Dass niemand ihm irgendeine Gunst erweise

Frau Klugscheißer greift ein Thema auf und schreibt hier über das Nichtstun: „Langeweile finde ich immer noch nicht besonders schön. Meine Therapeutin meinte dazu trocken, das sei besser als garnix spüren, und da muss ich ihr schon recht geben.

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Mit Interesse habe ich diese arte-Doku (YouTube-Link) über Erik Satie gesehen. Obwohl und auch weil die klassische Musik bei mir nach wie vor Bildungsbrachland ist. Besonders mochte ich die Stelle, bei der uns ein Pianist berichtet, dass ihm beim Spielen der monströs langen Vexations (Wikipedialink) etwas Seltsames passierte und etwa bei der 700. Wiederholung der immer gleichen Tonfolge sein ganzes Leben an ihm vorbeizog.

Ich nehme stark an, auch Satie hätte darüber gelacht. Also zumindest mit etwas Abstand von der Zeit der Komposition, in der er Liebeskummer hatte. Der eine oder die andere aus der heutigen Zeit wird den Effekt vielleicht auch schon vor anderen Tasten, nämlich bei repetitiver Büroarbeit, erlebt haben. Vielleicht demnächst auch mal Satie im Home-Office hören, das mal vormerken.

Aber auch beim Einkauf war er mir gestern dann im Nachklapp zu der Sendung schon sehr angenehm.

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Gesehen habe ich außerdem Walther Zieglers Vortrag über Platon (YouTube-Link). Das mit dem Höhlengleichnis kenne ich allmählich, wie man so sagt, bis zum Erbrechen. Was allerdings nicht heißt, dass man nicht dennoch und heute besonders, was aber wohl zu allen Zeiten jemand gedacht haben wird, erneut darüber nachdenken könnte.

Gegen Ende war es für mich aber spannender, als es um die Kritik an der Demokratie, um die Staatsform und um die „Philosophenkönige“ ging.

Um Philosophenköniginnen, wie man von heute aus sicher ergänzen möchte.


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Und apropos Platon, also Philosophie. Ich kam neulich auf Spinoza, bekomme aber nicht mehr zusammen, warum eigentlich. Sagen wir, er wartete in irgendeinem Kaninchenloch. Da lungern bekanntlich zu allen Zeiten alle möglichen Gestalten herum.

Im weitesten Sinne stand es vermutlich mit Gedanken im Zusammenhang, die auch bei Felix im Blog vorkamen, wie vor ein paar Tagen bereits verlinkt. Es ist aber auch egal.

Ich habe jedenfalls dann einiges zu Spinoza nachgelesen und meine klaffenden Wissenslücken zumindest notdürftig geschlossen. Also in der Form, dass ich jetzt immerhin zwei, drei Sätze und Schlagwörter korrekt mit ihm in Verbindung bringen kann, ich habe mich quasi aufmunitioniert für einen Spinoza-Smalltalk. Zu dem es in diesem Leben zwar noch niemals kam, aber egal. Besser, man ist vorbereitet.

Dann sah ich auf YouTube noch ein paar Filmchen über ihn, über seine Thesen und Annahmen.  Was man so macht, wenn man Zeit und keine lästigen Pläne hat.

Es geht mir für diesen Text aber gar nicht um Philosophie, sondern nur darum, dass Baruch Spinoza wegen seiner ketzerisch anmutenden Erkenntnisse damals (1656 war es) aus seiner religiösen Gemeinschaft, also aus der jüdischen Gemeinde, geworfen wurde. Da wurde es nämlich sprachlich interessant. In der Wikipedia wird der Bannfluch zitiert, mit dem er feierlich belegt wurde, und der Fluch hat, wenn man sich vielleicht auch für Lyrik, alte Sprache und dergleichen interessiert, durchaus etwas. Also etwas Unheimliches, versteht sich, aber man liest es vielleicht auch mit Respekt vor den Formulierungen.

„Nach dem Beschlusse der Engel und dem Urteil der Heilgen bannen, verwünschen, verfluchen und verstoßen wir Baruch de Espinoza, mit Zustimmung des heiligen Gottes, gepriesen sei Er, und dieser ganzen heiligen Gemeinde […], mit dem Bannfluche, womit Josua Jericho fluchte, mit dem Bannfluche, mit dem Elisa den Knaben fluchte, und mit all den Verwünschungen, die im Gesetz geschrieben stehen. Verflucht sei er am Tage und verflucht sei er bei der Nacht; verflucht sei er, wenn er sich niederlegt, und verflucht sei er, wenn er aufsteht, verflucht sei er bei seinem Ausgang und verflucht sei er bei seinem Eingang.

Möge Gott ihm niemals verzeihen, möge der Zorn und Grimm Gottes gegen den Menschen entbrennen […] und seinen Namen unter dem Himmel austilgen, und möge Gott ihn zu seinem Unheil ausscheiden von allen Stämmen Israels […] Wir verordnen, daß niemand mit ihm mündlich oder schriftlich verkehre, niemand ihm irgendeine Gunst erweise, niemand mit ihm unter einem Dach verweile, niemand auf vier Ellen in seine Nähe komme, niemand eine von Ihm verfaßte oder geschriebene Schrift lese.“

Beeindruckend. Würden einem wohl Menschen einfallen, die man mit einem ähnlichen Bann verfluchen möchte? Aber hallo. Und seien sie im fernen Amerika.

Ebenso betörend ist dann allerdings später die Formulierung einer Rede, in der es 1927 um die Aufhebung des Bannes ging, zu der es dann aber nicht kam. Etwa jene Stelle: „Unser Bruder bist du, unser Bruder bist du, unser Bruder bist du.“

Groß im Verstoßen, groß im Verzeihen. Manchmal ist eine gewisse Dosis „Drama, Baby, Drama“ doch recht attraktiv. Zumindest sprachlich.

Ansonsten fand ich: Spinoza kann man ruhig einmal nachlesen. Und sei es nur, um zur Kenntnis zu nehmen, wie frei Menschen zu allen Zeiten denken konnten.  Einige zumindest.

Schrift mit Edding auf einem Pfeiler: "Miltant Hippie"

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Von damals und von dieser Zeit

Und nun ist es so, dass der Sommerurlaub in Kürze endet. Es ist auch so, dass ich bereits Pflaumen gegessen hab. Und dass die Küche außerdem voller Wespen ist, wenn ich koche. Ferner ist es so, dass der Holunder vor der Haustür, wie erwähnt, schon schwarze, reife Früchte zeigt. Sogar lilafarbene Astern habe ich bereits gekauft und auf dem Rückweg zur Wohnung die entsprechenden Zeilen von Gottfried Benn pflichtgemäß vor mich hingemurmelt. Was man als Möchtegernbildungsbürger so macht. Zuhause habe ich dann aber in angemessener Selbstkritik nachgesehen, wie richtig ich da beim Rezitieren eigentlich gelegen habe. Um auch da Benn zu zitieren, wenn auch aus einem anderen Gedicht: „Teils-teils.“

Es ist, mit anderen Worten und Temperaturen hin oder her, dann doch recht eindeutig Frühherbst. Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, kippt der Rest des Jahres nach dem Sommerurlaub stets verblüffend schnell weg. Wie ich früher einmal schrieb, ist es meist rutschbahnmäßig, wie man sich da auf einmal in seltsamer Beschleunigung auf das ganze Jahresendgeraffel zubewegt. Mit Weihnachtszeit und allem.

Was ich hier aber nicht erwähne, um Angst und Schrecken zu verbreiten, sondern nur mit dem Gedanken, dass die Reihe der Geschenktipps, die ich neulich fast aus Versehen begonnen habe, nun ruhig fortgesetzt werden kann. Wenn ich doch schon dabei bin! Ich werde Ihnen daher bei Büchern, die mir gefallen haben, einige Hinweise zur Geschenkzielgruppe machen. Wie klein die manchmal auch sein mag. Vielleicht ist dann irgendwann auch für Ihre Suche eine kleine Erleichterung dabei.

In diesem Sinne: Ich hörte ein Buch vom geschätzten Uwe Timm. Und zwar seine Erinnerungen an die Jugend- und Ausbildungszeit, in der er gemäß Familientradition das Handwerk der Kürschnerei erlernte. Bevor er sich dann in einer kühnen Lebenslaufkurve ganz dem Schreiben zuwandte: „Alle meine Geister“ heißt das Buch. Hier der Verlagslink und hier die Perlentaucherseite, auf der es einhellig positiv zugeht.

Bevor man sich über die Kürschnerei aufregt, muss man fairerweise bedenken, dass die Aspekte, die wir heute berechtigt kritisch damit verbinden, in der beschriebenen Zeit weder als Gedanke noch als sozialer Druck vorkamen. Wie sie dann langsam aufkamen und die Branche in der Folge nahezu auslöschten, das wird nachvollziehbar und ausführlich behandelt.

Uwe Timm habe ich auf Lesungen erlebt, und es fällt sowohl dabei als auch bei der Lektüre seiner Bücher seine doppelte Liebe zu Begriffen und zu Begreifbarem auf. Vor allem seine Neigung zu Dingen mit Geschichte und Würde. Er ist also bestens geeignet, über alte Handwerkskunst zu schreiben und dabei die Fachbegriffe aus der Vergangenheit noch einmal zu verwenden, die wir sicher bald verlieren werden. Ob es nun ein Verlust ist oder nicht, erst einmal ist es eine Tatsache.

Das Buch ist also bestens geeignet für Menschen mit Interesse an (altem) Handwerk. Besonders an den Handwerksvarianten mit angeschlossenem Laden, denn ein wenig Geschichte des Einzelhandels ist auch ableitbar. Natürlich passt es aber auch für Menschen mit Interesse am Schreiben und an deutscher, neuerer Literaturgeschichte. Wenn jemand sogar beide Neigungen in sich vereint – Bingo.

Drittens ist es wunderbar für Menschen, besonders für solche im besten Boomer-Alter, die sich für die Geschichte der Linken in der BRD nach 1945 interessieren, denn auch dieses Thema wird reichlich bedient. Uwe Timm, das wissen Sie vielleicht nicht, war ein Freund von Benno Ohnesorg. Er hat auch darüber ein Buch geschrieben, das hier noch vorgemerkt ist: „Der Freund und der Fremde“.

Ich habe zufällig zwischendurch einen Podcast mit Wim Wenders gehört, dazu schreibe ich separat noch einmal, und Wim Wenders war in seiner Ausbildungszeit ein Nachbar von Fritz Teufel. Was gerade in dieser Kombination erneut meinen Eindruck verstärkte, dass die namhaften und geschichtlich relevanten westdeutschen Linken, und darunter vor allem jene, welche eher Linksaußen gespielt haben, von allen persönlich gekannt wurden, die einem sonst irgendwie im Kontext dieses Themas einfallen können. Als habe diese ganze Geschichte nicht in einem Staat von halbwegs respektabler Größe, sondern in einem kleinen gallischen Dorf stattgefunden, in dem sich mit großer Selbstverständlichkeit alle kannten, dauernd trafen und immer wieder interagierten.

Ein Aufkleber auf einem Mülleimer: Kapitalismus ist kein Naturgesetz

Was mir übrigens zum ersten Mal damals in meiner Antiquariatszeit kurz nach dem Abitur aufgefallen ist. Als die gestandenen Altlinken, die im Laden nicht so selten waren (und womit ich dann also auch in den Rahmen passe), anfingen zu erzählen. Von damals und von dieser Zeit erzählten sie, und sie landeten dabei immer irgendwann bei der Meinhof und den anderen, mit denen sie in oder noch kurz vor der wilden Phase …

So klar erwartbar waren diese Zusammenhänge, dass es mir gelegentlich wie inszenierte Satire vorkam.

Aus dem Buch von Uwe Timm kann ich gleich noch eine zweite Empfehlung ableiten, die hier vor Jahren schon einmal vorkam. Nämlich Brehms Tierleben als Hörbuch, gelesen von Thomas Holtzmann oder Roger Willemsen oder anderen. Man findet da auch interessante Ausschnitte auf YouTube und kann sich verleiten lassen. „Wissenschaftsdeutsch, am bürgerlichen Realismus geschult“, so beschreibt es Uwe Timm. Recht hat er damit, es ist ein erstaunlich beruhigendes Werk mit reicher, wunderbarer Sprache.

Man kann es hervorragend hören oder lesen, um am Abend herunterzukommen, wie man so sagt. Und wer hätte daran keinen Bedarf.

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Bitte beachten Sie die Sicherheitshinweise

Apropos Urlaub: Im Zusammenhang mit Buchungen gibt oder gab es gerade Sicherheitsprobleme, zu denen ich seltsam wenig Berichte sehe. Aber hier hat es jemand verbloggt und hier war schon im Juni davon die Rede.

Die Herzdame, die im Gegensatz zu mir doch gerade ein wenig umtriebig herumreist, war da betroffen. Da Dienste dieser Art sicher auch von Leserinnen hier genutzt werden, habe ich sie gebeten, mir Notizen darüber zuzuwerfen. Was sie auch tat, ich machte daraus einen kurzen Bericht mit ganzen Sätzen wie folgt. Es ist also eine Art Koproduktion:

„Ich habe vor einem Monat ein Hotelzimmer bei „Numa“ in Berlin gebucht. Das läuft alles komplett digital über die App der verbundenen Buchungsplattform, zusätzlich gibt es noch E-Mails und WhatsApps über Numa direkt. Über diese Kanäle kommen auch der Check-in-Link und der digitale Türcode. Die Kommunikation läuft also über drei Kanäle, kapiert habe ich schon das nicht so richtig. Als Zahlungsmethode hatte ich Paypal angegeben. Kostenlose Stornierung war noch längere Zeit möglich.

Kurz vor der Reise bekam ich eine Benachrichtigungsmail von Numa über das Plattformsystem, dass ich jetzt einchecken könne und für einen reibungslosen Ablauf bitte meine ID verifizieren solle. Hier waren auch folgende Buchungsdetails hinterlegt: Vor- und Nachname, Buchungsnummer, Buchungszeitraum, Zimmerkategorie, Anzahl Gäste.

Zwei Minuten später bekam ich eine weitere Benachrichtigungsmail, auf den ersten Blick über den gleichen Weg: „DRINGEND: Es ist Zeit für den Online-Check-in.“ Ansonsten ein sehr ähnlicher Text und die echten Kontaktdaten von Numa. Alles war allerdings deutlich schöner und professioneller gestaltet als die Textwüste in den Benachrichtigungsmails der Plattform.

Vor allem aber waren sämtliche Buchungsdetails auch in dieser zweiten und gefälschten Mail korrekt angegeben. Selbst der Check-in-Link sah echt aus, exakt wie in der anderen Mail. Da ich nirgendwo geklickt habe, weiß ich nicht, an welcher Stelle man auf eine Fake-Seite weitergeleitet werden würde. Einzig die Absenderadresse war verdächtig, mit einigen weiteren Zeichen vor dem Domain-Namen. Das habe ich aber erst später nachgeschaut.

Da ich per se allergisch auf Sätze mit „DRINGEND“ reagiere [kann ich bestätigen. MB] und dann noch diese beiden Mails direkt hintereinander bei mir ankamen und ich auch theoretisch noch rund eine Woche Zeit zum Stornieren hatte, habe ich das erstmal ignoriert.

Zwei Stunden später bekam ich dann über WhatsApp schon die nächste Nachricht, dieses Mal aber auf Englisch, ohne deutsche Übersetzung (was mich auch schon wieder bockig gemacht hat, denn wäre ich z. B. meine Mutter, ich könnte gar kein Englisch). Beim Security-Checks sei festgestellt worden, dass meine „Card Details“ nicht verifiziert werden konnten, sogar mit Screenshot der Buchungsplattform als Beleg. Dazu Hinweise auf „new policy to improve booking security“ … und dann die Aufforderung, die Karte jetzt über den angegebenen Link zu verifizieren. Da muss man auch erstmal genau hinschauen.

Dies kam mit den beiden Antwortoptionen, ob man die Reservierung aufrechterhalten oder canceln möchte. Das hat mich doch etwas irritiert, weil es auf der einen Seite klar nach Spam aussah, u.a. anderem gab es da eine Nummer mit indischer Vorwahl. Das könnte aber auch ein Callcenter sein, was ja nicht mehr unüblich ist. Auf der anderen Seite waren aber auch hier wieder sämtliche korrekten Buchungsdetails und meine persönlichen Angaben enthalten. Kurz nach den beiden E-Mails, von denen nur eine echt war. Das war alles sehr gut gemacht und ich wäre fast darauf reingefallen.

Ich habe Numa via Plattform angeschrieben und nachgefragt. Parallel dazu bekam ich kurz hintereinander zwei weitere Benachrichtigungsmails (eine echte und eine immerhin gutgemachte, aber doch zweifelhafte Version) mit dem Hinweis auf Sicherheitsprobleme und der Erklärung, dass einige Gäste Phishingmails bekommen hätten.

Einen Tag später gab es von einem anderen WhatsApp-Account eine neue Nachricht, wieder auf Englisch, dass ich jetzt wirklich schnell meine Daten verifizieren müsse, weil sonst meine Reservierung storniert werden würde. Und noch einen Tag später schrieben sie wieder, um mitzuteilen, dass es sich dabei um keine Zahlung handeln würde und ich kostenfrei stornieren könne, dass durch die Überprüfung aber sichergestellt sei, dass die Person, die die Reservierung vornimmt, der rechtmäßige Karteninhaber sei.

Gestern hat sich das Hotel dann direkt auf meine Anfrage gemeldet und mitgeteilt, dass es gerade Sicherheitsprobleme gibt.“

Soweit die Herzdame. Und ich denke, das war jetzt eine Premiere für uns. Denn Spammails etc. haben wir vermutlich alle mittlerweile zigtausendmal erlebt, aber Phishing-Mails mit abgegriffenen und auch noch brandneuen Original-Daten von einem größeren Anbieter, das hatten wir bisher noch nicht.

Es scheint mir auch ein weiteres Beispiel für die Enshittification von allem zu sein. Also ein Prozess, den man bis in den Abgrund modernisiert hat.

Na, man lernt nicht aus. Freiwillig oder unfreiwillig.

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Auch mal in alles passen und richtig sein

Kid37 schreibt über unheimlichen, wespenartigen Besuch, der dann doch etwas Besonderes ist und der auch noch töpfern kann. Was es alles gibt!

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Am Vormittag sitze ich in einem Wartezimmer herum und tue das, was der Name des Raumes in angenehmer Deutlichkeit vorgibt. Hier wurde gerade alles renoviert. Neue Möbel, neue Farbe an den Wänden, es sieht alles noch etwas nach Prospekt aus und riecht auch noch so. Nach Werbebroschüren für gepflegtes Wartezonendekor sieht es aus, so macht man das jetzt, in diesem Style lässt man zeitgemäß warten.

Cremeweiß überwiegt. Oder ist das Chamois, ist es Elfenbein, eine teuer anmutende Variante von Beige vielleicht, irgendwie im Ton auf jeden Fall an Sand erinnernd und hier und da belebt durch einige wenige dunklere, wärmere Elemente. Kamel, Reh und Fuchs. Dazwischen nur ein Hauch von Chrom, die Beine der Sitzmöbel, mattglänzend.

Kreideschrift auf dem Pflaster: Fucking ChiChi

Außer mir sitzt nur noch ein weiterer Mann in diesem Raum und nach einer Weile fällt es mir auf – wir passen beide farblich geradezu lächerlich gut in dieses Ambiente. Jedes Kleidungsstück haben wir im begrenzten Spektrum dieser Töne gewählt, die sicher beruhigend auf die Menschen wirken sollen, die dort geparkt werden. Und, auch das fällt mir etwas verzögert auf, wir sind, und da wirkt es dann endgültig so, als habe man uns in dieses Setting hineinretouchiert, gegenläufig im Farbverlauf. Sein Sakko und meine Hose im dunkleren Segment, seine Hose und mein Sakko cremefarben wie die Wände.

Es sieht auch gar nicht aus wie ein Prospekt, denke ich dann weiter, es sieht eher aus wie ein AI-Bild. Ich bin offensichtlich in die Plastikwelt geraten und müsste eigentlich dringend im nächsten Spiegel prüfen, ob meine Falten im Gesicht noch da sind. Ob ich noch so unrasiert bin, so wie ich hier hereingekommen bin. Etwas unangenehm dekogerecht fühle ich mich, und es ist ein überaus seltsames Gefühl. So muss es Models wohl gehen, wenn man sie für ein Event aufgebrezelt hat.

Wer mag das denn gepromptet haben, frage ich mich, und kommen dann erst nach dem Verlassen der Praxis auf etwas, das heute vielleicht naheliegt. Ich hätte nämlich – wenn man schon in einem KI-Bild sitzt! – jemanden bitten sollen, diesen Raum zu fotografieren. In der Komplettansicht mit mir und dem anderen Mann, und ich hätte dann zum Zwecke der Selbsterkenntnis irgendeine AI-Variante bitten sollen: „Beschreibe möglichst genau den Prompt, mit dem dieses Bild erstellt werden kann.“

Und dann hätte die Software vielleicht etwas ausgeworfen wie: „Ein elegant, modern und neugestaltet anmutendes Wartezimmer mit wenigen, sesselartigen Sitzgelegenheiten. Ein junger Mann und ein älterer Schrat in fast ironisch anmutender, zum Mobiliar exakt passender und vermutlich gerade erst erworbener, gepflegt wirkender Kleidung …“

Oder etwas ganz anderes? Na, ein wenig schade ist es schon. Es wäre doch zum Verifizieren der eigenen Schrathaftigkeit wahrhaftig interessant gewesen.

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Holunder, Diamanten und Konzentrationsdefizite

Felix schreibt über Aberglauben und Heldentaten.

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Ich habe das mit der Holunderreife, die ich gestern erwähnt habe, noch einmal nachgelesen. Es scheint so zu sein, dass sich der Beginn dieser Reife in den letzten paar Jahrzehnten in Hamburg um etwa 14 Tage hin zu einem früheren Anfang verschoben hat. Also mehr und mehr in das hinein, was wir vermeintlich zweifelsfrei und im Rahmen unserer in der Kindheit gelernten Assoziationsmöglichkeiten noch als Hochsommer definieren würden. Fünf Tage pro Dekade nach vorne, diese Angabe fand ich, und es geht sicher noch weiter so.

Aber es wird, versteht sich, regionale Varianten in breiter Vielfalt geben. Ihr beweisführender Holunder ist vielleicht noch nicht so weit oder auch viel weiter als meiner.

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Eine weitere Begebenheit bezüglich der sogenannten Zufälle. Die mir übrigens, aber das führe ich demnächst noch weiter aus, vermutlich auch deswegen vermehrt auffallen, weil ich über sie schreibe und dadurch also in einem gewissen Sinne nennenswert engagierter registriere als andere, die so etwas nicht irgendwie erzählend verwerten. Ich werde mir dadurch sicher einige mehr merken. Und schon habe ich wieder einen Teil der Erklärung meiner gefühlt unsinnigen Zufallsdichte.

Denn Sie haben wahrscheinlich ebenso viele Vorkommnisse im Alltag, die Ihnen drastisch unwahrscheinlich vorkommen, wie ich. Diese Vorkommnisse also, bei denen Sie denken: „Also Wahrscheinlichkeitsrechnung hin oder her, das war jetzt aber echt speziell gerade.“

Ich gehe am Nachmittag um den Block und höre dabei einen Podcast über die Halsbandaffäre in Frankreich, ein WDR-Zeitzeichen, 15 Minuten lang. Hier auch der Wikipedialink zum historischen Kriminalfall, eine interessante Geschichte.

Zwischendurch ärgere ich mich aber, weil ich gedanklich abschweife und deswegen nicht recht verstehe, wer wann wie, mit was oder gegen wen. Und das ist ja bei Krimikonstruktionen meist nicht unwichtig. Ich höre also eine Stelle der Sendung wiederholt an und dann, in einem Anfall von energischem Willen, mich selbst zu mehr Konzentration zu erziehen, auch noch einmal. Denn es kann doch wirklich nicht so schwer sein, korrekt mitzubekommen, wer da nun mit den Diamanten was gemacht hat.

In diesem Moment spricht mich ein Mann höflich an und fragt, ob ich ihm eben helfen könne. Ein Mann, der, wie drückt man es aus, mäßig heruntergekommen ist. Also etwa so, dass man es nicht auf den ersten und flüchtigen Blick bemerkt, doch aber schon beim nächsten Hinsehen nicht mehr ignorieren kann. Die Kleidung ist schadhaft und nicht so sauber, wie man sie etwa in einem Büro erwarten würde. Er riecht auch nicht gut.

„Wissen Sie, wo ich einen Diamanten verkaufen kann?“, fragt mich der Mann. Er habe noch einen, und das wäre jetzt auch dringend, man würde ihn bestehlen wollen.

Ein abgerissener Aufkleber an einem Regenfallrohr, man kann nur noch "ist illegal" lesen

Und ich mache dann schon wieder zwei Sachen gleichzeitig. Ich denke einerseits intensiv über Wahrscheinlichkeiten und die Matrix nach, sage andererseits aber, dass ich auf diesem Gebiet nicht kundig sei. Was auch der Wahrheit entspricht, mein bisheriger Lebenslauf kam noch nicht beim Diamantenverkauf vorbei.

Dann fragt der Mann, was mir viel naheliegender vorkommt, nämlich ob ich wenigstens Kleingeld für ihn hätte. Dann ergänzt er noch betont höflich, als ich verneine, dass er auch Scheine nehmen würde. Ich gehe nach dem kurzen Straßendialog weiter und höre mir die Geschichte bis zum Ende an, aber ich bleibe doch etwas abgelenkt.

Denn das mit dem Zufall, das halte ich zwischendurch immer wieder für ein etwas herausforderndes Konzept.

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Montagslinks

Gehört: Ein wenig Unterricht, wieder aus der Radio-Reihe „Der Rest ist Geschichte“, nämlich: Josef Stalin – er ist wieder da (48 Min.). Über die geschichtliche Figur und den alten und neuen Stalinkult in Russland. In der Sendung spricht auch die geschätzte Irina Scherbakowa, eine der Gründerinnen von Memorial, die ich einmal live erlebt habe und die mich nachhaltig beeindruckt hat.

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Außerdem gehört: „Offline leben – Menschen ohne Internet“, eine Sendung beim WDR, 20 Minuten lang. Dazu habe ich einen besonderen Bezug, weil meine Mutter nicht (mehr) online ist, schon seit etlichen Jahren mittlerweile. Falls Sie das mangels Betroffenheit verständlicherweise nur am Rande interessiert, nehmen Sie bitte nur eine relevante Zahl für den Smalltalk zum Thema mit: 7 Millionen Menschen sind in diesem Land offline. Und das sind nur die, welche komplett offline sind. Dazu kommen sicher mehrere Millionen mit Teileinschränkungen aus tausend Gründen.

Und ich finde, man muss sie mitdenken, wenn es etwa um Behörden- oder Arzttermine, Bahntickets etc. geht. Genau genommen halte ich es für selbstverständlich, sie mitzudenken. Ich bekomme bei meiner Mutter mit, wie sie mehr und mehr eingeschränkt wird, weil so vieles nur noch online geht. Oder nur noch online gut und schnell geht und offline eher ein einziges Desaster ist. Diese Variante spielt auch eine Rolle.

Eine improvisierte Rampe für Rollstuhlfahrerinnen an einer Bordsteinkante mit dem Text "Zugang ist ein Menschenrecht, hier fehlte eine Rampe"

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Gesehen: Diese Doku über Madness und Ska. Man bekommt beim Sehen vielleicht etwas Lust auf eine gewisse Art von treibender Musik, wenn man da mindestens eine Grundaffinität hat. Aber nach wie vor ist es viel zu warm, zumindest in dieser Wohnung, um auch nur im Sitzen sachte herumzuwippen. Ich habe das gründlich für Sie getestet, und es kam mir zu anstrengend vor. Es war fast schon ein Sportgefühl.

Vielleicht also spart man sich diesen Link lieber auf für einen frischen Herbsttag mit den altvertrauten 12 Grad. Der Frühherbst übrigens, er  beginnt im phänologischen Kalender mit der Reife der Holunderbeeren, und wenn ich aus dem Fenster und runter auf den Busch am Spielplatzrand sehe – na also, Bingo. Ein paar wenige Tage früher als im langjährigen Mittel üblich.

Schlecht ist es jedenfalls ohnehin nicht, einige Links auf Vorrat zu haben, wie sich bei mir in diesem Urlaub gerade erneut beweist.

Falls das eingebettete Video nicht geht, hier der Link.


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Was passiert hier eigentlich

Gerade dachte ich, die Chronik, die Chronik, was passiert hier eigentlich. Und dann fiel es mir wieder ein, was gerade das Gute ist, nämlich dass nichts passiert. Insofern befindet er sich halbwegs erfolgreich und stets bemüht urlaubend, der Herr Buddenbohm, und auch das ist nicht nichts.

Im Äußeren zumindest passiert nichts. Ich mache nichts, besuche nichts und niemanden, fahre auch nirgendwohin und beachte keinen Veranstaltungskalender dieser Stadt oder gar Gegend.

Schrift auf dem Pflaster: "Fit für den Ausflug Alter?"

Es war aber ohnehin zu heiß für fast alles in den letzten Tagen. Zuerst war es nur unsinnig warm, dann wurde es brutal warm, schließlich kurz gefühlt gefährlich heiß. Je nach Lage vielleicht auch nicht nur gefühlt. Schon der Blick aus dem Fenster auf die Menschen, die drüben auf der Großbaustelle mit den Presslufthämmern arbeiten und sich in den Beton und durch die alten Bodenstrukturen vergangener Gebäude wühlen. In der Sonne und in der Schutzkleidung, mit dem Helm und allem … meine Güte.

In der Innenstadt liefen am heißesten Tag auffällig viele Menschen mit einem Handtuch um den Hals herum. Mit dem sie alle paar Meter die austretenden Körperflüssigkeiten versuchsweise zurückdrängten, um weiterhin halbwegs wie ein Mensch daherzukommen. Bei den Menschen ohne Handtuch aber, da weiß nun man nicht, wie viele auf den entscheidenden Metern durch die schattenfreien Zonen schlicht bis zur Auflösung zerflossen sind und nun irgendwo schmerzlich vermisst werden. Sommeropfer.

Erstaunlich viel Körperliches bekam ich auch vom Fenster aus mit, an diesen Tagen der Hitze. Nachbarinnen und Nachbarn, die fast und manchmal auch komplett nackt auf Balkone traten oder an Fenstern standen, nach Wolken Ausschau hielten oder auf einen Luftzug hofften. Die Arme erhoben wie bei Turnübungen, in denen man in seltsamer Haltung minutenlang verharrt, weil es so gehört.

Pinkelnde und kackende Menschen in den Gebüschen am Rand des Platzes. Die sich dort Deckung suchten und sorgsam vor der Verrichtung nach allen Seiten umsahen, ob auch niemand guckte. Aber es war dann wie in manchen Religionen, sie wurden die ganze Zeit von oben beobachtet, dachte ich aus meiner ansonsten meist wenig gottgleichen Perspektive. Es gibt, um das noch kurz zu erklären, viel zu wenig öffentliche Toiletten in dieser Stadt. Was allerdings, so lese ich hin und wieder, mittlerweile auf viele und gerade auf große Städte zutrifft.

Aber irgendwo muss der Aperol eben hin, auf dem Rückweg ins Hotel.

Ein Hinweisschild vor Außengastronomie, eine Tafel mit der Aufschrift "Aperol Spritz 8,90"

Dann gab es diesen einen Moment an einem frühen Morgen, als ganz rechts am Platz ein Golden Retriever kackte und ganz links zeitgleich eine junge blonde Frau. Wobei sich beide mit einer seltsam verbunden wirkenden Kopfhaltung prüfend umsahen … Es passiert gar nicht oft, dass ich am Fenster stehe und laut lache.

Ich liege und sitze ansonsten weiterhin herum und beschäftige mich mit Lesen und Schreiben, mit Internetgucken und auch einmal wieder, nach langer Pause, mit dem Sehen von Filmen. Ich finde, das habe ich sehr gut eingerichtet so. Etliche gespeicherte Links, teils noch aus dem Winter, sind zwischenzeitlich allerdings abgelaufen. Die Filme sind nicht mehr verfügbar etc. Ich lösche sie heiteren Sinnes, und so lichtet sich endlich einiges. Aufräumen ist auch digital schön und nicht jeder broken link sparkt noch joy.

Dann doch wieder die Anwandlungen der protestantischen Arbeitsethik, die bekanntlich Stellen im Hirn erreicht, wo Motivation sonst nicht hinkommt. Dann sitze ich also da, klicke harmlos und vergleichsweise entspannt, also für meine Verhältnisse jedenfalls, von Link zu Link, sehe in ein Buch und in einen Film, habe vielleicht auch bereits eingekauft und den Söhnen ausreichend Futter hingestellt, daher einen komplett unverplanten, freien Tag vor mir – da denkt etwas unangenehm laut und befremdlich oberlehrerhaft in mir:

„Mit der Zeit könntest du auch etwas anfangen.“

Ich frage mich selbst sofort launisch, denn man sollte sich stets und nach Möglichkeit mit Humor begegnen, ob ich jetzt vielleicht spontan einen Roman schreiben solle oder was, ob ich ein neues Großprojekt beginnen oder sogar wie normale, also alle anderen Menschen, ein neues Hobby interessant finden solle? Hm? Tai-Chi-Basics in vier Tagen, es gibt sicher Sommer-Workshops?

Und dieses Etwas in mir sagt in einem bemerkenswert humorlosen Tonfall schlicht:

„Ja. In der Tat.“

Und da dann passiv-aggressiv einfach liegenbleiben. Reaktanz auch einmal ausleben. Sich vielleicht sogar erst recht ausstrecken, demonstrativ ein Buch aufschlagen oder einen weiteren Film starten oder schlicht die Augen schließen … das scheint mir die Kunst zu sein. Und ich habe immerhin noch eine Woche Zeit, darin etwas besser zu werden.

„Siehste“, sage ich zu mir selbst, „da hast du dein Projekt. Also bitte, Ruhe jetzt.“

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Ein heiterer Austausch von Halbwissen

Ich habe zu danken. Und es fällt diesmal etwas originell aus und verlangt auch noch Kontext. Dazu muss ich berichten, dass Sohn II und ich gerade einen Lauf haben, wenn es um den Zufall und um unsere Verbindung geht. Das haben wir zwar schon öfter erlebt, auch in erstaunlichem Ausmaß, wundern uns aber doch immer wieder, was da genau passiert. Und wie es passieren kann.

Neulich habe ich etwa, hier war das, einen Blogartikel u. a. über das Knoten von Krawatten geschrieben, mit einem Verweis auf die nur vage angedachte Option, diese Kunstfertigkeit irgendwann meinen Söhnen beizubringen.

Das schrieb ich einfach so runter. Dann las ich es noch einmal Korrektur, speicherte es in der finalen Version ab und klickte dann woanders hin. Irgendwo ins Internet, schon wieder auf zu neuen Themen und Ideen. Als auf einmal Sohn II hereinkam und an den Wohnzimmertisch trat, an dem ich saß und schrieb. Sohn II, der weder zu meinen Stammlesern gehört, noch irgendwie mitbekommen haben kann, an was für einem Text ich da gerade geschrieben habe. Der überhaupt in seiner aktuellen Hauptrolle als ferienverchillender und also dauerversumpfter Teenager kaum als kontaktstark oder auch nur als latent austauschbedürftig beschrieben werden könnte.

Dessen Tür eher dauerhaft und verlässlich verschlossen ist. Weil dahinter, wie es in dem Alter so ist und auch gehört, bei Tag und Nacht wichtige Entwicklungs- und Hirnumbauarbeiten stattfinden.

Aber nun hatte er doch einmal eine Frage. Nämlich eine nach Knoten. Ihm war beim Verknoten eines Müllbeutels aufgefallen, dass er sich nicht ganz sicher war, ob er da eigentlich den Knoten macht, den alle machen. Außerdem fragte er sich, woher er Knoten überhaupt kennt. Von mir? Und kann ich noch andere? Er hat dann nicht sofort verstanden, wieso ich ihn so entgeistert angesehen habe. Ich staunte jedenfalls etwas, wie sie sich vermutlich vorstellen können.

Zwei Tage später griffen wir eine Tradition auf, die wir seit seiner Kleinkindzeit haben, ich berichtete damals. Wir sprachen also kurz und nur en passant, aber doch wie immer lebhaft interessiert, über die ganz großen Themen und über die alten und aktuellen Erkenntnisse dazu. Über die Unendlichkeit, das Universum, den Urknall, die Ewigkeit, die Zeit, die Quantenmechanik und all das. Ein heiterer Austausch von Halbwissen, lange verschütteten Sachbucherinnerungen und neuesten, wilden TikTok-Theorien.

Dann klingelte es an der Tür, noch während wir dieses Gespräch führten, und es kam eine Buchsendung mit einem Kinderbuch. Es war ein angenehm dickes, schon auf den ersten Blick schönes Bilderbuch. In dem es unter anderem um die Unendlichkeit geht. Um den Anfang und auch um das Ende von allem, um die Zeit und um den ganzen Rest, wo kommen wir her und wo geht es hin.

Schrift auf einem Brückenpfeiler in der Hafencity: "Der Mann aus dem Nichts". Im Hintergrund unscharf ein Motorboot

Es lag kein Zettel dabei und das Buch war auch nicht auf unserem öffentlichen Wunschzettel. Ich kann also nicht wissen, wer da mit geradezu gesegneter Intuition so dermaßen richtig gelegen haben kann. Aber ich danke erstaunt und besonders herzlich, das war ein ausgesprochen interessanter und belebender Moment. Eine angenehme Lektüre zu zweit war es dann auch.

Denn das Buch ist gut und ich habe also, nanu, noch einen weiteren Geschenktipp zur falschen Jahreszeit: „Gewitternacht oder wo endet die Unendlichkeit“ (hier der Verlagslink) von Michéle Lemieux. Es hat diverse Preise gewonnen, dieses Buch, was wir jetzt nachvollziehen können. Es ist, sagt Sohn II, auch hervorragend gezeichnet.

Ausgewiesen wird es für Kinder ab 6. Die Zielgruppe reicht nun, wie sich durch mich einwandfrei erwiesen hat, mindestens bis zu Kindern um die 60. Vielleicht möchten sie es sich als Geschenk vormerken, und nein, ich stehe weder mit der Künstlerin und Autorin noch mit dem Verlag in geschäftlicher oder anderer Verbindung. Nie gehört von der Frau und dem Buch.

Wie auch immer. Sohn II und ich, wir überlegen es uns jetzt jedenfalls wieder eine Weile sehr gut, worüber wir reden oder schreiben. Besser ist das.

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Die Stunden zwischen Hotel und Bahnhof

Wie mittlerweile hinlänglich berichtet, ist unser Stadtteil touristisch überlaufen und reichlich mit Hotels, Reisegruppen und angeblich sehenswerten Szene-Locations versehen. Weswegen ich in der Hochsaison eine besondere Form der Spielplatzbesucherinnen beobachten kann, das sind die Reisenden in den Stunden zwischen Hotel und Bahnhof. Reisende, die zwei, drei seltsam leere, sicher etwas fad wirkende Stunden irgendwie herumbringen müssen. Weil sie das Hotel schon verlassen haben, vielleicht auch verlassen mussten, das nächste Verkehrsmittel aber noch nicht dran ist. Das fährt erst, und dann sieht jemand auf die Uhr … „Meine Güte, da haben wir ja noch Zeit!“

Eine Formulierung dieser Art ist vermutlich eine kollektiv bekannte Erfahrung, ebenso wie die daran anschließenden Überlegungen.

Ich kann aus vielen Erfahrungen, auch an anderen Orten, ableiten, dass etliche Menschen, vermutlich sogar die Mehrheit, mit dieser Zeit nichts anzufangen wissen. Man kauft vielleicht noch eben etwas ein, ein Getränk und Kekse für die Fahrt und dergleichen. Aber es ist danach immer noch so viel vom Nachmittag zu überbrücken.

Und da ist dann irgendetwas, das einen davon abhält, sich noch einmal oder wieder irgendwo hineinzusetzen. Um einen weiteren Kaffee zu trinken oder erneut etwas zu essen. Vermutlich hat man das gerade schon getan, ist bereits satt und getränkt, möchte nicht schon wieder Geld in den Touristenfallen ausgeben und hat darüber hinaus in dieser Gegend vermeintlich alles gesehen. Man möchte mit dem Gepäck außerdem nicht herumlaufen, man möchte eigentlich nur noch weg. Man möchte reisen, unterwegs sein. Selbst wenn es damit enden sollte, dass man dann wieder zuhause ist.

Man muss aber warten und warten.

Schrift auf einer grauen Fassade: "Grau"

Dann suchen sich die Menschen in dieser Situation, was in Hamburg-Mitte gar nicht so oft zu finden ist, nämlich Sitzplätze im öffentlichen Raum. Sie gehen in Parks und in Fußgängerzonen, sie gucken in Nebenstraßen und Gänge, über die Zäune von Spielplätzen. Sie setzen sich auf alles, worauf man sich nur setzen kann. Nicht nur auf Bänke, die hier ohnehin eine Seltenheit sind.

Dann sitzen sie da herum. Eine Stunde, zwei Stunden. Sie sehen dabei höchstens mäßig gelaunt aus, deutlich abgeurlaubt, durchgereist und ferienvollendet. Sie sind geistig nicht mehr hier und noch nicht dort, sie sitzen gerade auf irgendetwas, aber auch zwischen Stühlen. Ihre Stimmung können sie vielleicht selbst nicht ganz einordnen und gucken leer, planlos und unmotiviert. Sie sehen aus wie: Die müssten mal abgeholt werden. Aber die holt dann keiner ab.

Ich nehme an, wir haben das alle schon so erlebt und auch bei anderen gesehen. Ich sehe es in diesen Sommerwochen dauernd.

Eine Gruppe möchte ich herausheben, weil sie in dieser besonderen Situation etwas kann, was alle anderen nun nicht mehr können. Etwas, das der Rest der Gesellschaft in den letzten beiden Jahrzehnten, man kann es tatsächlich eingrenzen, gründlich verlernt hat. So gründlich sogar haben es fast alle verlernt, dass sie das, was früher alle konnten und dauernd gemacht haben, nun in einem gewissen Kontext sogar mit einer neuen Vokabel bezeichnen und manchmal mit einem fast sportlichen Interesse versuchen, nämlich das Rawdogging. Ein Phänomen, bei dem sie es mit „Disziplin und Selbstkontrolle“ zu tun bekommen, so ihre Selbstwahrnehmung. Vielleicht ist es auch längst unser aller Selbstwahrnehmung.

Aber die Altersgruppe ab etwa Mitte 70 … Ich kann es vom Fenster aus wie ein Tierforscher beobachten, der mit der Kamera im Anschlag irgendwo im Unterholz auf seltene Vögel oder gut getarntes Wild lauert, die sitzt da einfach nur. Es hat nicht den Anschein von Selbstdisziplin und Kontrolle, nicht im Geringsten. Sie suchen sich geduldig einen Platz im Schatten, sie stellen die Koffer und Taschen so ab, dass sie alles jederzeit im Blick haben, denn man weiß ja nie.

Dann lehnen sie sich zurück und sehen über den Spielplatz und zu den schaukelnden Kindern. Sie sehen nach oben in das Laub der Bäume und mit etwas Glück auf die dort turnenden Eichhörnchen. Auf die Krähen blicken sie, auf die wartenden Tauben, Möwen und Elstern. Manchmal zeigen sie sich gegenseitig ein Tier. Sie wechseln dabei hin und wieder einen Satz, eher selten, bekommen aber nur kurze Antworten und reden sonst nicht viel. Den Menschen, den sie da neben sich haben, den haben sie in vielen Fällen auch schon jahrzehntelang neben sich. Da kann man auch einmal gemeinsam schweigen.

Sie legen die Köpfe in den Nacken, sehen am Kirchturm hoch bis zum Himmel und danach wieder auf ihre Füße, dann vor sich hin. Und sie machen es, man sieht es ihnen deutlich an, einfach so. Sie sehen dabei nicht auf ihre Smartphones, sie holen keine Notebooks heraus, sie tragen auch keine Kopfhörer, um Podcasts zu hören. Es sind Menschen von früher und sie verbringen diese zwei, drei öden, hohlen Stunden zwischen Hotel und Weiterreise, wie sie es immer schon gemacht haben, denn sie können das noch. Einfach so.

Man darf es sich aber nicht als Leistung vorstellen, es ist keine. Es ist nur das Leben und das Verhalten, das sie kennen. Und Menschen wie ich, die in den so analogen Siebzigern oder Achtzigern noch ganze Sonntagnachmittage mit glasigem Blick vor Raufaserwohnzimmerwänden verbracht haben, ab und zu leise stöhnend vor lauter Langeweile und bleierner Entschlusslosigkeit, wir können uns noch gut erinnern an das, was die da machen.

Wir kennen auch dieses kraftlose Körpergefühl des Wartens noch und auch die wattige Wahrnehmung des eigenen Hirns, in dem in diesen Stunden nicht allzu viel zu passieren scheint. Nur ein sachtes Verdämmern und Verblassen der Minuten.

Schön fanden wir das damals aber nicht, weiß Gott nicht. Das wissen wir noch sehr gut, dass es nicht schön war, und für eine Leistung haben wir es auch keineswegs gehalten, eher im Gegenteil. Selbst dann war es keine Leistung, wenn wir gut darin waren. Und es war uns recht, dass es irgendwann nicht mehr notwendig war und durch technische Hilfsmittel aus unserem Alltag verdrängt wurde. Wir haben also nicht zwingend einen Grund, diesen Teil unserer Vergangenheit auf einmal zu romantisieren und mit trendig klingenden neuen Namen wiederzubeleben.

Man kann es sich zwar auf eine gewisse Art als interessant und geistig herausfordernd denken, das ist schon verständlich. Aber man muss es nicht, und historisch, das scheint mir eindeutig, kommt es auch nicht hin.

Wenn meine Söhne dieses zweistündige, fast bewegungslose Verharren in einer optionslosen Warteschleife der unausgefüllten Art ohne jeden Input als Extremsport empfinden – okay, das passt für sie.  Und ich bilde mir ein, beide verstehen zu können, die Seniorinnen und Senioren ab Mitte siebzig und die Teenager von heute. Ich bin mit beiden Varianten gut vertraut, ich bin ein alltagsgeschichtlicher Wanderer zwischen den Welten.

Neulich amüsierte ich mich an anderer Stelle über Silent-Reading-Partys, bei denen das romantisiert wird und als gemeinschaftliches Reenactment zelebriert wird, was für uns damals ebenfalls vollkommen normal war: Das stille Lesen. Sogar mit mehreren in einem Raum. Das ist heute ein Event, und ich lache immer noch darüber. Allerdings lache ich freundlich und fast schon altersmilde, nicht zynisch und herablassend.

Das Überraschende für mich ist dabei, dass ein beliebiges Stück Alltag also nur rund 50 Jahre braucht, um in verklärter, neu interpretierter Form wiederauferstehen zu können. Weswegen ich jetzt auch hochrechnen und vorhersagen kann, dass es etwa im Jahr 2075 eine ziemlich coole Sache und ein heißer Trend werden dürfte, ganze Sonntagnachmittage mit dem unentwegten Gucken von algorithmisch zugeteilten Tiktok- und Instagram-Filmchen in höchst obskurer Mischung zu verbringen. Gechillte Plattform-Partys wird es dann geben.

Ich werde sicher nicht mehr alt genug, um es erleben zu können. Ich würde sonst darauf wetten wollen, denn so wird es kommen.

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Für eine Handvoll Links

Jahreszeitlich etwas überraschend vermutlich, aber ich habe einen Geschenktipp. Und zwar für alle, die Menschen beschenken müssen oder wollen, die mit Schule zu tun haben. Die gar Lehrpersonal sind, besonders für Sprachen. Nämlich den dünnen Roman „Scham und Würde“ von Dag Solstad, Deutsch von Ina Kronenberger. Hier die Perlentaucherseite dazu.

Der erste Teil des Buches stellt einen frustrierten, im Lehralltag freudlos routiniert gewordenen Lehrer dar, der mit einem Abiturjahrgang ein Stück von Ibsen durchgeht, wie er es gnadenlos in jedem Jahr macht. Und wie diese verbitterte Gedankenwelt des Lehrers dabei ausgeführt wird, das ist großartig inszeniert. Die Ausführung ist amüsant, überzeugend und mitreißend. Man liest kurz rein, man möchte das Buch nicht wieder weglegen. So oft passiert mir das gar nicht.

Das Buch spielt in den Neunzigern, also vor den zwei, drei wichtigsten Modernisierungsschüben unserer Zeit in den europäischen Schulen und im Lehrsystem. Es wird für viele die Schule von damals sein, um die es da geht. Vielleicht sind es Kindheitserfahrungen, denn solche Lehrer hatte man, erduldete man.

Der zweite Teil des Buches ist dann leider nicht mehr mein Fall, zumal ich kein Freund allzu offener Enden bin. Aber man kann es ja verschenken mit dem Hinweis, dass es um den fantastischen Anfang geht, nicht um die fast unnötig nachfolgende, seltsam unaufgelöst verbleibende und schief angeflanscht wirkende Liebesgeschichte.

Ich möchte in diesem Fall und bei dem Zielpublikum fast versprechen, dass das Buch halb gefallen wird, und das ist bekanntlich nicht nichts.

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Gleich noch ein weiterer Tipp, diesmal für alle mit Interesse an besonders schöner Sprache, an Familienthemen, an Aufbrüchen, geschichtlichen Entwicklungen und auch Osteuropa-Bezügen, vor allem in der rumänischen Ausprägung mit latentem Deutschlandbezug: „Lichtungen“ von Iris Wolff. Auch hierzu die Perlentaucherseite, auf der in diesem Fall ein besonders vielschichtiges Rezensionsbild zu finden ist.

Der hat mir auch gefallen, dieser Roman, sehr gerne gelesen. Ähnlich erging es Matthias Zehnder, der dazu eine ausführliche Video-Rezension hat:


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Der Guardian schreibt über AI-Slop, was in einem deutschen Artikel einmal so treffend als „KI-Schlonze“ übersetzt wurde. Es geht um YouTube und Instagram etc., und diesmal kann ich die Erfahrung auch bestätigen. Je nachdem, wo der Algorithmus mich hintreibt, ist auf einmal alles KI. Seltsam vorhersehbare Plastikwelten sind das dann, in die man da unbeabsichtigt geraten kann.

Und ich vermute, es ist wieder ein wenig wie Unfallgucken, wenn man dann weiter und weiter scrollt oder klickt – und damit, ohne es zu wollen, die Existenz dieser artifiziellen Füllmasse absichert.

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In dem gleich folgenden Harald-Lesch-Film über die Gottesfrage habe ich vor allem die Stelle gemocht, in der es um den Wallfahrtsort Lourdes und die Wahrscheinlichkeiten ging, also um stochastische Fragen. Besonders der Hinweis von Carl Sagan erheiterte mich, dass es statistisch geraten sei, für eine Spontanheilung Lourdes ausdrücklich fernzubleiben.

 

Kreideschrift auf dem Pflaster "Gott liebt Dickerchen"

Wenn jemand die im Film nur angerissenen Aspekte von Blaise Pascal und Kurt Gödel sowie weitere logisch-theoretische Erwägungen interessant findet: Man kann einiges dazu auf der Wikipedia-Seite zum Thema Gottesbeweis nachlesen, bis man Kopfschmerzen bekommt.

Das dürfte von Fall zu Fall allerdings schnell gehen.


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Und nachdem ich es nun jahrelang nicht geschafft habe, die Bücher von Rutger Bregman zu lesen, so lange sogar, dass währenddessen mehrere weitere Bücher von ihm erschienen sind (passend zum vorgestern erwähnten Buch von Anne Rabe über das M-Wort heißt eines seiner Werke „Moralische Ambition“, Verlagslink), habe ich mir wenigstens ein längeres Interview mit ihm angesehen.

Das Gespräch ist drei Jahre alt, aber es kommt mir nicht veraltet vor.

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