Bei Kaffee und Kuchen

Der Sonnabend beginnt märzmäßig frisch in Nordostwestfalen. Da hält sich die Freude am Aufenthalt in der freien Natur noch in engen Grenzen und alle, die aus irgendeinem Grund vor die Tür gehen, kommen mit einem gemurmelten Kommentar zur Kälte wieder rein. Als sei das so vorgeschrieben und guter Brauch.

Am frühen Nachmittag traut man sich dann kollektiv in Winterjacke raus und es gibt, eher einem ehernen Prinzip als einer inneren Neigung folgend, Kaffee und Kuchen im Garten. Zum ersten Mal im Jahr, denn es ist Ostern, es schneit und friert nicht, also bitte, was hält uns auf. Und die Sonne bricht schließlich durch.

Es wird ein Grad wärmer, es wird zwei Grad wärmer, da kann man die Jacken immerhin vorsichtig öffnen. Fliegen und Hummeln umsummen den Kuchen auf dem Gartentisch, als sei es längst Sommer. Es wird drei Grad wärmer, da legt man vielleicht schon etwas ab. In der Hecke singen uns Zilpzalp und Mönchsgrasmücke dazu ein hinreißendes Duett aus den schöneren Tagen neulich, die sich deutlich mehr nach Frühling angefühlt haben.

Ein Sohn setzt sich dann in die nächste Stadt ab, der andere hackt für seine Großmutter Holz und häckselt an laut jaulender Maschine ihre Strauchwerkreste. Unter Nützlichkeitsaspekten fallen die Söhne heute grundverschieden aus. Aber gut, man soll nicht alles nur nach Nützlichkeitsaspekten bewerten, der innere Hanseat soll nicht immer alles aufrechnen und bilanzieren.

Der Löwenzahn blüht hier jedenfalls um uns herum viel gelber als in Hamburg, so viel steht fest. Das Gras ist auch grüner in dieser Gegend. Ich verifiziere nebenbei auf einem Spaziergang die gestern erwähnten Blüten an Apfelbäumen und Fliederbüschen, und ich sehe, es bestätigt sich alles. Vollfrühling, ja, du bist’s.

Kühe auf einer Wiese voller blühendem Löwenzahn

Auf dem Weg neben dem Acker riecht es intensiv nach dem Pferd, auf dem ein Mädchen gerade vorbeikam. Ein paar Meter weiter riecht es nach Kuh. Ein Misthaufen hinter einer Scheune dünstet Wärme und ein seltsam vertrautes Aroma aus. Und an manchen Stellen riecht es im Wind aus der Richtung des Dorfes auch nach Feuer und Grillfleisch.

Obendrüber zieht ein deplatziert wirkendes, laut kreischendes Geschwader Möwen durch den nun wieder blauen Himmel und sichtet die noch brachliegenden Flächen ringsum. „Ja, sind wir denn an der See oder was!“, schimpft die Großmutter der Söhne und sieht ihren Besuch auf einmal skeptisch an.

Am Ende ziehen diese Hamburger neuerdings Möwen nach sich, was soll das nun wieder.

Ein blühendes Rapsfeld

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Der Raps um Syke herum

Gesehen: Eine arte-Doku über Lauren Bacall und Humphrey Bogart in der Reihe „Legendäre Liebespaare.“ Irgendwo muss die Motivation ja herkommen, nicht wahr.

***

Wir sind nach Nordostwestfalen gefahren, ins Heimatdorf der Herzdame. Wie in jedem Jahr zu Ostern, wenn nicht gerade eine neue Pandemie ausbricht. Über graues Land im Regen fuhren wir, unter schwerem, tiefhängendem Himmel. Es war ein ungewohnt gewordener Anblick nach all den Wochen der besonnten Trockenheit in Hamburg.

Von der Autobahn wurden wir wiederum abgeleitet und kurvten durch die Dörfer, es war erneut eine Strecke, auf der wir nie vorher gefahren sind. Man könnte glauben, dass ich nach über zwanzig Jahren auf dieser Route irgendwann alle Varianten durchhaben müsste, um das Ziel knapp hinter der Grenze zu NRW zu erreichen, aber dem ist nicht so. Niedersachsen liegt in einer erstaunlich breit aufgefächerten Form vor, es gibt eine beachtliche Vielfalt der Möglichkeiten, da durchzukommen. Labyrinth nichts dagegen, aber immer und von überall weist irgendein Schild nach Syke. Es muss, diesen Eindruck gewinnt man unweigerlich, der meist ausgeschildertste Ort Deutschlands sein und alles Fahren, wohin auch immer, ist am Ende nur ein Fahren um Syke herum.

Unter der bleischwer aussehenden Wolkendecke des Karfreitags sahen wir weite Felder unter schmuddelig weißem Plastik. Da wuchs der Spargel, und schön sah das nicht aus. Am Straßenrand einige Verkaufsbuden, unbesetzt. Handgeschriebene Kilopreisschilder aus Pappe, vermutlich am Vortag noch aktualisiert.

Ab und zu auch ein Gelb im weiten Grau, ums Leuchten sichtlich bemüht, das war der Raps. Wieso blühte der Raps, das irritierte mich kurz. Man liest so viel über die klimawandelbedingten Verschiebungen, da muss man sich längst bei allem, was man in der Natur sieht, fragen, ob es wirklich jetzt dran oder zu früh ist, zu spät vielleicht. Oder ob es ohnehin verkehrt ist, hier nicht hingehört.

War es ein Alarmzeichen, dass es dort gelb blühte, war es eine schlechte Nachricht, was man im Vorbeifahren sah? Oder war es nur ein Bild der Heimat, der süßen Heimat, und gehörte nun einmal so?

Ich habe das nicht für alle Natureffekte parat, die uns unterwegs begegnen können. Wer hat das schon noch. Ich ließ also die humanoide Intelligenz neben mir auf dem Beifahrersitz recht altmodisch googeln. Um es abzusichern, wie wir uns beim Anblick der frühlingshaften Felder zu fühlen hatten, besorgt oder aufblühend: Und es war okay.

Der Raps durfte schon gelb strahlen, zu dieser Zeit im Jahr, da hatten wir noch einmal Schwein gehabt. Schwein haben in Niedersachsen, das allerdings ist wie die Eulen, die man nach Athen trägt. Vielleicht ist es weniger wert als anderswo, das mag sein, aber immerhin ein wenig Schwein haben wir doch gehabt.

Einen Tag vorher übrigens hatte meine Wetter-App per Pop-up jubelnd den „Vollfrühling“ vermeldet (Apfel und Flieder blühen, der Kuckuck ruft, Maikäfer fliegen, Männer grillen, so die phänologischen Bedingungen dafür). Aber wie es so ist, ich hatte gerade keine Zeit, etwas zu fühlen.

Das vielleicht demnächst nachholen.

***

Rapsabschließend wollen neuere Leserinnen und Leser vielleicht noch, wo wir schon bei der Pflanze sind, die Sache mit der Entstehung der Rapsmusik eben zur Kenntnis nehmen. Das altgediente Publikum kennt den Clip längst, er ist aber andererseits immer wieder gut und eine erneute Kenntnisnahme schadet nicht. Denn wie der Opa damals durch die Rapsfelder ging … es ist kulturgeschichtlich schon wichtig.

***

Ein Blumenkübel mit Tulpen darin vor freiem Feld

Im Heimatdorf gab es dann Kaffee und Kuchen. Unter den Tellern lag die Tischdecke mit den Küken, die noch aus der Kindheit der Herzdame stammt. Auch das Geschirr passte dazu, denn so gehört es hier alles.

Und der selbstgebackene Kuchen, es versteht sich von selbst, er schmeckte sehr gut.

Ein Kuchenteller auf einer alten Ostertischdecke in 70er-Design mit Küken darauf

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Innovatives und Zukünftiges

Es soll zweckmäßig und geistig gesund sein, sich ab und zu etwas Optimismus zuzuführen, weshalb ich – und sogar noch weit außerhalb meiner thematischen Komfortzone! – eine Sendung über Sprunginnovationen gehört habe: Welche Technologien haben Zukunft? 32 Minuten lang. Es gibt, habe ich dabei gelernt, eine Bundesagentur für Sprunginnovationen. Mit der allerdings unschönen Abkürzung SPRIND, die für mich leider so klingt, als würde man da einen Spurt einfach nicht hinbekommen, mit diesem weichen, unsportlich klingenden, sacht versumpfenden D am Ende.

Ich habe nach dem Hören jedenfalls den spaßig anmutenden Begriff „Leapfrogging“ im Kopf behalten. Es kommt mir gerade besonders smalltalktauglich vor, diesen Begriff parat zu haben, und die Anglizismusquote im Umfeld ist ohnehin wieder stark ansteigend. Hätte ich in meinem Berufsleben ordentlich Buch über diesen speziellen Sprachwandel geführt, ich könnte mittlerweile vermutlich Wellenbewegungen über die Jahre ableiten. Aber das ist nur eine weitere verpasste Gelegenheit.

Mit diesem Begriff vielleicht demnächst mal irgendwo angeben: „Wir könnten bei diesem Topic auch einfach leapfroggen.“ Und dann finden das alle wieder megaspannend oder gleich great and inspiring, schon klar.

Ich brauche womöglich Urlaub, merke ich gerade. Immerhin ist Ostern, da vielleicht mal etwas ausruhen. Falls hier zwei, drei Tage kein Text erscheinen sollte, wird es also nur daran liegen. Aber das ist kein Plan, nur eine Eventualität.

***

Ein Zeitzeichen habe ich ebenfalls gehört. Es ging da um einen Satz, der nie gesagt wurde, nämlich „L’etat c’est moi“, Ludwig XIV (14 Min.). Ich meine mich zu erinnern, dass dieser so berühmte Satz in den Geschichtsbüchern der Söhne ohne einen Hinweis darauf vorkam, dass es nur ein zugeschriebenes Statement ist. In meinen Geschichtsbüchern damals sowieso. Es war einer der Sätze, das weiß ich noch, die man auswendig zu lernen hatte für die nächste Arbeit. Dabei gab es ohnehin nichts zu hinterfragen.

Quasi historische Fake-News, immer wieder neu aufgelegt und in ihrem Fortbestand recht gründlich abgesichert.

***

Einen Elternabend gab es dann noch, zu dem ich allein ging, da die Herzdame Amüsanteres vorhatte. Man muss auch gönnen können, ja, ja. Es wurde dort eine Präsentation vorgelesen, die dann hinterher auch per Mail verschickt wurde. Das Format ist in dieser Form in Büros aller Art und auch in Schulen gleichermaßen unsinnig und müsste dringend generalüberholt oder gleich geleapfrogged werden, aber egal.

Es ging, und da wurde es dann entschieden wunderlich, um die Abiturtermine im nächsten Jahr. Auch schon um die Wahl der Prüfungsfächer, der Prüfungsformen, die man heutzutage wohl auch zumindest teilweise wählen kann, und dergleichen. Sogar um die Berufswahl und die Studienmöglichkeiten ging es, um Ausbildungswege etc. Dabei wissen wir doch alle, dass der betroffene Sohn neulich erst eingeschult wurde.

Wie geht das nun wieder zu.

Auf Instagram wurde mir direkt nach dieser Veranstaltung, obwohl das Smartphone doch bekanntlich niemals mithört, spontan Werbung für Abiballkleider gezeigt. Von der ich allerdings nicht recht weiß, ob sie vielleicht Satire war oder nicht. Die Roben waren nämlich in etwa so ansprechend wie diese Kleider, die Brautjungfern auf amerikanischen Hochzeiten tragen, also diese schauderhaft bunten Bonbon-Umwickelungen, die man aus etlichen Filmen kennt. Trägt man das jetzt im Ernst so? Nanu.

Aber wie auch immer, den betreffenden Sohn womöglich neben solchen Kleidern in einem Anzug zu sehen – es sprengt bisher noch die eigentlich recht weit gefassten Grenzen meiner Vorstellungskraft.

***

Menschen sitzen an einem warmen Nachmittag an der Kleinen Alster vor den Rathausarkaden auf den Stufen zum Wasser

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Weitere Nörgelrentnernotizen

In der Reihe Radio Bremen Retro gibt es in der Audiothek ein Interview aus dem Jahr 1962. Irmgard Bach befragt Siegfried Lenz zum Thema „Als ich 17 war.“ Da war der Schriftsteller 36 Jahre alt, und ich fand die Aufnahme gleich doppelt überraschend. Zum einen klingt er überhaupt nicht so, wie ich mir die Stimme von Lenz vorgestellt habe. Was ich aber auch nicht näher definieren könnte, also abgesehen von: So eben nicht.

Zum anderen, und das ist dann eine fast schon langweilig reproduzierbare Überraschung, also eigentlich keine, staune ich immer wieder, wie weit sich die gesprochene Sprache von dieser Ausdrucksart damals, mit der ich immerhin noch groß geworden bin, fortentwickelt hat. Sehr stark hat sie sich verändert. Und ich wüsste nicht, nach welchen Kriterien man die Entwicklung seit der Zeit als Fortschritt im üblichen Deutungssinne dieses Begriffs werten könnte. Es ist eine Veränderung, so viel steht fest, aber ob da etwas besser geworden ist – ich sehe oder höre es nicht.

Es ist aber das gleiche Dilemma wie immer. Denn obzwar, um eine schöne und fast ausgestorbene Lenz-Vokabel zu benutzen, ich davon ausgehe, dass es in meiner Lebenszeit kulturell eher abwärts ging, schon von den Ambitionen her, kann ich es nicht verifizieren. Denn ich weiß ja, dass dies die meisten Menschen in meinem Alter immer schon gedacht haben, quer durch alle Jahrhunderte.

Ein paar von ihnen haben auch aus heutiger Zeit Recht gehabt, siehe das Auf und Ab der Kulturgeschichte, die kollektive Bewertung ex post. Aber kann man es zu Lebzeiten wissen, dass man richtig liegt und in einer Abwärtsphase zu Gast war?

Während ich dies schreibe, ich sehe es gerade, zeigt die Wanduhr über mir viertel nach. Wozu es in Verbindung mit dem Thema Lebenszeit auch wieder ein Lied gibt. Weil es zu allem ein Lied gibt.

***

Durch das neue Einkaufsriesending an der Elbe, wo ich gerade bei Kulturgeschichte bin, stromern währenddessen die Influencenden von Instagram etc. und kriegen sich gar nicht mehr ein, ob der möglichen Shopping-Ekstasen und der Auswahl an Fast-Fashion etc. vor ihren Smartphonekameras. In meiner Timeline taucht viel von diesem Reklamematerial auf. Was auch logisch ist, da ich am passenden Ort wohne und mir die Clips etc. tatsächlich neugierig ansehe. Wie so ein williger Konsument sehe ich sie mir an und lasse alles in voller Länge durchlaufen. Dabei ist diese Neugier eher vergleichbar mit dem Unfallgucken auf der Autobahn, nicht mit dem unterstellten Kaufinteresse.

Aber das können die Algorithmen so nicht deuten, schon klar.

Es wundert mich also nicht, was mir da im Stream geboten wird. Staunenswert ist aber ein wenig, wie viele von diesen Influencenden es gibt. Ich habe die Menge für überschaubarer gehalten, und da lag ich falsch.

Und wie vergleichbar ähnlich sie fast durchweg im Auftritt, in der Sprache und auch in der medialen Darstellung sind, in der Perspektivwahl etc. Es versteht sich fast von selbst, dass alle dieser Werbetreibenden alles, was sie sehen und filmen, kategorisch „spannend“ finden. So spannend, superspannend, echt spannend, megaspannend, irre spannend. Und dann gehen sie, nächster Schnitt, bei H&M rein. Weil es so spannend ist und als wäre es ein Event.

Aber ich will gar nicht spotten, pardon. Ich stelle nur aus meiner Sicht fest und behalte stets im Sinn, dass ich nicht die Zielgruppe bin und mich daher nicht zu beschweren habe. Dass ich nicht einmal mehr in der Nähe einer der Zielgruppen bin, dass ich mittlerweile eher der fremde Blick bin. Alles von außen angucken.

Als nicht eben geselliger Mensch fühlt es sich manchmal seltsam passend an, aus Zielgruppen herauszufallen.

***

Blick über den Südkanal in Hammerbrook

Im Bild der Südkanal in Hammerbrook mit ernster Bürobebauung an den Ufern, sommerlich blauem Himmel und weißen Wölkchen, aus denen es wiederum nicht regnen wird.

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Eine kleine Korrektur

Beim Deutschlandfunk Kultur gibt es eine Lange Nacht über Giacomo Casanova. Interessant ist sie, wie fast alle Folgen dieser überhaupt lobenswerten Reihe.

Ich habe, fällt mir da ein, wo ich gerade bei bekannten Verführungskünstlern bin, mit denen ich mich sonst nicht einmal ansatzweise näher verbunden fühle, neulich ein Kompliment bekommen und mich sehr darüber gefreut. Fast wie ein Mensch, für den flirty Situationen eher an der Tagesordnung sind.

Weswegen ich kurz und fast lebenshilfemäßig einen mir wichtig erscheinenden Aspekt bei Komplimenten hervorheben möchte: Man sollte sie machen. Und annehmen, das sicher auch.

Aber gut, es spricht auch immer etwas dagegen, sie anzunehmen, ich weiß es. Been there, done that, got the t-shirt.


***

Und eine kleine Korrektur möchte ich zwischendurch anbringen. Vermutlich ist sie nur für Menschen aus Hamburg interessant, ich halte es möglichst kurz.

Das in fast sämtlichen lokalen Medien, Blogs (womöglich auch in diesem, mon Dieu!) etc. so oft und reflexmäßig wiederholte Statement, dass die Hamburger Innenstadt abends friedhofsähnlich unbelebt sei, es stimmt gar nicht mehr. Im Rathausquartier (Kleine Johannisstraße etc.) geht es bei gutem Wetter mittlerweile nahezu szeneviertelmäßig gut besucht zu, wie ich am letzten Wochenende etwas überrascht festgestellt habe. Man sitzt und trinkt und isst in der Außengastro, als stünde die Ecke seit einer Weile schon in jedem Reiseführer. Was auch sein kann, ich lese keine Reiseführer und würde es also kaum mitbekommen.

Die Innenstadt besteht nicht nur aus den beiden Haupteinkaufsstraßen, das zwischendurch einmal einräumen. Und wenn die Belebung und Sanierung des Rathausquartiers einem Plan folgt, dann scheint er sogar zu funktionieren. Es kommt mir einigermaßen originell vor.

Verblüffend allerdings, dass für das, was dort so überzeugend nach sich belebender, Fahrt aufnehmender Gentrification aussieht, vermutlich keine Mieterinnen oder Mieter vertrieben werden mussten. Weil dort meines Wissens in den letzten Jahrzehnten eh niemand gewohnt hat. Das wirkt auf eine gewisse Weise nicht drehbuchgerecht, was die klassische Stadtentwicklung angeht, deren Phasen man doch zu kennen meint.

Man erwartet es anders, aber gut – irgendwas ist immer.

Die Gegend da ist ein BID, ein Business Improvement District, sehe ich nebenbei, und weise daher sicherheitshalber darauf hin, dass ich damit geschäftlich nichts zu tun habe. Keine bezahlte Werbung, nein.

Alle positiven Sätze über irgendwas fallen unter einen gewissen Generalverdacht, nicht wahr. Das ist auch keine schöne Entwicklung, aber ich weiß, ich habe mitgemacht. Siehe auch „Die schärfsten Kritiker der Elche“ beim Großmeister F.W. Bernstein.

***

Ein Steg an der Außenalster, Außengastro-Bestuhlung darauf, an einem Fahnenmast die Hamburg- und darunter die Regenbogenflagge

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Neues aus dem dunklen Hohlraum

Am frühen Morgen umschwirrt eine Wespe mich und das Notebook, an dem ich in der Frühschicht schon bienenfleißig tippe. Etwas irritierend finde ich das, so eine Wespe mitten im April. Als hätte man einige Wochen und sogar Monate spontan übersprungen und sei auf einmal tief in der Pflaumenkuchenzeit. Wie gestört kann das Zeitempfinden denn sein, ist das nicht etwas übertrieben, Pandemieschaden hin oder her.

Es wird jedenfalls eine Jungkönigin sein, lese ich dann im stets so hilfreichen Internet nach. Eine Dame von Adel also, auf der Suche nach neuen Nistmöglichkeiten. Sie kreist verblüffend laut und mopedmäßig in der sonst noch so stillen Wohnung um meinen Kopf. Dann verharrt sie in der Luft vor meinem rechten Ohr. Unheimlich und bedrohlich in der Wirkung, wie eine russische Drohne über einer NATO-Anlage. Ich lerne aus einem Fachtext über diese Insekten, dass die Wespe im Frühjahr „dunkle Hohlräume“ finden möchte. Sie kreist währenddessen noch einmal um meinen Kopf und sucht wohl den Eingang.

Ich sage es ja, kein Tag ohne Demütigung.

***

Das ruhige Wochenende, die Notizen waren gar nicht komplett abgearbeitet, habe ich ansonsten genutzt und den Nossack durchgelesen: „Spätestens im November.“ Das Ende sehr gemocht, das Buch überhaupt gemocht.

Jetzt lese ich „Gentleman über Bord“ von Herbert Clyde Lewis, deutsch von Klaus Bonn, mit einem vorweg gelesenen und bereits für gut befundenen Nachwort von Jochen Schimmang. Hier die Perlentaucherseite dazu. Nach den ersten Seiten nehme ich erfreut an, dass dieses Buch noch besser ist, als ich ohnehin schon dachte, nachdem ich einige Rezensionen gelesen und die Grundidee der Geschichte verstanden hatte. Fein, fein.

***

Aber apropos ruhiges Wochenende, nachdem ich gestern erst über die stillen Freuden einer halbwegs leeren Wohnung schrieb, meldeten sich am nächsten Tag prompt beide Söhne krank und also bereit zum Belagerungszustand. Es ist und bleibt so eine Sache mit den seltsam wirkmächtigen Beschwörungen in diesem Blog.

***

Die Setenansicht eines merkwürduig schmal wirkenden Altbaus in St. Georg vor blauem Himmel.

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Fast nichts und Übles

Frau Herzbruch schrieb auf, was passiert ist. Nach dem Text braucht man womöglich zwei, drei Minuten zur Besinnung und weiß das nächste normale Pinkeln deutlich mehr zu würdigen. Die besten Wünsche nach drüben!

***

Der Himmel über dem Odenwald.

***

Vanessa reist, schreibt über Pelikan und erkennt Bezüge:  “Die nächsten zwei Tage verbrachten wir in Bilbao. Die Stadt erinnerte mich erheblich an Wuppertal …“

***

Ich habe mir etwas angetan. Etwas Staatsbürgerliches, und zwar habe ich in schon schmerzhafter bürgerlicher Pflichterfüllung zur Kenntnis genommen, was alles in diesem Koalitionsvertrag steht, über den jetzt alle schreiben. Um ihn nicht selbst lesen zu müssen, habe ich allerdings die beiden so bewährten Herren Buermeyer und Banse von der „Lage der Nation“ das Werk analysieren lassen. Die beiden sind bei Texten dieser Kategorie deutlich mehr Kummer gewohnt als ich und können daher vermutlich mehr ab.

Hier ihre Folge mit den Betrachtungen und Folgerungen dazu. Ich bin gerade ausgesprochen nachrichten-avers, mit diesen zwei Stunden (!) habe ich im besten Fall den kompletten News-Dienst für die kommende Woche bereits abgeleistet. Mehr wäre nicht bekömmlich. Alles Weitere wegklicken, nicht einmal ignorieren, das ganze Unheil.

Es hätte, ich möchte das Gehörte auch kurz zusammenfassen, schlimmer kommen können. Aber das heißt nicht, und zwar ausdrücklich nicht, dass es nicht schlimm ist. Selbstverständlich ist es schlimm, ich meine: CDU und SPD, alles gesagt. Was soll man erwarten, also außer: Fast nichts und Übles. Was lustigerweise wie der Name einer deutschen Punk-Band klingt.

***

Die Herzdame war ansonsten in Berlin und erlebte Dinge. Ich blieb willig allein zurück und sang wieder ohne alle feindseligen Gefühle den Klassiker von Dan Reeder zu solchen Situationen: I don’t always miss you when you’re gone.


Für jede Lebenslage hat er einen Text, der gute Mann.

Die Söhne hingen währenddessen apathisch in ihren Zimmern herum. Pardon, wollte sagen, die Söhne chillten friedlich, so muss es heute heißen. In der Wohnung war es also ungewohnt und höchst erfreulich ruhig, sogar stundenlang. Ich genoss intensiv die Möglichkeit, a room of one’s own zu haben, was mir hier normalerweise verwehrt ist. Was daran liegt, dass wir damals schlicht den Punkt verpasst haben, rechtzeitig und passend zur wachsenden Familiengröße umzuziehen.

Wir hätten aber, wie wir uns ab und zu wahrheitsgemäß und entlastend aufsagen, schon damals mehr Zeit und Energie in die Wohnungssuche in Hamburg-Mitte stecken müssen, als wir sie in der Elternrolle jemals zur Verfügung hatten. Aus dieser Periode damals stammt auch mein Scherz, dass es bald die ersten Paare geben müsste, die sich nur deshalb nicht trennen, weil einfach niemand mehr ausziehen und dann woanders hinziehen kann.

Mittlerweile haben wir den ersten Fall so einer Konstellation im Bekanntenkreis. Humoristische Prophezeiungen werden gerne von der Geschichte kassiert.

Wir dachten jedenfalls irgendwann, ach komm, die paar Jahre bis zum Auszug der Kinder, die können wir doch mit ein wenig Enge und Improvisation auch in dieser Wohnung durchhalten. Und dabei noch Unmengen Geld sparen, das wir nicht für den Umzug und die höhere Miete ausgeben. Es stellt sich aber allmählich in unangenehmer Deutlichkeit heraus, dass die Enge sich doch etwas zieht. Was als Bild ein wenig seltsam anmutet, zugegeben.

Und dieses immerhin gesparte Geld müssen wir, aber damit konnte man damals nicht rechnen, nun für Paprika und Gurken ausgeben, die sich preislich gerade in ungeahnte Feinkostdimensionen entwickeln. Von Schokolade zu schweigen.

Im Radio sagten sie gestern, dass die Inflation sinke. Und dass sie „nur“ bei Lebensmitteln noch steige, das sagten sie auch. Für dieses „nur“ möchte ich, so zivilisiert ich mich sonst auch gebe, gerne jemanden hauen.

Aber egal. Weitermachen.

***

Ein Steg mit Segelbooten auf der St-Georg-Seite der Außenalster

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

If this isn’t nice

Ich habe eine Sendung zu einem Thema gehört, mit dem man sich beschäftigen könnte, aber immerhin nicht beschäftigen muss: Digital After Life – Verändert KI unsere Trauerkultur?

Vorerst bin ich da kopfschüttelnd verblieben: Nein, das nicht auch noch. Neulich erst haben die Herzdame und ich unser Testament gemacht, also auf die altmodische Art, ohne jeden digitalen Aspekt. Jetzt muss es eine Weile reichen mit dem Vorausdenken.

Auf arte, fällt mir gerade auf, gibt es zum gleichen Thema einen Film-Essay: „Vom Ende der Endlichkeit.“ Ich habe ihn aber noch nicht gesehen.

***

Andererseits dann wieder das Zurückdenken. Beim Deutschlandfunk gibt es eine Reihe über das Verhältnis unserer Nachbarländer zu Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Bisher erschienen sind Polen, die Niederlanden und Dänemark. Fand ich gut und lehrreich.

***

Es passiert mir eher selten, dass ich morgens laut lachend vor irgendeinem Clip sitze, der mir im Internet angespült wurde, aber als Kurt Vonnegut das Storytelling erklärte, war es doch so. Das war auf Instagram in einer radikal gekappten Kurzversion, also habe ich nach dem längeren Original gesucht, und tatsächlich gibt es das auf Youtube. Mit spanischen Untertiteln, warum auch nicht, por qué no?


“If this isn’t nice, I don’t know what is.”

Und eben deswegen hat die Blogosphäre unseres Sprachraums in ihrer kollektiven Talmi-Weisheit vor einigen Jahren die Rubrik „Was schön war“ erfunden. Denkt man da als Blogger, und vielleicht denkt man es auch als blogkonsumierender Mensch.

Das könnte ich auch einmal wiederbeleben, dieses Format, fällt mir dann mit einer Deutlichkeit ein, als wenn es um etwas Dringendes gehen würde. Dieses Format, das immer irgendwo weiterlebt und auch sorgsam gepflegt wird, etwa hier gerade im geschätzten Landlebenblog, gucken Sie dort.

In dem eingebetteten Filmchen drüben sehen wir eine Olympia-Schreibmaschine, bei der ich fast sicher bin, dass ich genau die einmal hatte. In der gymnasialen Oberstufe damals, in der Abiturzeit etwa. Als ich nachmittags noch Hemingway las und abends dann ein in die Maschine gespanntes, dummerweise aber leer bleibendes Blatt anstarrte. Wie es sich für junge Männer damals noch gehörte und vollkommen üblich war. In gewissen Kreisen jedenfalls, zu denen man sich selbst einfach zählte, und zwar so, als seien diese Gedanken schon eine vollkommen gültige Zuordnung gewesen.

Wir hatten ja nichts! Und dazu wiederum könnte man jetzt in milder Ironie ein Lied der Knef leise singen: „Aber schön war es doch, aber schön war es doch, und ich möcht‘ es noch einmal erleben.“

Es würde aber in meinem Fall aber nicht stimmen. Auf keinen Fall würde ich irgendetwas aus dieser Zeit noch einmal erleben wollen, Gott bewahre. Weil es nicht schön war.

Aber ich wollte heute eigentlich eine in die andere Richtung abbiegende Kurve nehmen. Na, vielleicht morgen. Ich behalte es im Sinn.

Kreideschrift auf dem Pflaster eines Gehwegs: "Zuletzt lachen"

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Der Weg zurück

Gehört: Ein Kalenderblatt zum deutschen Griff nach Prag 1939 (5 Min.). Sie ist schon ein paar Tage älter, diese Sendung, aber tagesaktuell muss man diesen Bildungshappen eh nicht hören, und das Greifen nach anderen Ländern ist dummerweise gerade wieder en vogue, siehe Nachrichtenlage. Da passen geschichtliche Rückblicke leider gut ins Programm.

In der ARD-Audiothek findet man außerdem den Essay „Der Hass“ von Heinrich Mann aus dem Jahr 1933. Ebenfalls empfehlenswert und nur 13 Minuten lang.

***

Außerdem gehört, thematisch stark kontrastierend, ein Zeitzeichen über den Dandy schlechthin, George Beau Brummell.

***

Nach dem Besuch des neuen Riesendings am Hafen, siehe gestern, machte ich, was der künftige Durchschnittstourist vermutlich eher nicht machen wird und was eben das Problem ist, ich ging also zu Fuß zurück in die nun alte Innenstadt. Wenn Sie Hamburg nicht kennen, das ist ein Weg, der durch eine Autoschneise recht brutal zerschnitten wird. Und an der Überwindung dieser Schneise wird gerade eher nicht gearbeitet.

Also geistig vielleicht schon, das mag sein. Mit Schaufel oder Bagger jedoch nicht. Für den Moment gilt daher, dass es kein Weg ist, der einen zieht und lockt und verführt, der einem irgendwie naheliegend vorkommen würde oder auch nur touristisch gefällig.

Man kommt aber immerhin an der Speicherstadt vorbei, und das ist nicht ohne geschichtliche Pointe. Denn man kommt dann gerade aus diesen so riesig anmutenden Neubauten in der Hafencity. Die, aber ich bin da natürlich Laie, wohl überall auf der Welt stehen könnten. Am Flughafen von Dubai, in der Mitte von Buenos Aires, am Potsdamer Platz oder auch in einem großen Vorort von Paris. An einigen Stellen sind sie etwas originell, diese Bauten. Ein paar Winkel und Ecken sind anders als bei anderen, aber unterm Strich sind sie doch: Neubauten der Zeit. Man geht hinein und hindurch und könnte dabei überall auf der Welt sein, solange man dabei nur im Millionenstadtkontext bleibt. Man geht durch die Shops und Restaurants der globalisierten Welt, man könnte in diesem Moment Reisender, Expat, Heimatloser oder Nachbar sein.

Für eine Hamburger Verortung muss man bis auf Weiteres erst die Elbe vor der Tür zur Kenntnis nehmen. In einem Influencer-Video gestern sagte einer, der da durch die Tür in Richtung Fluss ging: „Ey, man kann hier sogar rausgehen!“ Ja, stark.

Und klar, man kann das mögen oder nicht, diese moderne Architektur. Manchen Blickwinkel mag sogar ich, und ich gehe sicher erheblich nach, was die Baukunst angeht.

Auf dem Weg ins Traditionszentrum von Hamburg kommt man dann aber an der Speicherstadt vorbei. Ich nehme an, ich kann meine Empfindungen da etwas verallgemeinern, denn es geht einem unwillkürlich ein wenig das Herz auf, wenn man diese berühmten alten Ziegelmauern sieht, die zu den Insignien der Stadt gehören. Die für uns von hier also Heimat im rührseligen Sinne sind. Die uns echt und hanseatisch verwurzelt vorkommen, die einen lokalpatriotischen Nostalgieflash auslösen können und auch längst sollen. Außerdem Weltkulturerbe, was will man mehr, da weiß man eben, was man hat.

Die Fassaden der Speicherstadt im Licht des frühen Abends

Aber. Diese Speicherstadt, das kann man sich dann ruhig wieder bewusst machen, war damals das Ergebnis von harter Vertreibung der dort vorher wohnenden Menschen, die man heute als sozial benachteiligt bezeichnen würde (vertrieben wurden sie unter anderem ins auch damals schon lieblos und schnell hochgezogene Hammerbrook). Nachdem man die Speicherstadt dann dort errichtet hatte, wo diese anderen früher gewohnt hatten, wie wirkte sie da wohl? In ihren damals ungeheuren Ausmaßen? Übertrieben, riesig, wenn nicht gigantomanisch. Fremd, neu, zweckbaulich, kalt und abweisend. Man kann da recht sicher sein.

Denn so geht es zu in der Geschichte. Das meiste ist Deutung, wenig ist bloße Tatsache. Und die Urteile, die wir fällen, sie sind aus historischer Perspektive oft nur vorläufig, erstinstanzlich und ausdrücklich revisionsfähig.

Kurz nach der Speicherstadt dann jedenfalls die erwähnte Autoschneise, die den Hafen so gründlich von der Stadt abrennt. Wenn man die sieht und an ihr auf eine überlebbare Chance zur Querung wartet wie ein zögerndes Reh am Waldrand, fragt man sich heute vielleicht, ob die Stadtplanenden der Nachkriegszeit noch alle Latten am Zaun hatten.

Und weiß dabei, dass die Damen und Herren aus den Fünfzigern und Sechzigern des letzten Jahrhunderts höchst überrascht über diese Wertung gewesen wären. Es ist kompliziert.

Aber man kann singen, neben all den Gedanken, man kann das deutsche Liedgut pflegen, wenn man schon bei geschichtlichen Aspekten ist:

„Spät nachts kam ich nach Hause

und roch immer noch den Wind vom Nordatlantik,

ganze zehn Minuten Hamburg, aber schön war es doch.“

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

A tale of two cities

Ich war kurz in diesem neuen Möbelhaus, nein, pardon, Einkaufszentrum am Hafen. Sie haben eventuell in den Nachrichten etwas von der Eröffnung mitbekommen, es kam wohl auch überregional. Siebenmal so groß wie die Europapassage, die man bei ihrer Eröffnung damals auch riesig fand, so stand es irgendwo. Das größte Einkaufszentrum Nordeuropas, das stand auch irgendwo. Ich weiß nicht, ob das so stimmt, wer würde das nachmessen wollen, aber es wird schon passen.

Die tödlichste Baustelle Europas, das war eine andere und auch notwendige Benennung. Sechs Todesfälle in der Bauzeit, das klingt nach Katar. Es ist aber die Wirklichkeit in dieser Stadt.

An fünf der Verstorbenen wird mit einer Plakette gedacht, an einen aber nicht. Diese obskure Merkwürdigkeit habe ich nicht weiter ergründen können. Ich habe es mir nur kurz aus der Perspektive der Familie des sechsten Opfers vorgestellt, danach ist man dann aber auch schon wieder bedient.

Die Medien der Stadt berichten immerhin nicht nur banal jubelnd, die diversen Kritikpunkte kommen fast überall zur Sprache. Die Bedingungen auf der Baustelle, die städtebauliche Fragwürdigkeit, der Größenwahn etc. Da kann ich die Medien also auch einmal loben. Das erleben sie mittlerweile nicht mehr so oft, und ich kenne das.

In den sozialen Medien sehe ich mehrere Verlautbarungen, dass man da aber ganz sicher nicht hingehen werde! In dieses neue Ding da am Hafen, weil … und dann folgen die Kritikpunkte in wechselnden Reihungen bis hin zur Tatsache, dass da bald Kreuzfahrtschiffe vor der Tür anlegen werden. Was andere aber wiederum gut finden, weil die Kreuzfahrttouristen dann praktischerweise in einem eng definierten Refugium bleiben und uns in dirty old town nicht im Weg herumstehen.

Man kann es alles so oder so sehen, und man kann das dann auch schreiben, wird dabei aber nach wie vor gerne und auch erstaunlich schnell beleidigend. Aus allen Richtungen.

Ich gehöre nicht zu denen, die da nicht hingehen, ich sehe mir das natürlich an. Der Neubau wird, wie man ihn auch finden mag, einen markanten Einfluss auf die Entwicklung oder den Niedergang der benachbarten Hamburger Innenstadt haben, und da fühle ich mich als anwohnender Blogger zuständig.

Ich gehe da also hin, einmal um alles herum und auch einmal durch. Ich sehe die Läden, die man bei so etwas erwartet. H&M, Zara, Mango und dergleichen, die Auswahl kommt mir nicht eben originell vor. Ein Kino, das auch wieder in irgendeinem Sinne das größte ist, von Hamburg oder von noch mehr, ich weiß es nicht genau. Drei Hotels, dazu noch etliche Restaurants.

Ich bin da eher nicht Zielgruppe für das Angebot, aber das würde ich mir nicht als Argument dagegen durchgehen lassen. Es ist jedenfalls, und ich bin wirklich ein wenig verblüfft, alles noch größer, als man es sich ohnehin nach den Medienberichten vorstellt. Es ist vollkommen unsinnig groß, es ist bekloppt groß.

Die Innenstadt einer kleineren Stadt würde da als bauliches Konzentrat locker hineinpassen. Die Fußgängerzone von Minden etwa, die kenne ich etwas besser, die könnte man da sicher unterbringen. Es ist also eine Art Stadtzentrum. Direkt neben dem Stadtzentrum.

Es ist der Tag der Eröffnung und ich nehme auch die Parallelwelt neben meiner pflichtgemäß zur Kenntnis. Die sich hier darin ausdrückt, dass da Menschen – und nicht eben wenige – herum- und hindurchlaufen, die sichtlich begeistert sind. Die alles großartig finden, die gewiss wiederkommen, die voller Freude sind. Hey, noch ein H&M, wie toll ist das denn.

Ich verstehe diese Menschen nicht, sie verstehen mich sicher auch nicht, und vermutlich macht es nichts.

Ich gucke mir das also alles an. Und ich verbleibe vorerst mit zwei Gedanken. Zum einen kann ich mir bei aller Fantasie ernsthaft nicht vorstellen, dass die städtebauliche Entscheidung für dieses Einkaufszentrum in Rekorddimensionen auf eine verständige, objektiv rationale, fachlich korrekte und dem Gesamtkonzept der Hamburger Stadt gegenüber wohlwollende Art getroffen worden ist. Ich halte das für ausgeschlossen. Ich würde einen hohen Betrag dagegen wetten und bin für meine Verhältnisse recht sicher, da richtig zu liegen.

Die Ruine des Elbtowers hat man beim Rundgang übrigens ab und zu im Blick, aber das sei nur am Rande und wie von ungefähr erwähnt.

Blick vom Miamiplatz in Richtung Elbtower-Ruine

Zum anderen kann ich mir nicht vorstellen, dass diese auf welche Art auch immer aufgestellte städtebauliche Gleichung am Ende aufgeht und sowohl das Riesending am Hafen als auch die nun alte Innenstadt ohne nennenswerten Schaden durch die nächsten, na, sagen wir zehn Jahre kommen.

Da kann ich selbstverständlich falsch liegen, und es wäre sogar für alle erstrebenswert. Aber wie auch immer. Ich sehe mir das alles weiterhin an und werde dann vermutlich berichten, was sich entwickelt.

Schrieb er, während in der Mönckebergstraße in einem weiteren großen Geschäft gerade die Schilder mit dem finalen Ausverkauf hängen: Räumung, alles muss raus.

And so it begins.

Eine Ecke des Westfield-Zentrums mit den Straßennamen in gold: Miamiplatz und New-Orleans-Straße

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.