Ranke am Strauche

Am letzten Wochenende, es scheint etwas mehr Text als andere abzuwerfen, was so gar nicht vorgesehen ist und hier alles durcheinanderbringt, war ich mit der Herzdame noch im Eppendorfer Moor. Mit einer humpelnden Herzdame, sie hatte eine Sportverletzung. Zwischen uns liegen einige Jahre, sie ist noch in dem Alter, in dem man für Schäden an Muskeln oder Gelenken Sport machen muss. Bei mir reicht längst eine falsche Bewegung beim Abtrocknen nach dem Duschen. Was ich dabei immer für Zeit spare, der Verfall hat auch Vorteile.

Das Eppendorfer Moor ist für viele aus dieser Stadt ein weißer Fleck auf dem Stadtplan, wie ich aus Gesprächen weiß. Davon habe man schon einmal gehört, heißt es dann, dass es das da irgendwo geben soll. Da sei man aber noch nie gewesen. Und man kenne auch niemanden, der oder die dagewesen sei, es sei doch fast ein wenig seltsam.

Das größte innerstädtische Moor Europas jedenfalls, weiß man bei der Wikipedia, und da hat man gleich wieder einen Rekord abgehakt. Und Rekorde, da stehen wir doch drauf, in unserer angeblichen Leistungsgesellschaft. Es ist also ein Sensationsmorast, den man da besucht, es ist nicht nur irgendeiner.

U-Bahn Lattenkamp aussteigen, falls jemand grobe Orientierung braucht. Dann noch ein wenig an der Tarpenbek entlanggehen und schon ist man im Moor. Wo es wimmelt vom Heiderauche, wenn man früher nur oft genug die Gedichte der Droste gelesen hat. Es ist, wenn man es sich noch einmal vornehmen möchte, noch immer ein eindrucksvolles Gedicht.

Fest hält die Fibel das zitternde Kind

Und rennt als ob man es jage;

Hohl über die Fläche sauset der Wind

Was raschelt drüben am Hage?

Das ist der gespenstige Gräberknecht,

Der dem Meister die besten Torfe verzecht;

Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!

Hinducket das Knäblein zage.

Schon schön, da gibt es nichts! Lesen Sie es laut, rezitieren Sie bemüht, das macht Spaß. Ich meine auch, ich konnte es einmal auswendig, aber das wird schon etwas her sein. Geblieben ist mir nur die erste Zeile, die vermutlich vielen bekannt sein dürfte, längst ist sie Bestandteil der kulturellen Allmende im deutschen Sprachraum.

Eine Brücke über die Tarpenbek, Graffiti daran, Herbstlaub darunter

Man geht zunächst noch etwas neben der Alsterkrugchaussee her und fragt sich dabei vielleicht unwillig, ob das jetzt alles sei, Bäume neben etlichen Spuren, brausender Verkehr, wie ein Marsch durchs Begleitgrün an der Autobahn fühlt sich das an, echt jetzt mal. Aber das gibt sich dann und es wird ruhiger, das städtische Lärmen weicht allmählich zurück und gibt der Natur zögerlich etwas Raum.

Das Moor ist nicht eben groß. Es ist kein Akt, es einmal zu umrunden, man kann das mal eben machen. Es passt leicht zwischen Mittag und Kaffee, nach treudeutschen Zeiteinheiten. Und es wirkt auch in dieser konzentrierten Version.

Es ist zunächst ziemlich Wald, auf eine angenehm altmodische Art, mit den umgestürzten, bemoosten, modernden Bäumen, Bruchwald eben. Mit schönen, in diesem Monat dekorativ laubbestreuten Wegen auch, und wenn man gerne Natur guckt, dann kommt man da schon etwas auf seine Kosten, kann diesen Tagesordnungspunkt für den Sonntag im Grunde schon abhaken. Es wird dann aber, wenn man zum Aussichtspunkt in der Mitte am See geht, auf einmal ein kleines Ersatzkanada.

Die Herzdame, wie sie im Eppendorfer Moor am Aussichtspunkt fotografiert

Indian-Summer-Surrogat mit passender Farbgebung und Blick über dunkelblaues Wasser und allem. Und es ist nennenswert besser als nichts in dieser Funktion, das kann sich sehen lassen. Es gab Menschen, die saßen dort am Ufer in der Nachmittagssonne und lasen, es wird keine dumme Idee gewesen sein.

Ein Plätzchen wie von Herbst-Influencern ausgedacht, so sieht es an diesem Ufer aus.

Dann wird es, um diesen Aussichtspunkt herum, auch deutlich Moor. Moor sieht man hierzulande nicht mehr oft, das haben wir alles mühsam beseitigt, was uns heute aus Gründen der Seelenhygiene, der Ökologie und des Schutzes vor Extremwetterfolgen fehlt. Hier kann man sich belehren lassen, dass es attraktiv ist und mit seiner Ausstrahlung auf einen einwirkt, bis es einem ganz lyrisch zumute wird.

Wenn man nur genug hinsieht, wie die Ranke am Strauche häkelt oder wie die Pilze wachsen.

Pilze mir unbekannter Art im Eppendorfer Moor

Ich möchte dringend empfehlen, die Zeilen der Droste vor Ort noch einmal nachzulesen. Als stark verspätetes, aber ungemein sinnvolles Update zum Deutschunterricht damals. Dann erkennt man erst richtig, was die Dame da für einen Kracher gelandet hat. Mit allem Respekt erkennt man es.

Bäume mit Herbstlaub und See im Eppendorfer Moor

Ich glaube, wir haben nicht einmal eine Stunde für die Umrundung gebraucht, trotz Hinkebein der Herzdame, trotz Fotopause.

Gerne wieder. Das war, wie neulich schon der Besuch im Loki-Schmidt-Garten, etwas fürs jährliche Programm. Bei der Herzdame auf Instagram finden Sie auch Bilder in einem ihrer Reels.

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Maritime Stimmungsfragen

Während es stundenlang und jahreszeitlich korrekt regnet, denke ich beim Blick aus dem Fenster an Kid37, der seelisch bekanntlich in diesem Wetter beheimatet ist. Nachsehen, was er schreibt und macht, und guck, interessante Musik gibt es gerade bei ihm. Ein thematisches Aufblühen in Richtung November ist es gewissermaßen, und ich verstehe das, ich teile das.

Herzliche Glückwünsche dem Herrn Blognachbarn noch, versteht sich!

***

Am Sonntagmorgen war ich, wo ich viele Jahre nicht war, nämlich auf dem Hamburger Fischmarkt. Bekannt aus Klischees, Reiseführern und TV-Dokumentationen aus der Richtung Heimatkunde in Dritten Programmen. Als langjähriger Einwohner Hamburgs muss man da alle paar Jahre einmal hin, man erhält nach Losverfahren auch eine nachdrückliche Erinnerung der städtischen Behörden. Schließlich braucht es dort regelmäßig eine große Anzahl Komparsen, die für die durchziehenden Touristenhorden einigermaßen normale Menschen aus dieser Stadt darstellen. Damit alles stets so wirkt, als sei es nicht lediglich für Reisegruppen arrangiert worden. Sonst geht der Tourismus am Ende zurück und die Leute besuchen andere Städte, nicht auszudenken.

Das heißt für mich also Troyer anziehen, die alte Fleetenkieker-Mütze aufsetzen und dann auf dem Markt etwas planlos herumgehen, mehr wird nicht verlangt. So schwer ist das also nicht, und ein wenig Honorar aus dem Amt für Hamburgensien und maritime Stimmungsfragen gibt es hinterher auch. Man wird in diesen Zeiten nicht nur für die Teilnahme an Demos bezahlt.

U 434 im Hamburger Hafen bei Sonnenaufgang

Wie fast alle, die schon ein paar Jahrzehnte in Norddeutschland zugebracht haben, habe ich Fischmarkterinnerungen aus der Kindheit und aus der Zeit meines Sturmes und Dranges. Mit dem Vater damals dort Tauben von Züchtern gekauft, in den frühen Siebzigern etwa. Vage Erinnerungen an die großen Transport-Körbe mit mehreren Abteilungen darin, in die etliche Vögel der besonderen Arten passten. Auch undeutliche Erinnerungen an die Stände mit dem vielen Geflügel. Hasen, Karnickel und dergleichen gab es daneben auch. Längst ist es verboten, dort noch lebende Tiere zu verkaufen, wir kommen aus wahrlich wilden Zeiten.

Aus anderen Gründen leicht verschwommene Erinnerungen an Besuche dort, als ich noch einen Überlebenden der Partynächte darstellte. Taumelnder Freundeskreis, Restgemeinsamkeiten in der Dämmerung. Fischbrötchen auf Restalkohol und dann zitternd vor morgendlicher Kälte einen Kaffee aus dem Pappbecher, gegen die heranbrandende Müdigkeit, gegen die Unfähigkeit auch, sich für einige Stunden zu trennen.

Heute, das fällt mir auf, sehe ich kaum volltrunkene Überbleibsel der Nacht. Keine bestens gelaunten Grüppchen, die aus der Richtung Reeperbahn kommen und hier noch ein Stündchen herumgeistern, bevor endgültig nichts mehr geht und die Biologie ihnen den Stecker zieht.

Lediglich drei junge Menschen fallen auf, die ekstatisch zu einer Art Techno-Musik tanzen, in eher kümmerlichem Sound von einem Smartphone abgespielt. Für ihre mit interessanten Substanzen angereicherten Hirne noch laut genug. Die gehen ab, da drüben neben dem Fischbrötchenstand, an dem die Krabbenbrötchen, immer auch das Smalltalkwissen mitnehmen, heute bei acht Euro liegen.

Ansonsten nur nüchterne, oft müde wirkende Reisende, die hier pflichtgemäß Station machen und in Treue zu alten Traditionen auf angeblich spottbillige Obstkörbe etc. hereinfallen. Oder die staunend vor den Marktschreiern stehen, die es also wirklich gibt, die man filmen und beweisen kann. Und deren Scherze dann auch programmgemäß neu und ungemein erheiternd gefunden werden. Denn so muss das.

Neben dieser Szenerie der Sonnenaufgang über der Elbe. Als Hauptattraktion viel geeigneter als der Markt, denkt man irgendwann, wenn man den Markt schon kennt. Die Fenster der Elbphilharmonie spiegeln ein dermaßen unglaubwürdiges Rosa, es ist gar nicht zu fotografieren, so kitschig sieht das aus. So überzeichnet, am Ende ist es nur eine weitere AI-Anwendung im Hintergrund.

Für diesen Sonnenaufgang am Hafen lohnt es sich jedenfalls, so früh dorthin zu gehen. Je nach Wetter. Bei Nebel oder auch bei dekorativer Bewölkung in der pinkfarben süßlichen Variante: Kann man machen, doch, doch.

Die Elbe im Hafen bei Sonnenaufgang, im Vordergrund ein Aufkleber an einem Geländer: "Heute geht einiges"

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Enthusiastisches Kreisen

In der Innenstadt aber ringen nun die Feste gewaltig miteinander, und es wurden vielfältige Dekowaffen gewählt. Hier die immer größeren, immer gruseligeren Halloween-Figuren, Särge sogar.  „Dem Tod einen Platz im Leben geben“, mit diesem Satz wirbt übrigens der Bestatter um die Ecke, aber das nur am Rande. Mumien, Monster und Mutationen etc. in den Schaufenstern, dazu Spinnwebzierrat, Plastikspinnen und dergleichen.

Daneben die ersten Weihnachtsbäume in anderer Farbordnung und dick aufgetragener Heimeligkeit. Die ersten pausbäckigen Engelchen auch und verlockend sein sollende Geschenkpakete auf Gabentischen mit Preisschildern daran. Die ersten roten und goldenen Kerzen, der erste Sprühschnee an Scheiben. In einer der großen Straßen arbeiten sie an der Dezemberbeleuchtung über dem Fußweg, und unten an der Elbe, am Strand St. Pauli, sehe ich im Vorbeigehen irgendwas mit Weihnachtszauber im Titel.

Ein Hinweiszettel auf einen Glühweinausschank in einem Hinterhof

Ich lese eben das Wort pausbäckig nach, es hieß früher paußbäckicht, das ist auch schön. Diesen Begriff mal in einem Call als Kompliment anbringen, Du siehst so paußbäckicht gesund aus. Nein, lieber nicht.

Auf den Straßen ab dem Freitagnachmittag bereits einige kostümierte Menschen verschiedener Altersstufen unter den Passanten. Die ersten Halloween-Partys müssen irgendwo laufen. Wen schert schon der genaue Termin, das althergebrachte Datum. Wir sind so weit erstaunlich traditionsflexibel geworden, auch das hätten wir noch vor ein paar Jahren von uns nicht erwartet. Die Feste dehnen sich mittlerweile alle etwas aus, sie weichen links und rechts auf dem Kalender aus und sind jeweils eher Festwoche als Stichtag. Ein paar Tage mehr oder weniger, es geht alles ins Ungefähre, und so unpassend ist das nicht.

Wenn man auf das Wetter achtet, auf die Dunkelheit, auf den Nebel (frischer Dunst wird heute im stets empfehlenswerten Landlebenblog geliefert) – es ist ungefähr Halloween. Es stimmt schon.

In Planten un Blomen wird die Eisbahn eröffnet. Es ist eine der größten unter freiem Himmel in Europa, lese ich. Weil ich neuerdings an der Stadt mehr teilnehme, gehe ich am Abend dorthin und sehe mir an, wie die ersten dort auf den Kufen kreisen. Offensichtlich glücklich, das wieder tun zu können. Es sind wohl nur Menschen auf dem Eis, die das gut können, alles wirkt ungemein schwungvoll und sportlich. Enthusiastische Kreise werden gezogen, wenn man sich so etwas vorstellen kann, und das ist etwas deutlich Schöneres als die informierten Kreise aus den Nachrichten.

Es war aber knapp mit dem Eis in diesem Jahr, auch das lese ich später nach. Es war viel zu warm, sie haben es fast nicht hinbekommen, wie geplant zu eröffnen. Ich gehe um die Eisbahn herum, ich war noch nie hinter der Eisbahn. Alles mal gesehen haben, auch die Winkel, die ich immer ausgelassen habe. Auf den Bänken vor und hinter der Anlage sitzen an diesem Abend Menschen in der Dunkelheit und sehen den Fahrenden zu. Einige halten Händchen dabei. Ältere Paare sind es, die da Arm in Arm sitzen, im stockdunklen Park, und auf die jungen Menschen auf dem Eis sehen. Lächelnd, sich umarmend.

Auch schön, das kann man sich ruhig alles einmal ansehen. Es ist wieder etwas filmmäßig, es geht in Richtung romantische Komödie, Woody Allen in seiner guten Zeit vielleicht. Man muss sich erneut New York in den Hintergrund denken, wie so oft. In der nächsten Szene dann schon die Erinnerungen, die andere Zeitebene und die andere Schauspielergeneration. Die Jugend der beiden Alten auf der Bank wird nachgespielt. Die Szenen auf dem Eis damals, vielleicht das Kennenlernen, der erste Kuss und dergleichen, vermutlich doch.

Schön ist das, am Abend in Planten und Blomen vor der Eisbahn. Man muss dafür nicht selbst aufs Eis, es ist alles freiwillig. Nie im Leben habe ich auf Schlittschuhen gestanden. Dieses Vergnügen habe ich komplett verpasst, mehr durch Zufälle als durch Absichten. In den richtigen Jahren war keine passende Fläche in der Nähe und keine Freunde machten so etwas.

Ich käme auf dem Eis vielleicht zurecht, denke ich mir. Ich kann immerhin mit Inlineskates fahren, und es wird doch ähnlich sein. Aber ich habe doch das rechte Alter für den Anfang verpasst, glaube ich, und es macht nichts, es macht gar nichts.

Es läuft allerdings laute Musik, die mir nicht gefällt. Man kann nicht alles schön finden, muss es auch nicht. Ich setze mir die Noise-Cancelling-Kopfhörer auf, ich danke wem auch immer für diese so überaus segensreiche Erfindung, ich tausche den Soundtrack einmal schnell durch.

Ich bitte den verlässlichen Herrn Guaraldi, es für mich besser zu machen, und der hat prompt etwas parat, wie in jedem Jahr.

Bald, es ist doch eine enorm traditionslastige Jahreszeit, kommen zwei Schulmails, in denen auf den Besuch der Eisbahn mit den Klassen oder dem Jahrgang hingewiesen wird. Ich kann das präzise vorhersagen, ich könnte die Formulierung schon weitgehend aufsagen, bilde ich mir ein.

Für die Söhne wird es daher später Erinnerungen von dort geben. Von dieser gut besuchten Eisfläche im großen Park, und sie können dann in fünfzig, sechzig Jahren auf einer der Bänke im Dunkeln sitzen und sich erinnern, an 2024 oder andere Jahre. In welcher Stimmung auch immer, bestenfalls lächelnd, bestenfalls zu zweit.

„Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer.“ Es ist am Ende doch der zentrale Satz, den der Herr Kästner damals geschrieben hat.

Die Lombardsbrücke mit dem attrakativem Herbstlaub der Bäume neben ihr

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Nebel, Menschen und Möwen

Am Sonnabendmorgen ist es noch einmal neblig. Später wird daraus ein weiterer Oktobertag nach Bilderbuchart werden, da sind sich die Wetter-Apps heute allesamt einig. Ich lese das nach, und ich mache, was ich sonst nie mache, ich fahre spontan und zu früher Stunde runter zum Hafen. Auch mal morgens herumspazieren, auch mal flexibel sein und abweichenden Rhythmen folgen. An den Landungsbrücken sein, bevor der Nebel wieder ablegt.

Der Hafen ist zunächst aber gar nicht da, so dick ist der Nebel. Ich steige aus der S-Bahn und stehe vor einer Wand. Es dauert dann noch, es muss erst mehr Tag über der Elbe sein, bis etwa die Masten der Rickmer Rickmers allmählich aus dem Dunst vor mir auftauchen, Fliegender Holländer nichts dagegen.

Die Rickmer Rickmers im dichten Nebel

Das andere Elbufer gibt es nicht mehr. Die Elbphilharmonie ist nur eine vage Möglichkeit, und die Hafencity steht vielleicht irgendwo dahinter, wer weiß. Die Cap San Diego ist etwas großes Weißes in vielem Weiß. Eine Ahnung von Schiff ist sie nur. Die U3 fährt auf ihrem Viadukt fast lautlos an allem vorbei. Die Luft schluckt den Schall, und der Nebel zeichnet die hellen Fenster der Waggons weich und verwischt sie. „Lichtermarmelade“, hat Hanns-Dieter Hüsch einst geschrieben.

Dann taucht noch etwas auf, das fast ein wenig unheimlich ist. Langsam nur, aber nach und nach immer besser zu erkennen, nämlich weitere Beweise für meinen manchmal erschreckenden Mangel an Individualität. Etliche dieser Beweise sehe ich, immer öfter sind sie am Bildrand. Manchmal hasten sie auch quer durch die Szenerie oder eilen gebückt am Rand entlang, schleichend, sich am Boden duckend, hockend und lauernd. Über Geländern und Kaimauern hängend, in den seltsamsten Posen. Es sind nicht die Zombies aus dem Nebel des Grauens, Fotografen sind es nur, und viele davon. Bei denen man an Tagen mit solchen Wetterlagen vermutlich auch korrekt anmerken kann: Manchmal kommen sie wieder.

St. Katharinen im Nebel

Die männliche Form ist hier richtig gewählt, das Hobby ist bei Frauen nicht eben beliebt, wie es aussieht. Falls denn die Stichprobe dieses Hamburger Morgens aussagefähig ist. Was man sicher bezweifeln kann, auch wenn es um eine einwandfreie 100%-Quote in dieser Stunde geht. Lauter Männer mit technischer Topausrüstung im wabernden Grau, Spiegelreflexenthusiasten vor verwehender Watte.

Ich aber fotografiere wieder bloß auf dem Smartphone, wie so ein Spinner aus dem Internet.

Die Fotografen müssen in Scharen zum herbstlichen Hafen gefahren sein. Sie stehen sich jetzt dort alle gegenseitig im Bild herum, sie knipsen bemüht aneinander vorbei und umkurven sich weiträumig. Dabei sehen sie sich immer wieder um, sie sehen hinter sich, wer wohl gerade vor welchem Motiv deplatziert herumlungert, zumindest aus Sicht der jeweils anderen. Sie verfluchen leise murmelnd die Sonderinteressen der anderen, welche doch stets die eigenen sind. Wie wir auch alle die gleichen Motive belagern.

Weiter oben, im unsicheren Weißgrau, das vielleicht eine Häuserwand, vielleicht aber auch einen freien Ausblick verbirgt, vielleicht den Himmel über einem Fleet oder einer Straße, ab und zu schwarzes Geflatter, eilige Flugschatten. Die Rabenkrähen des Hafens in passender Fantasy-Umgebung. Auf dem nachtnassen Geländer der Promenade sitzen sieben von ihnen nebeneinander und bekakeln leise etwas, vielleicht den Plan hinter allem.

Die Flussschifferkirche im Nebel

Dann wieder bewegt sich etwas Schnelles und Helles im Weißen. Wird nur für einen scheuen Moment deutlicher und segelt dann schreiend über den Betrachter am Boden hinweg, die Möwen. „Sie formen Schreie und erzählen, unsere Flügel sind die Seelen der Matrosen …“, denke ich. Ich setze mir meine Kopfhörer auf und höre noch einmal die Aufnahme von Ingrid Craven, wiederum dankbar dafür, dass ich alles jederzeit nachhören kann, wie angenehm ist das eingerichtet.

„Weit draußen auf dem blauen Meer

erklingt ein Lied von Wiederkehr,

ein Lied vom Leben.“

 Text und Musik von Peer Raben.

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Alles, was ich tat

Am Freitag noch einmal ein Werktag der unangenehm überbordenden Art. Passend zum Rest der Woche füllen sich die Stunden, und es hebt die Laune nicht, dass da gerade generell kein Ende in Sicht ist. Nicht im nächsten Monat und auch nicht in dem danach. Ich könnte die Reihe noch weiter fortsetzen, aber die Länge des Satzes würde mich irgendwann verunsichern, nehme ich an.

Ich bin jedenfalls im Home-Office. Allerdings muss nur ich an diesem Tag arbeiten, in der Wohnung stören herumhängende Jugendliche und eine ausschlafende Herzdame die Bürostimmung. Das macht die Lage nicht besser, die Motivation erst recht nicht. Knurrend alles abarbeiten und verbissen einige Immerhin-Gedanken pflegen. Dass die nächste Woche für mich immerhin nur drei Werktage haben wird etwa, oder dass immerhin auch diesem Freitag unweigerlich ein Wochenende folgen wird, so etwas in der Art.

Nach der Arbeit gehe ich kurz zur Reinigung, um meine Hemden abzuholen. In Gedanken weiterhin im Büro, an einer Entscheidung kurz vor Toresschluss zweifelnd, hin und her grübelnd. Nach einigermaßen erschöpfender Woche außerdem einiges in Frage stellend, auf der Sach- und auch auf der Sinnebene, aber wenn man mit der erst einmal anfängt.

In der Reinigung trägt die Frau, die den ganzen Tag die Oberhemden auf den Bügelautomaten spannt und diesen dann kurz dampfen lässt, ein mit Text bedrucktes T-Shirt. Sie steht mit dem Rücken zu mir, ich kann die kleineren Schriftteile nicht lesen. Es sieht aus, wie manche Band-T-Shirts aussehen, vorne wird vermutlich der Name eines Sängers oder einer Sängerin, einer Gruppe vielleicht zu lesen sein, was weiß ich. Hinten jedenfalls ein großes Zitat, und das kann ich einwandfrei entziffern. Während sie das vielleicht tausendste Hemd des Tages auf den Bügelautomaten spannt, lese ich da: „Alles, was ich tat, tat ich mit Leidenschaft.

Ich aber nicht, denke ich. Das nun wahrhaftig nicht, und ist das ein Problem oder was. Ich neige hier als Verfechter des Durchhaltens und des Abarbeitens, der steten Bemühung und der allmählichen Verfertigung doch der Verneinung zu, und mit more passion, more energy, more footwork muss man mir bitte nicht kommen.

Aber wer bin ich andererseits, dass ich in jedem Fall eher Recht hätte als ein T-Shirt. In Kurzgeschichten wäre der T-Shirt-Aufdruck selbstverständlich deep und in Interpretationen unbedingt zu beachten. Niemand zieht in Kurzgeschichten zufällig etwas mit Aufdruck an, siehe auch Filme, Serien etc. Es wird schon seinen Sinn haben, wenn die Kamera das erfasst, es wird schon geplant, es wird schon durchdacht gewesen sein. Ob man nun allerdings Teil eines Drehbuchs ist oder nicht – eine ganz große Frage, zu der man eh nie Zeit hat.

Generell aber, dabei möchte ich doch widerständig bleiben, traue ich den Leidenschaftsaposteln in beruflicher Hinsicht nicht recht über den Weg. Alles, was ich in dieser Woche tat, tat ich mit erheblicher Skepsis, denke ich. So geht es auch, und vielleicht geht es sogar besser so.

Es kommt darauf an, um den Text versöhnlich enden zu lassen. Denn vielleicht tragen Sie ja auch so ein T-Shirt mit Leidenschaftserwähnung im Aufdruck. Am Ende trägt man das jetzt allgemein so, und ich habe es nur wieder nicht mitbekommen.

Meinetwegen!

***

Das Bild ist schon einige Wochen alt, man sieht es. Ein Graureiher auf meiner Abendrunde durch Planten un Blomen. Er stand da direkt vor mir, in ebenfalls eher skeptischer Betrachtung seines Arbeitsgebietes. So leidenschaftslos wie das Grau seines Outfits, das auch gut zu meinem Anzug passte.

Ein Graureiher steht am Rand eines Teiches in Planten un Blomen

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Orgeln und Pfeifen

Am Donnerstagmorgen ist es noch dunkel, als ich mir den ersten Kaffee mache. Herbstlich neblig ist es dazu, ich sehe es im Licht der Straßenlaternen. Es sieht da unten aus wie in alten Krimis, „Hier spricht Edgar Wallace.“ Und irgendwo um die Ecke schleicht schon der Kinski herum. Die Stadt schläft, kein Licht hinter irgendeinem Fenster ringsum. Ich habe diese Stunde wieder für mich, die wee small hour, die Schreibstunde.

Allerdings, ich sehe es dann einigermaßen fassungslos, als ich die Milch aus dem Kühlschrank hole, kreisen vor dem Haus drei riesige Lichter durch den schwarzen Nachthimmel neben dem Kirchturm, und spukhaft ist für diesen Anblick milde ausgedrückt. Wobei Science-Fiction noch besser als Spuk passt. Über unserem Haus kreisen oft Hubschrauber, es ist eben die Stadtmitte, die großen Demos, die fliegende Polizei. Aber die Hubschrauber machen verlässlich Geräusche, und wie sie die machen. Diese Lichter kreisen dagegen vollkommen lautlos. Was auch immer da fliegt, es ist zu tief. Und wenn es Drohnen sind, dann ist es ein ganzer Trupp davon, sie sind perfekt synchron im Flug, sie sind groß, was passiert da.

Würde man für Hollywood die Außerirdischen nachts landen lassen, es sähe so aus, und wäre ich Hauptdarsteller, die Milch fiele mir jetzt aus der Hand. Was bei einem Tetrapack allerdings nichts hermacht, lassen wir das.

Kein Zweifel jedenfalls, dieses Bild auf einer Kinoleinwand – exakt passend. Und was auch immer das da für ein Objekt vor dem Fenster sein mag, es ist entschieden zu dicht vor mir und auch zu dicht neben dem alten Kirchturm. Ich schlafe nicht, ich träume nicht, und die Lichter kreisen gemächlich. Am Ende ist es dann selbstverständlich ein gigantischer Baukran, nachts erst aufgebaut, dessen Monsterarm da zum frühen Arbeitsbeginn vorbei und durch den Dunst dreht, ein paar Häuser weiter. Langsam und majestätisch dreht der, mit drei großen Lichtern daran.

Ich weiß jetzt immerhin, dass ich bei einer allfälligen Alieninvasion nicht etwa geistreiche Schlusserkenntnisse haben werde, sondern vermutlich genau das denken werde, was mir in diesem Moment, die Milch noch in der Hand, spontan durch den Kopf ging: „Das jetzt also auch noch.“

Wie genervt von allem kann man sein.

***

Am Nachmittag müsste ich eigentlich im Kontext des Brotberufs weiter mit Kolleginnen auf anderen Kontinenten über künstliche Intelligenz nachdenken, breche das aber zur Rettung der spärlichen Reste meiner menschlichen Intelligenz mittendrin und schon wie in Notwehr ab.

Ich klappe das Notebook entschlossen zu und gehe in die Innenstadt. In der Hauptkirche St. Jacobi gibt es wieder das kleine Donnerstagnachmittagskonzert, eine halbe Stunde wird uns etwas Bach auf der Barockorgel vorgespielt, und es ist wiederum schön und beruhigend. Es nimmt einen kurz aus dem Alltag, und wie angenehm ist das denn.

Berankte Außenmauern von St. Jacobi

In der letzten Woche erst hatte ich mir vorgenommen, dort regelmäßig hinzugehen. Schon in dieser Woche bin ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich sitze entsprechend stolz wie Bolle in der Kirchenbank, ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.

Neben mir ein älterer Herr in gepflegter Lederkluft. Er geht mit dem Oberkörper wippend mit wie bei einem Rockkonzert und hört offensichtlich Rhythmen heraus, die ich nicht einmal wahrnehme. Das ist vermutlich auch schön, aber nicht jedem gegeben.

Die Schlussakkorde jedenfalls, besonders die betonten, kräftigen, wenn die Orgel noch einmal alles gibt und majestätisch aushallt, wenn die Töne danach einen Augenblick im Kirchenschiff über den Köpfen zu stehen scheinen – das sind mit die besten Hörerlebnisse der Woche, keine Frage. Sensationell ist so etwas, und zuhause mit keinem Audiogerät nachzuempfinden, wie perfekt auch immer man ausgerüstet ist.

Ein alter Beichtstuhl in einem Nebenraum des Kirchenschiffs in St. Jacobi

Und in den leisen Momenten, wenn die Töne höher werden, immer feiner, dezenter – zwischendurch habe ich kurz gedacht, wenn mein Tinnitus etwas auf sich hielte, etwas kultivierter wäre, er könnte zumindest zwischendurch auch gut klingen.

Aber es ist, wie es ist, er pfeift nur lapidar. Man kann nicht alles haben.

Gerade habe ich beim Schreiben den Verdacht gehabt, dass auch andere schon über diese Verbindung nachgedacht haben müssen. Ich habe etwas nachgelesen – und guck:

Einen komponierten Tinnitus gibt es im Streichquartett Nr. 1 e-Moll Aus meinem Leben des tschechischen Komponisten Bedrich Smetana. Etwa zweieinhalb Minuten vor dem Ende des vierten Satzes Vivace (nach heutiger Aufführungspraxis) bricht die bis dahin beschwingte Musik plötzlich ab, und über einem bedrohlich klingenden tiefen Tremolo von 2. Violine, Viola und Violoncello setzt für etwa zehn Sekunden die erste Violine mit einem langgezogenen viergestrichenen E ein, das durch seine extrem hohe Lage im Gegensatz zu den übrigen Instrumenten wie ein störender Pfeifton wirkt. Dieses E soll den Tinnitus wiedergeben, der den Komponisten quälte.

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Willkommen in der Dunkelheit

Andere bloggen Sinnvolles, etwa eindrucksvolle Warnungen vor dem Riechen an dem, was man gerade kocht. In den USA würde man jetzt den Topfdeckelhersteller verklagen, nehme ich an. Immerhin war das Ding ohne jede Sicherheitsmaßnahme abnehmbar und es stand vermutlich auch keine Warnung dran. Schlimm. Gute Besserung nach drüben gewünscht, schnelle Heilung!

***

Gehört: Eine angenehm umfassende Stunde von Jonas Fansa: „Zum selbstverständlichen Luxus der öffentlichen Bibliothek.“ Ausdrücklich empfehlenswert, ein Rundumschlag zum Thema und zur Lage in Deutschland. Aus kultureller und auch aus demokratischer Sicht, man unterschätzt da einige Aspekte vermutlich gerne.

Beim Anriss des Themas Bibliotheksbau wird reflexmäßig Helsinki erwähnt, ebenso erwartbar wie richtig und angemessen. Und es ist so bedauerlich, wie selten uns großartige, leuchtende, prägende und richtungsweisende, eventuell mutige Beispiele für moderne Großprojekte aus Deutschland einfallen. Nicht bei diesem Thema, nicht bei der Verkehrswende, nicht beim Städtebau, nicht bei der Kulturpolitik, nicht bei der demokratischen Absicherung, bei der Sozialpolitik etc. Immer die Verweise auf andere Länder.

Es wird nicht so sein, dass es gar keine Beispiele gibt, und es ist kein Beweis, dass ich gerade nichts parat habe (schrieb er und wohnte dabei in nur geringer Spaziergangsentfernung von der Elbphilharmonie entfernt) – aber doch immer das Gefühl, es ginge gerne noch mehr, es wäre da mehr zu machen.

Außerdem gehört: „Was kommt nach dem Neoliberalismus?“ Etwas VWL-Nachhilfe, schadet nicht.

Und erst angefangen, aber hier schon einmal weitergereicht: Eine neue Folge Radiowissen: „Franziska zu Reventlow – Schriftstellerin, Rebellin und Freigeist.“ Falls Ihnen der Name nichts sagt, umso empfehlenswerter, die Dame war und ist interessant und bemerkenswert.

***

Der Mittwoch war dann prompt der erste Tag, an dem ich es bei Tageslicht nicht mehr entspannt vor die Tür geschafft habe, willkommen in der Dunkelheit. Vorgestern noch den leuchtenden Herbst im Park bewundert, einen Tag später ist der Vorhang bereits gefallen.

Aber ohne Hadern und Händeringen, da muss man sich eben umstellen und entweder nicht mehr fotografieren oder doch ganz anderes. Muss man also darauf achten, was man überhaupt noch wahrnehmen kann und sich erst einmal anderen Lichtquellen im Vorbeigehen zuwenden, bis die Sonne wiederkommt.

Blick von außen in ein Restaurantfenster, man sieht nur eine Gabel auf einem Tisch

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Anmerkungen am Rand

Der Herbst dreht auf, ich habe kaum Zeit, es ausreichend mitzubekommen und zu würdigen. Sonnenuntergang schon 18:04. Da wird es eng im Plan, wenn am Rand des Tages noch Bewegung im Freien und bei Licht stattfinden soll. Die Arbeit dehnt sich gerade allzu weit aus und beansprucht Stunden, die ihr gar nicht zustehen.

Eine flotte Runde durch Planten un Blomen ist gerade noch zu schaffen, als herbeigetrickster Waldbadersatz. Und so schlecht ist der Notbehelf nicht. Menschen, die besser aufgepasst haben als ich, wüssten vielleicht gleich den japanischen Begriff Shinrin-Yoku, er war doch häufig genug in den Medien. Ich hatte den allerdings nicht parat.

Unabhängig vom eben verlinkten Artikel habe ich beim Spaziergang jedenfalls überall da, wo es mitten in der Stadt doch einmal deutlich nach Natur riecht, nach Herbstlaub und Erde, nach Wasser oder nach gesundem Vermodern, einigermaßen überzeugend das Gefühl, dass die Luft dort gesund sei.

Gefallenes Hernstlaub im Park, ein Steg über einen Wasserlauf

Ich sehe es auch bei anderen, dass sie an diesen Stellen unwillkürlich kurz stehenbleiben und so atmen, wie wir vermutlich alle atmen, wenn wir an den Strand fahren und dort endlich wieder das Meer riechen. Es muss ein ähnlicher Effekt sein, und es ist immerhin ein billiger, halbwegs gut verfügbarer Effekt. Wenn man einen Park oder sonst ein Stück Natur in der Nähe hat.

Blick durch herbstliche Parkanlagen auf den Fernehturm am frühen Abend

Es eilt auch, wie immer eilt es alles schon. Denn die ersten Bäume, ich sehe es im schwächer werdenden Gegenlicht des Sonnenuntergangs, sind fast kahl, nackte Äste sind bereits zu sehen. Einige dramatisch zitternde letzte Blätter, die aus ihrem Fallen eine große Show machen, die Grandezza des Verfalls. Eine Show, der man gerne zusieht, auch wenn es eine Wiederholung ist, auch wenn wir wissen, wie es ausgeht.

In einem Gebüsch an einer besonders landschaftsbildtauglichen Stelle ein Typ, der wiederum einige Klischees bedient. Wenn Sie sich bitte für einen Moment jemanden vorstellen wollen, dem man eventuell lieber ausweichen möchte. Das kann verschiedene Ausprägungen haben, aber einigen wir uns auf enorm kräftige Schultern und einen überbreiten Nacken sowie auf ein Gesicht, das in jedem Film den Bösen kennzeichnen würde. Da haben wir ihn in etwa, die Kleidung, Accessoires etc. können Sie nach Belieben und Erfahrung variieren. Und der steht also derart im Gebüsch, dass man gleich denkt, der pinkelt da.

Was in einer Großstadt eben passiert, zu oft und an zu vielen Stellen, Männer nach Biergenuss, es ist immer das Gleiche. Diese Haltung, die erkennt man, auch von hinten, auch aus der Distanz, und man sieht dann bemüht woanders hin.

Muss man aber nicht immer. Denn dieser Typ da z.B., der pinkelt gar nicht. Der fotografiert vielmehr in seiner geschützten Ecke sorgsam güldenes Herbstlaub. Fein durchbrochene Blätter, filigrane Schönheiten, so etwas. Sieht hinterher auf sein Smartphone und schüttelt den Kopf, macht weitere Aufnahmen im warmen Abendlicht, vergleicht dann wieder scrollend die Ergebnisse auf dem Bildschirm. Ist nach einer ganzen Weile und vielen Aufnahmen erst zufrieden und geht schließlich weiter, sieht sich nach anderen guten Stellen und attraktiven Pflanzen um, während das Licht schnell schwindet.

Wir sind hinausgegangen, den Sonnenschein zu fangen.“ Was einem alles auf einmal wieder einfällt, bei Sonnenuntergang im Park. Es ist ein Frühlingslied, ich lese dennoch zuhause den Text noch einmal nach: „Werft ab alle Sorge und Qual, fallera.

Na ja. Ab einem gewissen Alter möchte man bei solchen Stellen einige Anmerkungen am Rand machen.

Eine Fußgängerbrücke in Planten un Blomen vor herbstlichen Bäumen

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Zwischen zwei Sätzen

Ein weiterer unangenehmer Werktag der dramatisch überladenen Art. Zu viele Themen, zu wenig Zeit, und ich sehe nicht, dass das bald besser werden kann. Nicht in den nächsten Wochen, nicht in den nächsten Monaten. Problem.

Später am Tag dann ein Behördentermin mit beiden Söhnen. Vorher den passenden Tag und die Uhrzeit online bestellt, vor Ort an der Servicestelle exakt auf die Minute genau aufgerufen worden. Pünktlich wie ein Uhrwerk waren die Beamten dort. Freundlicher bedient worden als in vielen Läden oder Coffeeshops hier, geradezu ungewohnt herzlich.

Nach zehn Minuten schon wieder draußen gewesen, mit allen Papieren, Stempeln und Belegen, auch mit sinnvollen Informationen. Zwischendurch mitbekommen, dass am Nebentisch mit zwei Personen, die nur gebrochenes Deutsch sprachen und behördliche Anforderungen nicht gleich verstanden, angenehm einfühlsam und geduldig umgegangen wurde.

Es gibt schon auch Szenen und Abläufe im Zusammenhang mit dem Staat und der Stadt, die funktionieren, die richtig gut funktionieren. Nicht immer, nicht bei jedem Thema, nicht in jedem Bundesland oder in jeder Gemeinde, ich weiß. Die Menschen aus Berlin winken vermutlich wieder routiniert an dieser Stelle ab. Aber immerhin bei uns und gestern und bei diesem Anliegen. Muss man auch einmal würdigen.

Ich könnte passend dazu noch erwähnen, dass auch Autoparkplätze in Fahrradparklätze umgewandelt werden, etwa direkt vor unserer Haustür, und dass ich das richtig finde. Oder dass Fahrradwege in der Nähe neu entstehen. Sicher nicht genug, vermutlich auch wieder nicht sicher genug, aber immerhin überhaupt. Und dass die Schule um die Ecke gerade neu gebaut wird, ziemlich schnell sogar, das gehört ebenfalls in diesen Kontext.

Ja, ich vermerke das alles eben. Zwischen dem routinierten Genörgel, den Zweifeln und dem Fatalismus.

***

Beim Abendspaziergang, nach viel zu viel Zeit am Schreibtisch und nach dem Abfüttern der Familie, gehe ich an einem älteren Paar vorbei. Sie haben sich auf die Stühle vor einem geschlossenen Restaurant gesetzt, nein, sie sind dort eher niedergesunken, so sieht es aus. Mit denen stimmt etwas nicht, das erkennt man gleich. Er wirkt apathisch, sie wirkt eher panisch, da wird etwas ganz und gar nicht in Ordnung sein.

Sie merkt, dass ich kurz hinsehe, ob da etwas zu machen sei, und sie fragt mit großer Dringlichkeit: „Wissen Sie, wo wir sind?“ Sie fragt es so, als sei es nicht einigermaßen selbstverständlich, das zu wissen. Was es, wenn man darüber kurz nachdenkt, auch nicht ist.

Ich weiß allerdings, wo wir sind, wenn ich schon sonst nicht viel weiß, ich sage es ihr. Daraufhin kann sie für ihren Mann einen Krankenwagen rufen, der nach wenigen Minuten auch kommt. Meine verspätete Runde um den Block hat auf einmal etwas Sinnzuwachs. Das ist an diesem Tag ebenfalls positiv zu werten, finde ich, denn manchmal kann man schon dadurch hilfreich sein, dass man weiß, wo man ist.

That was easy! Es gibt überdimensionierte Spielzeugbutttondinger, die diesen Satz abspielen, wenn man draufdrückt. Ein Kollege hatte so einen lange auf seinem Schreitisch stehen: „That was easy!“ Er hat da oft draufgedrückt, es gab genug Anlässe. Vielleicht gab es damals auch noch mehr Anlässe als heute, aber das könnte eine der vielen Nostalgiefallen sein. Er war außerdem umschaltbar, dieser Button, fällt mir gerade wieder ein. Und der andere einprogrammierte Satz war: „That was bullshit!“ Das hat man auch oft aus einem Büro gehört.

Zwischen diese beiden Sätze passt unser ganzer Alltag. Im Büro und auch da draußen.

Gänse auf einer Wiese an der Alster, eine, recht dicht, sieht in die Kamera

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Geht doch

Es gibt demnächst Thomas Mann als Playmobilfigur, lese ich in den kleineren Meldungen, zu seinem 150. Geburtstag. Mit einem Buch als mitgeliefertem Kleinteil in der Packung, mit den Buddenbrooks. Es gab schon Goethe und Schiller in dieser Spielzeug-Reihe, auch Fontane, das wusste ich gar nicht. Und, er ist ebenfalls als bedeutender Autor zu werten, es gab Luther. Eine schreibende Frau gab es wohl nicht, man muss nicht lange zählen.

Wenn sich alle Literaturaffinen oder Bildungsbeflissenen aus der Boomer-Generation jeweils einen Thomas Mann von Playmobil als Deko für den Schreibtisch zu Weihnachten schenken, dürfte der wirtschaftliche Erfolg der Produktion gesichert sein. Wobei der Luther bei den Sonderfiguren sicher nicht einzuholen ist, der war oder ist ein besonderer Verkaufsschlager.

Ob nach Thomas Mann noch einmal jemand aus der neueren Literaturgeschichte dieser Richtung vorstellbar wird? Die Bachmann vielleicht, mit dem Zubehörteilchen Max Frisch, den sie an die Hand nimmt? Klackend kann man ihn an sie herandrücken? Sarah Kirsch mit Aquarellpinsel oder Mascha Kaléko mit gepacktem Koffer. Aber das sind dann eher Insider, ein Verkaufserfolg wäre äußerst zweifelhaft.

Den Grass könnte man sich dagegen leicht als Figur vorstellen, mit abnehmbarem Schnurrbart und rotweißer Blechtrommel.

***

Mit der Herzdame spaziere ich am Sonntag durch die neuesten Ecken der Hafencity . Ab und zu dort das murmeln, was alle aus Hamburg mit einem gewissen Alter dort von sich geben: „Wir wissen noch, wie hier nichts war.“

Ein Neubau mit bemerkenswerter, modern verschachtelter Fassade in der Hübenerstraße, Hafencity

Einige Erinnerungsaspekte bekommen wir nicht mehr zusammen, es stehen Neubauten in den Bildern herum. Irgendwo dort haben wir einmal Lindy-Hop getanzt, aber die eine Kaimauer passt nicht ins Bild, wie ging das zu. Ist das alles verlagert worden, fließt das Wasser nun woanders, ist es ein Erinnerungs-Glitch.

Wenn man an den Elbbrücken aussteigt, wo die U-Bahnlinie noch knapp vor dem Wasser endet und irgendwann rübermachen wird, geht man durch fast menschenleere Neubaugebiete. Hier und da noch etwas Brachland und Baustellenschutt am Straßenrand, einige verloren wirkende Bagger. Wenn man durchs ganze Revier auf die historischen Landungsbrücken zugeht, wird es nach und nach immer voller um einen herum. Als würde man in einem Film alle paar Meter auf einer besonders langen Kamerafahrt mehr und mehr Komparsen aus den Nebenstraßen ins Bild strömen lassen, so sieht das aus.

Der Versmannkai mit Blick in Richtung Elbbrücken

Erreicht man dann die Stellen, an denen man die ersten guten Foto-Aussichten auf die Elbphilharmonie hat, wird es derart volksfesthaft voll um einen herum, dass man schon wieder bitterböse Essays über den Overtourism und die Disneyfizierung von Städten und Häfen schreiben möchte.

Man kann schließlich nicht mehr geradeausgehen. Man muss sich überall durchdrängeln und biegt endlich als Mensch, der tatsächlich Strecke machen möchte, entnervt ab. Schlägt sich quer und durch eher untouristische Abkürzungen in die gute, alte Innenstadt, in der man an Sonntagen ausreichend Platz für sich hat. „Geht doch“, möchte man da sagen, und mit diesem Satz, mit dem man in der Hafencity noch die anderen am liebsten aus dem Weg pöbeln wollte, nun zur Abwechslung die eigene Bewegungsform meinen.

„Geht doch!“

In den Bildern habe ich heute noch etwas Vorrat aus dem Sommer abgebaut. Es fällt kaum auf, es sind in der Hafencity längst nicht überall herbstliche Bäume oder Büsche im Bild.

Hongkongstraße, das Greenpeace-Gebäude

***

Abends sehr schlecht gelaunt und in Anbetracht der anstehenden Termine verfrüht verärgert die neue Woche erwartet, die sich im Kalender besonders vollgepackt präsentiert, vielleicht sogar rekordverdächtig für dieses Jahr. Mich dann intensiv darüber geärgert, dass ich mich geärgert habe, dann über meine Entspannungsunfähigkeit geflucht, dann über alles. Wenn man es draufhat, hat man es drauf.

Nichts angezündet. Immer auch das Positive werten.

***

Einer der kleinen Zufälle noch, einer der eher liebenswerten Art: Auf dem Weg ins Theater am Sonnabend, zu Macbeth in den Kammerspielen, hörte ich Tusk von Fleetwood Mac, weil ich die neulich gesehene Doku auf arte immer noch etwas verarbeite, wie auch eine Art stark verspäteten Crush auf Stevie Nicks.

Tusk hat diesen eingängigen Rhythmus, der da das ganze Stück durchgetrommelt wird, und im Theater gab es dann zwischendurch einen etwas spartanischen, harten Soundtrack – sehr ähnlich diesem Trommelrhythmus, wenn nicht genau gleich, jedenfalls eine schlüssige Fortsetzung. Ich fand wieder alles sehr fein verbunden.

Es ist aber auch ein gutes Stück, um in die Woche zu starten, glaube ich, ein gewisser Rhythmus für die nächsten Tage wird gebraucht. Das mal lauter und öfter hören.

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.