interessantes Spätwerk.

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Am Hauptbahnhof hängen große Werbeplakate, die wollen die Passantinnen für eine Hörbuch-Plattform begeistern. Ich habe glatt schon wieder vergessen, wie die heißt, von wegen Werbung wirkt. Egal, die wirbt jedenfalls mit “Hören ohne Limit”, und der mich gerade begleitende Sohn II lacht hämisch auf, als er das liest: “Ha! Von wegen!”

Das ist ja interessant, denke ich mir, haben also meine zahlreichen Vorträge über die Refinanzierung von Internetdiensten, über die besondere Sprache des Marketings und über das Reinfallen auf haltlose Versprechen am Ende doch einen Sinn gehabt, wenn er mit solch gepflegtem Zynismus den Wahrheitsgehalt dieses Slogans en passant anzweifelt. “Ohne Limit! Von wegen!”, sagt der Sohn und ich habe zwar keine Ahnung, worauf er eigentlich abhebt, freue mich aber schon einmal über das Kind, denn Werbung anzuzweifeln, das ist immer gut und richtig, finde ich, außerdem liegt es heutzutage geradezu im Erziehungsauftrag. “Nichts ist ohne Limit”, sagt der Sohn düster, “gar nichts.” Und dann erklärt er mir, dass er sein ganzes Taschengeld für einen Hörbuchservice ohne Limit ausgeben würde, denn er lässt sich ausgesprochen gerne von vorgelesenen Geschichten unterhalten, aber dass es so etwas ohne Limit ja nicht geben kann. Nie! Ich frage ihn, was er eigentlich meint, er sagt: “Dich.”

Ich lasse mir das genauer erklären und lebe jetzt mit der etwas irritierenden Erkenntnis, in meiner Rolle als Vater ein ausgesprochen störendes Hörbuchlimit zu sein, denn ich erinnere ihn ja dauernd daran, dass er zur Schule muss, zu Bett oder zu Tisch oder zum Reiten, dass er schon wieder irgendwas machen muss, ich hindere ihn also permanent – “Immer und immer wieder!” – am unbegrenzten Hörbuchgenuss und wenn er das irgendwo wegkaufen könnte, also das würde er wohl wollen, echtjetztma. Aber nix is’. “Ohne Limit! Ha!”

Er geht wutschnaubend weiter, ein leidenschaftlicher Verächter des Werbeblas, ein genauer Leser und Selberdenker. Es ist ein wahrer Traum und ich bin zwar nur ein blödes Limit, aber dennoch irgendwie stolz.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Der Enkeltrick

Smillas Blog ist umgezogen.

Ein Text – und was für einer – über Care-Arbeit.

Wenn wir aber ahnen, dass wir aussterben – ändert das irgendwas?

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Es ging weiter in der Verwandlung des Kinderzimmers, wir beschäftigen uns just in time mit dem heraufdämmernden Teenie-Alter. Es war dabei notwendig, viel, viel Zeug aus dem Kinderzimmer loszuwerden, denn das soll bitte kein Museum sein und nur aus Vergangenheit und Kleinkindzeit und Grundschulzubehör bestehen, da muss schon etwas Gegenwart hineinpassen. Oder gerne auch etwas beruhigende Leere, was neuerdings ganz gut möglich ist. Denn die Digitalisierung bringt es mit sich, dass deutlich weniger Platz verbraucht wird. Minecraft etwa ist ein riesiges Spiel für enorm viele Stunden, aber es passt auf einen handlichen Bildschirm und fällt im Interieur im Gegensatz zu Lego überhaupt nicht weiter auf – ist gerade kein Kind da, ist das Spiel nicht einmal vorhanden, es ist geradezu magisch. Und da sich eine Überfülle an Zeug sowieso nicht bewährt, in aller Regel auch bei Erwachsenen nicht, und etwas Luft im Raum gemeinhin guttut, galt es also auszuwählen. Es musste gewählt werden unter den Büchern und unter den Spielen, unter dem Spielzeug und auch unter all dem Kram, den man spontan gar nicht ausreichend definieren kann, also unter diesem seltsamen Huckleberry-Finn-Hosentaschenkram, der ganze Kisten füllt und zuverlässig den Fußboden bedeckt.

Die Kondo-Frage nach dem Joy hilft bei Kindern oft überhaupt nicht weiter, denn zum einen halten sie in schlauer Vorsicht künftigen Joy im Zweifelsfalle weiterhin für jederzeit möglich, auch wenn sie ein Spielzeug oder Ding oder Buch schon seit zwei Jahren nicht mehr angefasst haben, zum anderen entsteht Joy aber oft schon spontan durch die Frage, und die Aufräumaktion endet abrupt, weil das Kind jetzt sofort ganz dringend mit dem vergessenen Ding spielen muss, und zwar zwei Stunden lang und am besten mit Freunden, die dafür augenblicklich einzuladen sind. So kommt man nicht weiter.

Ich habe daher auch bei früheren Aufräum-und Umbauaktionen schon den Enkeltrick angewandt, aber nicht in der von der Kriminalpolizei in Warnungen verbreiteten Form, sondern in einer besonderen Fragevariante: “Würdest du das an deine Kinder weitergeben wollen?”Wobei es mir nicht darum geht, den Gedanken an Nachwuchs im Nachwuchs zu verfestigen, soweit bin ich geistig noch lange nicht und siehe oben, wenn wir doch eh aussterben – es ist kompliziert. Und ja, die Frage ist selbstverständlich in einem gewissen Alter noch völlig absurd. Aber gerade, weil sie so absurd ist, führt sie tatsächlich in einigen Fällen zu intensivem Nachdenken, sie führt dazu, dass auf eine ganz andere Art als sonst über den Wert von etwas nachgedacht wird. So stellen sich dann Bücher heraus, die tatsächlich einen besonderen Wert haben. Einen Wert, der über den Augenblick weit hinausreicht. Bücher, bei denen es irgendwann schön sein muss, davon zu erzählen, guck mal, das wurde mir früher vorgelesen, das habe ich so geliebt. Das sind am Ende die Bücher, welche die Kindheit ausgemacht haben (während die Minecraftwelt, in der sie ein Jahr verbracht haben, unrettbar verloren sein wird, das ist auch ein besonderes Thema). Kindern macht es manchmal Spaß, sich so eine Zukunft kurz vorzustellen, weswegen übrigens die Frage “Wie würdest du das mit deinen Kindern machen” auch in ganz anderen Zusammenhängen erstaunlich hilfreich sein kann, aber das nur am Rande.

Stellt man sich die Frage nach dem Zeug und dem Weitergeben selbst, funktioniert das natürlich auch. Wenn ich mir etwa überlege, was von meinen Dingen einmal zu vererben sein sollte und was den Söhnen später noch wirklich etwas bedeuten könnte, dann wird das fast alles unwichtig und kann weg und das, worum es vermutlich geht, das bisschen Souvenirgedöns, das passt schließlich in einen Schuhkarton. Oder ist schon längst online.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Die Kurzfassung

Es ist noch eben eine Randbemerkung eines Sohnes nachzureichen, ein ganz kleiner Satz nur, doch im Grunde ist es so ein Treffer, man könnte ganze Essays daraus wirken. Aber wer hat schon Zeit für Essays, ich etwa habe die nicht, keineswegs habe ich die. Ich belasse es daher bei der schlichten Kurzform, da kann sich jeder selbst in einer Mußestunde eine ausufernde mediengeschichtliche Einordnung dazu basteln oder mit erhobenen Brauen irgendwas mit dem Begriff Generationen drin murmeln oder sich plötzlich, das dürfte dann besonders für die verbliebenen Menschen in der Printbranche gelten, seltsam getröstet und verstanden fühlen, das ist ja auch immer schön, ich verstehe das.

Denn ein Sohn verlangte hier neulich nach der Regionalzeitung, er hatte das Konzept bei den Großeltern in Nordostwestfalen kennengelernt und für interessant befunden. Ich kaufte ihm ein Abendblatt, wir haben so etwas sonst nie im Haus, gedruckte Zeitungen finden hier seit vielen Jahren nicht mehr statt. Er blätterte es durch und sagte sinnend: “Das ist doch voll praktisch, wenn man sich nicht alles online zusammensuchen muss.”

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Du und das Gnu

Ich möchte mich im Vorwege für diesen Text entschuldigen, ich bin desaströs übermüdet und schreibe aus unerfindlichen Gründen dennoch. Schlimm.

Da sich unser Kinderzimmer allmählich, ganz langsam nur, in Richtung Jugendzimmer verwandelt, waren wir bei Ikea. Das war an einem Sonnabendnachmittag, die Idee hatten also noch ein paar andere Menschen, wie man sich leicht vorstellen kann, vielleicht waren es auch sämtliche Einwohner der Metropolregion Hamburg. Es gab Gelegenheit, sehr viele Leute zu beobachten, die sich erstaunlich ähnlich verhielten, weil der Mensch sich nun einmal ziemlich genormt benimmt, wenn er Möbel kauft. Es setzen sich alle mit dem gleichen kritischen Blick auf ein Bett, als würden sie mit dem Hintern sofort erspüren können, was dieses Möbel nun für ihren erholsamen Schlaf taugen kann, es öffnen auch alle auf die gleiche Art Kleiderschranktüren und sehen skeptisch hinein, ob der private Kostümfundus da vollständig hineinpassen mag oder nicht. Es sitzen alle gleich mit ausgestreckten Beinen in Sesseln und legen die Arme auf die Lehnen, wenn es denn welche gibt, und sinnen einen Augenblick konzentriert der potentiellen Gemütlichkeit künftiger Tage entgegen. Und es ziehen am Ende alle stieren Blicks durch die SB-Halle und es ist ihnen nach sieben Abteilungen, als wenn es tausend Vasen gäbe, und hinter tausend Vasen keine Kasse. Sie gucken also nur noch nach vorne oder auf den Boden direkt vor ihrem riesigen Einkaufswagen und strömen mit kleinen Schritten und schwer beladen immer der Masse nach zum Ausgang, zum Parkplatz, von wo aus sie sich wieder vereinzeln und endlich im Dunkel des Winterabends verschwinden.

Die vorbeiziehenden Menschen verschwimmen einem da im Laufe des Besuchs irgendwann, Paare, Familien, Sippen, Freundinnen und WG-Bewohner, alles kommt immer wieder vorbei, immer noch ein Trupp und noch einer, nach ein, zwei Stunden sieht man bei all den Leuten nur noch Ähnlichkeiten, keine Unterschiede mehr. Man nimmt dann irgendwann eher die Herde wahr, nicht mehr die Individuen. Man wechselt also sozusagen in die Perspektive eines Tierfilmers, der ja auch das Gnu primär im Rudel sieht und nicht etwa nur die eine und auf den ersten Blick schon sonderbar attraktive Gnuknuh. Wobei ich den leisen Verdacht habe, dass man Gnukuh gar nicht sagt, aber bitte, Gnuweibchen klingt dann doch zu verniedlichend, wenn man sich die großen Tiere einmal einen Moment vorstellt. Und das Abheben auf ein weibliches Tier ist natürlich nur meiner männlichen Perspektive geschuldet, Sie könne sich das auch gerne mit einem Gnubullen vorstellen, was allerdings wieder so ein Wort ist, das nach dreimaligem Lesen oder Schreiben albern und unbrauchbar wird, Gnubulle, Gnubulle, Gnubulle, es klingt fast wie irgendein Ding von Ikea, ein kleines Sofakissen vielleicht, aber ich schweife ab.

Egal. Der Blick auf die Herde also, denn wie sang schon Konstantin Wecker: “Ein Gnu ist nicht genug, ein Gnu kann nie genügen.”

Wie ein Tierfilmer sieht man nach einer Weile bei den Menschen auch Verhaltensmuster in Serie. Denn so wie die Gnus, ich bleibe der Einfachheit halber noch einen Moment bei denen, alle vergleichbar zur Tränke gehen, so geht der Mensch zum Hotdog-Stand und man erkennt dann beim Zusehen, okay, so ist es also artgemäß, so leben die, so machen die das. Ich habe nun schon lange keinen Tierfilm mehr gesehen, aber aus der Erinnerung weiß ich doch noch, dass da immer Sequenzen gezeigt werden, die zu bestimmten Lebenssituationen passen, so weiden die, so fliehen die, so paaren die sich, so laufen die Jungen neben den Alten und so ziehen sie durchs Land, man kennt das.

Selbstverständlich ist es eher ein Zufall, ein Stichprobenfehler, dass ich da bei Ikea in ganz verschiedenen Bereichen der Ausstellung drei Schwangere mit männlichen Partnern gesehen habe, die sich genau gleich benommen haben, das beweist eigentlich rein gar nichts, aber so als Tierfilmer hätte ich doch daraus ableiten wollen, dass es im Themenfeld Paarung und Nestbau beim Menschen ein Verhalten gibt, das sich so beschreiben lässt: Die Frau steht mit einer Hand auf dem Bauch und guckt betont skeptisch, der Mann steht vor Möbeln und fuchtelt. Ich erinnere dunkel, dass die Webervögel so ein ausgefeiltes Ritual haben, der eine baut etwas vor, der andere guckt zu und wägt sorgsam ab, ist mir das da jetzt gut genug oder nicht? Eine faszinierende Instinkthandlung der komplexeren Art, denn die bauen da ja nicht irgendwas, die bauen Kunstwerke.

Exkurs. Bei Erich Fromm – der schon wieder! – habe ich neulich einen außerordentlich faszinierenden Gedanken gelesen, wirklich umwerfend, den muss ich Ihnen kurz erzählen. Und zwar äußerte er da eine Begründung für die bekanntlich ach so spektakuläre Denkleistung der Gattung Mensch und er tat das ex negativo, denn er leitete unser Denken schlankerhand aus unserem desaströsen Mangel an Instinktsicherheit ab. Ist das nicht groß? Wir denken danach nicht aus Verdienst und purem Können so überaus erfindungsreich herum, nein, wir denken bloß deswegen dauernd, weil wir so jämmerlich instinktschwach sind und dank der lausigsten Automatismen im Tierreich einfach nichts ohne dieses Riesenhirn auf die Reihe kriegen, weil wir, so Fromm, “im Handeln nicht geleitet werden”. Wir denken kompliziert, weil wir das Einfachste nicht können. Einer der amüsantesten Gedanken, die mir in letzter Zeit begegnet sind, ich freue mich da schon seit Wochen drüber. Exkursende.

Wo war ich? Die Webervögel. Die jedenfalls inszenieren ihr ausgefeiltes Nestbauritual vermutlich doch vor der Paarung und der Mensch macht seines hinterher, was eigentlich etwas seltsam und in der Tat auch instinktschwach ist, denn wenn der vor den Möbeln fuchtelnde Mensch das gar nicht gut macht und sich in dieser Hinsicht also gerade als Niete erweist, wenn er gar keine Ahnung von Raumaufteilung und Inneneinrichtung hat, dann ist es eigentlich schon zu spät – und genau so gucken die Schwangeren auch, also zumindest die drei, die ich da gesehen habe, das wollte ich nur eben sagen.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Über den Spaß an normalen Tagen

Die Kassiererin im Supermarkt hat ihre kleine Tochter dabei, stolz sitzt sie auf dem viel zu hohen Drehstuhl. Die Mutter steht daneben und beide arbeiten gemeinsam, wobei die sinnige Aufteilung darin besteht, dass die Mutter fast alles macht, das Mädchen aber die obligatorische Frage nach dem Bon übernimmt. Sie stellt sie ganz normal, der Wortwahl merkt man nichts an: “Mit oder ohne Bon?” Aber das Gesicht! Denn sie macht das wohl zum ersten Mal und sie ist einigermaßen stolz auf ihre Rolle, auf ihre Mutter sowieso, die den ganzen komplizierten Kram da macht, mit dem Geld und dem Scanner und so, und weil das Mädchen es zum ersten Mal macht, ist die Frage natürlich total spannend. “Mit oder ohne Bon?” Es ist eine der allerlangweiligsten Fragen unseres Alltags, und dieses Mädchen stellt sie so, als seien beide Antwortoptionen hoch spannend und irre aufregend. Ganz konzentriert hört sie hin und überreicht dann feierlich den Bon oder wirft ihn ebenso feierlich weg, es ist bei jedem Kunden aufs Neue ein besonderer und würdevoller Akt, Teezeremonie überhaupt nichts dagegen. Und dann strahlt sie die Kunden so dermaßen begeistert an, weil das nämlich alles wahnsinnig viel Spaß macht, da antwortet man heute sogar gerne, eine bisher vielleicht nie erlebte Situation. Und was man auch sagt, die Antwort erfreut. Heute spielen alle mit, so müsste die Welt öfter sein, jedenfalls aus der Sicht eines Kindes.

Vor dem Portal der Kirche liegen zwei obdachlose Russen und trinken aus einer Flasche entweder Wasser oder Wodka, reflexmäßig neige ich der zweiten Interpretation zu, genau erkennen kann ich es an der Flasche aber nicht, da beschreibe ich also schnell das Falsche, wie die Russen auch aus einem anderen Land im Osten kommen können. Vorurteile und Wahrscheinlichkeiten, sagen wir, es ist zu 80% Wodka. Die beiden liegen da und betteln nicht, es liegt keine Mütze vor ihnen, kein Plastikbecher, kein offener Gitarrenkoffer, nichts. Sie sprechen auch keine Passanten an, wobei da eh recht wenig vorbeikommen, das Kirchenportal liegt nicht am Hauptstrom der Einkaufenden. Es liegt aber auch nicht geschützt, da kommen Regen und Wind hin, beide kommen heute auch vor. Es ist im Grunde ein ziemlich erstaunlicher Platz, um stundenlang in einer fremden Stadt herumzuliegen. Vielleicht, so denke ich im Vorübergehen, folgt das auch nur einer Tradition, vor Kirchenportalen zu liegen, vielleicht ja deswegen: “Das haben wir schon immer so gemacht.” Sie liegen da mit Blick auf die Kreuzigungsgruppe vor der Kirche, die beachten sie aber nicht weiter, vielleicht haben sie die Figuren auf den Stelen nicht einmal wahrgenommen. Andere haben da genauer hingesehen.

Was aber auffällt, die beiden liegen da und lachen. Und es ist kein besoffenes Lachen, es ist nicht dieses verlallte und haltlose, schnell unangenehm irre wirkende Lachen, das man von den Alkoholkranken auf dem Bahnhofsvorplatz kennt, dieses Lachen, das so schnell ins Grölen, ins Kotzen oder ins Brüllen übergeht. Es ist ein normales Lachen, wie man eben über einen guten Witz lacht, über Situationskomik oder einen Spaß unter Freunden, und sie lachen so sehr, sie kriegen sich gar nicht mehr ein.

Eine Stunde später sehe ich, dass sie mittlerweile etwas weitergezogen sind und jetzt auf dem Spielplatz unter einem Dachvorsprung sitzen, es war wohl doch zu kalt und zu nass auf dem Boden vor der Kirche. Sie lachen immer noch und zwar so, dass sie fast von der Bank fallen. Sie stoßen sich immer wieder mit den Ellenbogen an und dann geht es wieder los, das Lachen hört man weit.

Soweit ich es auf meinen Streifzügen durchs Revier sehen konnte, hat an diesem Tag ansonsten kein Mensch Spaß im kleinen Bahnhofsviertel gehabt. Überall gab es nur die immer gleichen ernsten Gesichter und die ernsten Handlungen und vermutlich doch auch die ernsten Gedanken wie an jedem Tag, sogar dieses eine Kind da auf dem Spielplatz rutschte so, als sei das Rutschen eine ernste Angelegenheit. Was es bei Nieselregen und in einem unförmigen Schneeanzug vielleicht auch ist, ich weiß es gar nicht mehr, ich bin längst zu erwachsen.

Nur das kleine Mädchen an der Kasse und die beiden obdachlosen Russen jedenfalls, die haben sich prächtig amüsiert. Immerhin.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut, Pappbecher oder Gitarrenkoffer werfen, ganz herzlichen Dank!