Fastenzeit, Zwischenstand

Bei dem Thema werden einige womöglich peinlich berührt zusammenzucken, da war doch was? Bei mir läuft es jedenfalls, es läuft sogar besser denn je. Ich mache die pädagogisch wertvolle Friedens-Diät, die werden Sie vermutlich gar nicht kennen. Bei der Friedens-Diät ernährt man sich nur noch von den Lebensmitteln im Haushalt, die in ungerader Zahl vorkommen. Ganz egal, worum es sich dabei handelt, das ist vollkommen zweitrangig. Es geht nur um ein Ziel – den Streit der Geschwister um ein einzeln übrig bleibendes Exemplar von irgendwas zu vermeiden. Die Söhne schafften es in letzter Zeit sogar, sich um etwas zu prügeln, was sie gar nicht mögen, einfach nur, weil sie es dem anderen nicht gönnten. Der hätte ja urplötzlich und hinterlistig beginnen können es zu mögen, und dann hätte der einen Vorteil gehabt! Unerträglich!  Zack, Handgemenge.

Das hatte ich so satt, dauernd hatten die sich in den Haaren, weil etwas nicht aufging. Ich greife daher jetzt überall begradigend essend ein, ich esse Frieden herbei. Man ernährt sich dabei äußerst seltsam, aber da muss man durch. Drei Eier sind das große Übel, nur zwei Eier sind gute Eier. Von den sieben Joghurts muss einer weg, von den fünf Scheiben Brot auch eine, und oh, nur noch eine Banane! Das geht gar nicht. Die Einzelbanane im Obstkorb ist ein großes Sicherheitsrisiko, die Banane in mir aber ist ein großer Schritt zur Familienharmonie, wie auch die Tafel Schokolade, das Stück Kuchen, die Bratwurst. Die Söhne haben keinen Grund mehr zum Streiten und ich bin auch viel friedlicher. Außerdem bin ich erstaunlich satt und auch etwas müde, denn ich muss ja permanent wachsam sein und alle Vorräte nachzählen und alles immer wieder gerade essen. Sogar während die Familie isst, muss ich permanent alle Teller beobachten und rechtzeitig zugreifend einschreiten, denn hier essen leider nicht alle gleich schnell. Das strengt schon etwas an.

Aber es hat auch keiner behauptet, die Fastenzeit sei eine leichte Übung.

Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten

Kleine Szenen (8)

Es ist eigentlich nur eine Szene, sie hat sich im Winter ein paar Mal wiederholt, ich bin bisher nicht dazu gekommen, sie aufzuschreiben. Und sie hat nichts mit Flüchtlingen zu tun, wie es bei den letzten Artikeln dieser Art war. Es geht aber um Migranten anderer Art, sie kamen in den letzten Texten in dieser Kategorie schon am Rande vor. Es geht um die weit fortgeschrittenen Alkoholiker vor dem Hauptbahnhof, von denen ein großer Teil Russisch spricht. Oder eine andere slawische Sprache, das kann ich nicht unterscheiden. Es geht also um Menschen, deren Lebensweg sie irgendwie vor diesen Bahnhof geführt hat, von dem sie nicht wieder wegkommen. Vor dem sie jeden Tag herumstehen, hocken, liegen. Sie sind da bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit, sie sitzen auf dem blanken Boden, sie liegen auch im Regen unter freiem Himmel, sie merken längst keine Kälte und keine Nässe mehr.

Manchmal liegen sie lange wie tot herum, dann ruft ein Passant oder jemand vom Sicherheitsdienst vielleicht einen Krankenwagen. Oft liegen sie so, dass man schon im Vorbeigehen denkt, wenn ich so liegen würde, wie schnell wäre ich tot? Wie überleben sie das denn bloß? Viele sind in einem Zustand, zu dem man sich keine hoffnungsvolle Perspektive mehr denken kann, da müssten schon mehrere und wahrhaft gewaltige Wunder geschehen, um diese komplett abgerockten Gestalten noch ein paar Kurven zum Besseren im Leben nehmen zu lassen. Wahrscheinlich ist das wirklich nicht. Wahrscheinlich ist, dass dieser Bahnhof eine der allerletzten Stationen ist, wenn nicht sogar die Endstation. Das sind gescheiterte Lebens -und Migrationsgeschichten, an denen man da vorbeigeht, da ging etwas gründlich schief, da ging alles schief.

Die Männer und Frauen sitzen und trinken und stieren in die Gegend, es sind vom Alkohol zerstörte Gesichter, denen man keine Mimik mehr ansieht. Leere Blicke, halboffene Münder, aus denen Gebrabbel und Sabber tropfen. Gebissruinen, hängende Mundwinkel, darunter im parallelen Bogen hängende Schultern. Wirre Haare, rote, aufgedunsene Nasen. Sie prosten sich zu, gelegentlich geht einer irgendwo neues Bier oder Schnaps holen. Mehr passiert nicht. Manche reden den ganzen Tag vor sich hin und gestikulieren lahm dazu, manche verdämmern einfach die Stunden. Weil sowieso nichts passieren wird, heute nicht und morgen nicht.

Aber einer von ihnen kann etwas Besonderes. Einer von ihnen stellt sich ab und zu hinter eine oder einen der anderen und fasst tastend an Schultern, Hälse und Arme. Und die Art, wie der das macht, die lässt einen gleich denken, dass der da etwas Professionelles macht. So biegt man keine Arme, so drückt man nicht probeweise in fremde Muskeln, wenn man sich nicht damit auskennt, wenn man das nicht irgendwann gelernt hat. Der war sicher einmal Masseur, Physiotherapeut, so etwas in der Richtung. Der drückt und knetet gekonnt, der macht da nicht irgendwas. Und die Angefassten schälen sich nach einer Weile mühsam aus ihren Winterjacken, damit er besser zugreifen kann. Er bohrt Finger in Rücken und Knöchel in Oberarme, er fragt leise etwas. Der Mensch vor ihm zeigt vage auf eine Stelle, er nickt und drückt dorthin, da geht es dann weiter. Ganz normal sehen diese Bewegungen im Dialog aus, als würde jemand in irgendeinem Wellnesstempel kurz seine Verspannung von der Büroarbeit schildern. Der Masseur drückt und greift, mal sachte, mal fester. Und dann passiert nach ein paar Minuten etwas mit den sonst so unbeweglichen Gesichtszügen der Trinker, dann heben sich nämlich Mundwinkel zögernd und wie untrainiert. Da gehen zottige Augenbrauen weit nach oben, da werden Augen wie in höchster Konzentration geschlossen und auf diesem vom Suff zerstörten Gesicht sieht man etwas, das dort vermutlich jahrelang nicht mehr gesehen wurde: Behagen.

Nach einer Weile klopft der Masseur abschließend auf die Schultern vor ihm, mit einer Geste, als würde er sich jetzt dem nächsten Patienten einen Raum weiter zuwenden. Er brummelt etwas, kratzt sich am Bart, er sieht zu, wie sich der Mensch vor ihm wieder mühsam anzieht. Dann wendet er sich nicht dem Nächsten zu, sondern doch wieder seinem Bier. Winkt den Dank des anderen ab. Und der andere bewegt noch eine Weile verblüfft seine Arme, dreht seinen Kopf, hebt die Schultern, hebt sie wieder, als hätte er gerade erst gemerkt, dass da Arme dranhängen. Und schüttelt sich dann etwas, mit einem wehen Staunen im Gesicht, in dem vielleicht, wer weiß, ein wenig Erinnerung an längst vergangenes Wohlbefinden liegt. Und dann trinkt auch er weiter.

Kurz und klein

Wider die Verschwendung

Die Söhne haben beide Ahnung von Umweltthemen, das bleibt nicht aus. Sie wissen, was der Klimawandel ist, sie kennen den Abgaswerteskandal, sie wissen, dass man Geräte nicht sinnlos laufen lässt. Das ist anders als in meiner Kindheit, in der es noch gar keine Umwelt gab, da gab es ja nur das da draußen, oder vielleicht noch so etwas wie Gegend. Und mit allem, was draußen oder in der Gegend war, konnte man anfangen, was immer man wollte, das war damals alles für die Menschen da, Selbstbedienung. Dachten wir jedenfalls. Das war selbstverständlich nicht richtig, aber das war noch kein Allgemeingut. Das klingt, als sei es hundert Jahre her, nicht wahr? So wird man allmählich zum Museumsstück, auch interessant.

Heute wissen die Kinder, dass nicht alles für die Menschen da ist, dass vielleicht auch nicht genug für alle da ist, schon gar nicht, wenn wir weiter alles hemmungslos verschwenden. Das sorgt in ihnen für einen seltsamen Widerspruch. Denn einerseits leben sie im Saus und Braus dieses reichen Landes, andererseits haben sie das deutliche Gefühl, auf etwas oder sogar auf alles aufpassen zu müssen. Und da es zwar kinderleicht ist, die Notwendigkeit des ressourcenschonenden Verhaltens zu erkennen, aber eher schwer, sich selbst richtig zu verhalten, achten sie lieber auf das Verhalten anderer. Also etwa auf das Verhalten ihrer Eltern. Es ist eben schöner, die hemmungslose Stromverschwendung anderer zu kritisieren, als selber kalt zu duschen, um es etwas überspitzt auszudrücken. Ich lebe hier unter permanter Beobachtung, ich könnte ja eine schlimme Umweltsau sein. Da muss ich mir also Mühe geben, ein brauchbares Vorbild zu sein.

„Papa, wenn du etwas aufschreibst, was du dir auch so merken könntest, dann ist das Stiftverschwendung. Das macht man nicht.“

Und deswegen habe ich mir dieses Kolumnenthema jetzt eine Woche lang ohne Stift gemerkt. Geht doch!

(Dieser Text erschien im letzten Jahr als Kolumne in den Lübecker Nachrichten)

Das Wort zum Montag

Der Elendsmonat Februar ist also einen Tag länger als sonst, die Herzdamentanzkapelle spielt dazu das alte Volkslied “Wie soll ein Mensch das ertragen”.  Es ist zu kalt draußen, es bleibt auch noch weiterhin kalt, der Wetterbericht ist gnadenlos wie ein früherer Mathematiklehrer von mir, der mir eine Arbeit einmal mit der Anmerkung “Kaufen Sie sich einen Sarg” zurückgab. Die meisten Menschen um mich herum sind seit Wochen krank, waren gerade krank oder werden es nach Maßgabe der Statistik schon ab morgen sein, das ist saisonal und regional korrekt, das ist alles fein, das gehört so, was soll man machen. Ich bin auch krank, ich schreibe aber keine Blogartikel darüber, das will ja keiner wissen. Mein Problem ist auch gar nicht der grippale Infekt, meine Güte, so etwas hat man eben mal. Mein Problem ist, dass mich so etwas unleidlich macht. To say the least.

In dem Lieblingsbilderbuch von Sohn II,  der Riesenbirne von Jakob Martin Strid, gibt es eine Figur, die sich mit diesem schönen, mit diesem geradezu unsterblichen Satz vorstellt: “Mein Name ist Odysseus Karlsen, und ich mag keine Menschen.” So auch ich, möchte man im grippalen Zustand da an den Rand schreiben und es doppelt unterstreichen und mit einem Bündelchen Ausrufezeichen versehen, so auch ich. Mein Name sei Odysseus Karlsen, das ist überhaupt ein schöner Name. Menschen! Geh mir doch weg. Menschen sind doof, machen doofe Sachen, sprechen über doofe Themen. Menschen machen überall doofe Werbung, an der man dann kopfschüttelnd vorbeilaufen muss wie ein doofer Wackeldackel. Menschen machen doofe Politik, über die in doofen Medien berichtet wird, dann schreiben doofe Menschen doofe Kommentare dazu. Wer soll das auf Dauer aushalten? Menschen schreiben doofe Texte über ihre Launen in soziale Netzwerke, Blogs, Zeitungen und an Wände, sogar in Bücher. Und dann ist diese Konzentration an Doofheit noch nicht einmal echt, denn das liegt in Wahrheit alles an mir, nicht an denen, dass ich alles gerade doof finde, so doof bin ja nicht, dass nicht zu merken. Aber das ist doch auch doof.

Nur Minden, Minden ist nicht doof, in Minden hatte ich am Wochenende eine sehr nette Lesung. Aber Minden nützt jetzt schon nichts mehr, ich bin wieder in Hamburg. Und was soll man auch von einer Welt halten, in der nur Minden nicht doof ist.

Ich sitze mit Sohn II auf dem Sofa, wir sagen uns gegenseitig ab und zu, wie doof wir sind, solche Dialoge kann man sehr gut mit ihm aufführen, er ist recht gut im Beleidigen. Sohn I dagegen ist beim Fußball. Fußball ist doof, finden wir zwei hier auf dem Sofa. Wir spielen gleich Schach nach den Spezialregeln von Sohn II, ich werde also nicht die geringste Chance gegen ihn haben, das passt schon zum Gesamtbild des Tages. Ich sehe so überzeugend schlecht gelaunt aus wie der späte Günter Grass, ich lasse mir jetzt einfach genau so einen doofen Oberlippenbart stehen und schreibe so lange abscheuliche, aber doch wahnsinnig durchdachte und abgrundtief empfundene Sachen, bis mich jemand auch einmal irgendwo “sensibler Grantler” nennt, man braucht ja auch Ziele, trotz allem.

Vielleicht geht es mir morgen aber auch schon besser.

Dialog am Morgen

Sohn II: „Wenn ich mich so sehr für Fußball interessiere, dass ich mich in der Schule überhaupt nicht mehr konzentrieren kann, würdet ihr es mir dann verbieten?“
Ich: „Äh … Du interessierst Dich nicht ansatzweise für Fußball und du gehst noch gar nicht zur Schule.“
Sohn II: „Ja. Ich denke nur so herum.“

Gedankliche Abgründe

Wir haben ein neues Bett, in dem schlafe ich viel besser und entspannter als in dem vorherigen, obwohl es auch nur ein normales Doppelbett ohne jeden Spezialeffekt ist. Das finde ich beunruhigend. Sehr beunruhigend sogar. Wir haben dieses neue Bett nämlich nicht, weil mit dem alten Bett etwas nicht stimmte. Ich war zufrieden damit, es gab keine Klagen. Es war eben irgendein Bett, ich habe mir nie viele Gedanken über mein Bett gemacht, ich war da eher anspruchslos.

Wir haben das neue Bett nur, weil wir alles umdekoriert und verschoben haben, weil das alte Möbel danach einfach nicht mehr gut aussah. Das war also ein reiner Zufallstreffer, das mit dem besseren Schlafen. Ich habe nicht einmal gewusst, dass ich überhaupt besser schlafen kann, ich habe mein schlechtes Schlafen gar nicht als verbesserungsfähig erkannt. Ich dachte, das sei völlig normal, wie ich schlafe.  Und jetzt werde ich den Gedanken nicht mehr los – was könnte noch alles besser in meinem Leben sein, wenn ich etwas ändern würde, was mich bis jetzt gar nicht stört?

Einfach mal was versuchen, irgendwas ändern? Wieviel Potential ist da wohl noch, an Stellen, wo man mit normalen Gedanken im Alltag nicht hinkommt? Man kommt doch nie dazu, sich um das zu kümmern, was man jahrelang einfach so hinnimmt. Ein wahrer Abgrund, vor dem man da plötzlich gedanklich steht, das ist doch von geradezu philosophischem Interesse, da wird man glatt zum Denker und grübelt sich fest. Geht nicht fast alles auch anders? Und ist dann vielleicht sogar besser? Wenn man da länger drüber nachdenkt! Dann kommt man auf tausend Ideen, da hinterfragt man alles, da sieht man plötzlich überall unendlich viele Optionen. Die Gedanken rattern nur so – und dann kann man übrigens nicht mehr schlafen. Aber wenn ich nicht mehr schlafen kann, dann hätten wir ja auch gleich das alte Bett behalten können. Ist das kompliziert!

Ja, ich weiß schon, warum aus mir kein Denker geworden ist.

 

Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten

Das alte Zeug

Gestern gab es eine Swingtanzveranstaltung in einem Autohaus in der Hamburger Innenstadt. Das ist natürlich kein Autohaus, wie man es sich in meiner Kindheit vorgestellt hätte, das ist eher so eine hippe Bargeschichte, in der wie zufällig genau ein vollkommen unbezahlbares Auto herumsteht, als ob es eine nette und ganz selbstverständliche Dekoidee zum nachmittäglichen Latte Macchiato sei. Aus Sicht der Tanzenden stand natürlich auch dieses Einzelexemplar sinnlos im Weg herum. Egal, darum geht es nicht.

Dieser Laden hat ein Schaufenster, wenn man daran während der Musikveranstaltungen vorbeigeht, sieht man die Tanzenden und hört auch die Musik. Ich stand eine Weile mit der Herzdame vor dem Laden und sah mir an, wie die Passanten auf das Event reagierten. In der Regel war das ziemlich klischeemäßig, lebhaft interessierte Frauen, die in vielen Fällen auch sofort anfingen, etwas mitzuwippen oder sogar ein, zwei Schrittchen machten. Daneben skeptische Männer, die zum Weitergehen drängten, plötzlich irgendwohin mussten oder gottergeben abwarteten, bis sie endlich an diesem Kelch vorübergehen konnten. Es gab auch ein paar aufgeschlossene Männer, die waren aber klar in der Minderheit.

Zwei mit Einkaufstüten behängte Frauen sahen sich das eine ganze Weile an, was da in dem Laden passierte. Sie hörten auf die Musik, Bigbandsound aus der Vergangenheit, Peggy Lee und Fats Waller, Louis Prima und Amos Milburn und dergleichen, was auf Lindy-Hop-Partys eben läuft. Das ganze alte Zeug mit dem übergriffigen Rhythmus, bei dem man irgendwann unwillkürlich mitschnippt. Und die Frauen rätselten herum, was das denn nun sein könne. Nach längerem Nachdenken befanden sie schließlich: “Das ist wohl alles Achtzigerzeug, das ist mehr so cindylaupermäßig.”

Was für Menschen meines Alters wieder äußerst eindrücklich beweist: Die Achtziger, in denen man einmal jung war, sind mittlerweile auch schon verdammt lange her.