Tscherms/Obergluniger

Wir kamen am späten Nachmittag in Tscherms an. Tscherms hinter Lana, das ist der größere Nachbarort. Tscherms ist ein langgezogener Ort an der Straße zwischen Bozen und Meran, das von dort gar nicht mehr weit ist, quasi Fahrradentfernung. Wenn es auf dem Weg nicht etwas hügelig wäre, to say the least.

Eine knuffige Kirche unten im Tal, das Rathaus, ein Eiscafé, ein kleiner Laden, ein Hotel – viel mehr nicht. Alles ziemlich hübsch und überschaubar, keine Hotelpaläste, keine großen Ferienanlagen. An den Hängen hoch überall alte Höfe zwischen den Weinbergen und den zahllosen Apfelbäumen, schon im Vorbeifahren denkt man, dass man die Höfe am liebsten alle sehen möchte, dass man bei allen einmal davor stehen möchte, diesen Ausblick erleben möchte, der Ausblick muss da oben überall großartig sein. Und von jedem Hof anders. Man sieht aus dem Auto den Hang und die Berge hinauf, weiter oben entdeckt man immer noch weitere Höfe, ganz oben auch, helle Pünktchen kurz vor den Gipfeln. Irgendwo ein Schloss, das im blauen Abendlicht gerade transsilvanisch anmutet, das ist Schloss Lebenberg, ich komme später noch darauf zurück.

Schloss Lebenberg

 

Der Hof, auf dem wir uns einquartiert hatten, lag etwas unterhalb dieses Schlosses, ein paar Kurven davor. Kurven, die sich durch schmale Straßen den Hang hinaufwinden, man versteht sofort, warum die Einheimischen uralte Fiat Pandas als Bergziegen fahren, so ein SUV wie unser Mietwagen ist einfach zu breit. Viel zu breit. Besonders, wenn man die Straßen zum ersten Mal hochfährt, das kann dann alles gar nicht passen, die Hände klammern sich ans Lenkrad, man fährt Fußgängertempo. Höchstens. Nach einer Woche ist das Auto aber dann doch noch etwas schmaler geworden. Sagte die Herzdame jedenfalls, die aus noch zu erörternden Gründen den Rest der Woche am Steuer saß.

Wenn man denkt, die Kurven könnten nicht enger werden, dann bietet die Gegend gerne noch ein paar Steigerungen nach dem nächsten Knick im Weg. Die Söhne freuten sich wie auf der Achterbahn, ich als Fahrer fühlte mich auch so. Dabei war unser Hof gar nicht hochgelegen, für Südtiroler Verhältnisse war der eher irgendwo da unten, ich war nur einfach nichts gewohnt. Keine Hänge, keine Haarnadelkurven, keine schmalen Gassen mit Feldsteinmauerbegrenzung.

Wir fanden unseren Hof in Kurve Nummer neun, wenn ich es richtig erinnere, für Hamburger Verhältnisse ist das eine eindeutig alpine Wohnlage. Wir erzählten allen Menschen, die wir auf dem Hof trafen, von der abenteuerlichen Fahrt, sie hörten uns milde lächelnd zu, vermutlich kennt man das dort und weiß, das gibt sich mit der Zeit. Ich möchte mal die Ekstase eines Südtirolers erleben, der an einem Nordseedeich mehrere Kilometer schnurgeradeaus fahren kann, mit getrockneten Schafschiethubbeln als einziger Steigung, das wäre ein fairer Ausgleich für solche Erfahrungen.

Wir stiegen aus dem Auto, und während die Söhne aufgeregt über den Hof liefen, um zu verifizieren, dass es dort wirklich einen Pool gab, wie im Prospekt angegeben, blieb ich in einer Wolke aus Lavendelduft stehen. Nun habe ich Lavendel schon öfter im Leben gerochen, in Travemünde hat man damals reichlich davon angepflanzt, den pflückten die alten Damen im Vorbeigehen aus den Blumenkübeln an der Promenade und legten ihn in ihre Kleiderschränke. Aber das hier war doch etwas anderes. Das war eine Duftintensität, die ich so noch nicht erlebt hatte, das war sonnendurchglühter Lavendel, der so intensiv duftete, dass es schon unter Drogenkonsum fiel, daneben stehen zu bleiben. Eine Hundertschaft von Hummeln wippte träge auf den Blüten, man bekam sofort Lust, sich auf eine Liege neben diese Blüten zu legen, mitten hinein in diese betörende Parfümwolke, und dem Summen der Hummeln zuzuhören, ihrem sachten Wippen zuzusehen und langsam wegzudämmern, den Blick auf die am Abend immer blauer werdenden Berge. Das habe ich im Laufe der Woche dann auch gemacht, und schon diese eine Liege neben dem Lavendel wäre für mich Grund genug, da noch einmal hinzufahren.Ich habe es ja nicht so mit der Entspannung, aber doch, das hatte was.

Die Söhne fanden den Pool.

Pool

 

Wir fanden unsere Wohnung, trugen das Gepäck hinein und stellten nur kurz fest, dass auch die Wohnung genau so aussah, wie wir uns das vorgestellt hatten. Nämlich schön. Schön im Sinne von “Holla! Das ist aber echt schön hier.”

Die Bauern haben ihr jahrhundertealtes Haus in Ferienwohnungen umgewandelt und sich selbst ein neues Haus gebaut. Wir waren im alten Gemäuer, das innen einigermaßen spektakulär neu gestaltet worden ist. Da wurde beim Innenausbau teils altes Stadlholz, das seit Jahren auf dem Hof lag,  zu modernem Mobiliar verarbeitet, da wurden die alten, rohen Steinmauern in die Gestaltung einbezogen. Und das wollte ich immer schon einmal, wenigstens einmal im Leben in so eine Designwohnung, in eine Bleibe, die man tagelang gerne immer wieder ansehen möchte, weil sie so fehlerfrei wirkt, also ganz anders als die eigene Wohnung. Ich habe überhaupt nichts gegen ganz normale Ferienwohnungen, aber das war schon etwas anderes, den Urlaub in einer so durchdachten, durchdesignten und maßgeschneiderten Wohnung zu verbringen, das war seltsam erholsam. Auf eine Art, die ich sonst gar nicht kenne. Die Herzdame neigt als Nordostwestfälin natürlich nicht zu lobenden Erwähnungen, meinte aber nach einem Rundgang durch die Wohnung doch: „Sogar der Föhn taugt was“. Das entspricht einer überaus wahrmherzigen Fünf-Sterne-Bewertung, wenn man es nur richtig überträgt.

Bei der Innenfotografie habe ich zwar elend versagt, man sieht beim folgenden Link aber hoffentlich ganz gut, was ich meine, es sind die Wohnungen des Oberglunigerhofs.

Dann mussten wir allerdings sehr schnell etwas essen und fragten nach der nächsten Möglichkeit im Ort, ich wollte keinen Meter mehr fahren.

Tscherms

 

(Übrigens ein Sohn-II-Suchbild)

Aus der Antwort ergab sich dann gleich ein praktischer Reisetipp. Und nachdem ich jetzt schon mehrfach vom Südtiroler Essen geschwärmt habe, kommt jetzt etwas ganz anderes, jetzt kommt nämlich Pizza. Denn wenn die ganze Familie wilden Hunger hat, diesen Hunger, der kurz davor ist, ein echtes Problem für den Rest des Abends zu werden, dann ist Pizza bei uns immer die richtige Wahl. Die Söhne essen beide Pizza, das kann überhaupt nicht schiefgehen, das geht in solchen Momenten vor. Und, natürlich, Südtirol gehört zu Italien, die können da Pizza. Und sie geben sich Mühe damit.

Die Pizzeria Helden in Tscherms, auf der Durchfahrt von Bozen nach Meran gut zu erreichen, sie liegt direkt am Weg. Gute Pizza zu sehr netten Preisen, im Haus eine erstaunlich große Spielecke für Kinder, für Eltern ist es immer gut, so etwas zu wissen. Und wenn man abends noch ein Getränk in der Ferienwohnung braucht, das bekommt man da auch zum Mitnehmen.

Pizzeria Helden, Gampenstraße 15, Tscherms.

Pizzeria Helden

 

Die Bilder, die ich auf dem Fußweg zurück und hinauf zum Oberglunigerhof gemacht habe, sind größtenteils erheblich verwackelt. Entweder haben die zwei Bier in der Pizzeria deutlich Wirkung gezeigt, oder es gab an diesem Abend seismische Aktivität, wobei es eher unwahrscheinlich ist, dass ich zwei Bier nicht vertrage.

Berge bei Tscherms

 

Vielleicht war ich aber auch einfach nur etwas aufgeregt wegen der Aussicht überall, die fand ich nämlich wirklich umwerfend.

Berge bei Tscherms

 

Am Rande sei erwähnt, dass Sohn I diesen Abend als Beginn seiner eigenen Aufzeichnungen gewählt hat, die uns hier natürlich nichts angehen. Ich darf aber den Anfang zeigen:

Notizbuch Sohn I

 

Am nächsten Tag wollten wir mal eben zum Schloss hinaufgehen. Aber “mal eben” und Berge vertragen sich nur begrenzt, haben wir dann gelernt. Dazu in Kürze mehr.

Berge bei Tscherms
Roter Hahn

Südtirol – die Schuhfrage endgültig geklärt

Bevor ich zu unseren Erlebnissen in Südtirol komme, muss ich noch auf einen besonderen Aspekt eingehen, der sich mit einem gewissen Zwang aufdrängt, wenn man über diese Gegend spricht. Und zwar entsteht der Zwang aus den Gesprächen, die man im Vorwege mit anderen Leuten führt. Man erzählt so nebenbei, dass man da hinfährt – und dann passiert etwas, auf das man wetten kann. Sagen wir, einen dreistelligen Betrag. Sehr geringes Risiko. Denn der Gesprächstpartner, wer immer es sein mag, wird garantiert einen Satz sagen, der das Wortpaar “festes Schuhwerk” beinhaltet. Und zwar wird er es so sicher sagen, als gäbe ein Gesetz, das ihn bei Strafandrohung zu dieser Bemerkung verpflichten würde.

Ich: “Wir fahren ja nach Südtirol.”

X: “Oh! Festes Schuhwerk!”

Als würde das Reiseziel Südtirol jeden Menschen automatisch in einen leidenschaftlichen Wanderer verwandeln, als würde einem bei der Planung schon ein Rucksack wachsen, als würde man dort nur über steile Wanderwege vom Parkplatz zum Restaurant kommen. Das habe ich schon einmal erlebt, dieses seltsam zwanghafte Erwähnen eines Reisehinweises, das kam auch hier im Blog schon einmal vor, es ist Jahre her. Da ging es um Reisen nach Mallorca, denn wenn man Mallorca sagt, dann sagt irgendjemand Mietwagen. Immer.

Das feste Schuhwerk also. Dahinter steht die Grundannahme, Südtirolreisen seien ohne Wanderschuhe quasi ungültig, dahinter steht der Gedanke, man könne da nicht hin, ohne vorher im Outdoorgeschäft etwa ein Monatsgehalt für Spezialschuhe ausgegeben zu haben. Das ist Unsinn.

In dieser Familie bin ich der einzige Wanderschuhinhaber. Die Herzdame lehnt Wanderschuhe aus ästhetischen Gründen rundweg ab, ich lehne es kategorisch ab, Kindern Wanderschuhe zu kaufen, aus denen sie vermutlich schon nach der nächsten kräftigen Mahlzeit wieder herausgewachsen sein werden. Es hat natürlich keinen Sinn, als einziger in der Familie Wanderschuhe zu tragen, ich renne der Truppe ja nicht dauernd 20 Kilometer voraus und erkunde das Gelände. Übrigens schon deswegen nicht, weil ich nie wieder zurückfinden würde, aber egal. Es hat noch einen weiteren Grund, warum wir keine Wanderschuhe dabei hatten, einen ziemlich speziellen Grund, und der findet sich in der Geschichte der Beziehung von der Herzdame und mir und auf Madeira.

Die Herzdame ist nicht besonders nachtragend, aber der Vorfall, um den es hier gleich geht, ist noch keine zwölf Jahre her, der ist für eine Nordostwestfälin also noch recht präsent. Damals reisten wir als noch frisches Paar nach Madeira, so ein Last-Minute-Trip, den wir uns gerade eben leisten konnten. Der allererste gemeinsame Urlaub. Und erst auf der Insel stellte die Herzdame fest, dass ich keine Badesachen, sondern nur Anzüge mithatte, denn mir lag es damals fern, einen Strand oder eine Badestelle zu besuchen. Nein, auch nicht gemeinsam, geh mir weg mit Strandromantik, ich war da recht klar positioniert. Das führte zu so lebhaften Auseinandersetzungen, dass ich mir schließlich noch auf Madeira und unter Protest eine Badehose gekauft habe, die erste überhaupt nach der Travemünder Zeit. Und sogar mit ihr baden ging. Und mit dem Sonnenbrand meines Lebens schmollend am Ufer saß. Ich war einfach noch nicht reif für Badespaß. Travemünde war nicht lange genug her.

Und weil ihr dieses Reiseerlebnis noch so präsent war, stand für die Herzdame von Anfang an fest, dass sie mit Flipflops in die Berge fahren würde. Der Mann im Anzug am Meeresufer, die Frau in Sandalen auf dem alpinen Wanderweg, das klang für sie endlich nach einem fairen Ausgleich. Eine etwas spezielle Form von Auge um Auge, vielleicht aber doch auch nachvollziehbar.

Und es ist tatsächlich so – Südtirol ohne festes Schuhwerk ist überhaupt kein Problem. Zumindest im Meraner Land, wir haben nur diesen Teil von Südtirol besucht, ich kann über die anderen Täler nichts sagen. Es gibt überall, wirklich überall, gut ausgebaute Wege, die man genau so gut als Spazierweg wie als Wanderweg betrachten und nutzen kann. Es laufen überall Menschen in Heavy-Duty-Outdoorausrüstung neben Menschen in Sandalen und Shorts herum, das passt beides und stört sich nicht. Selbst auf zweitausend Metern Höhe, etwa bei Meran2000, kann man noch gelassen spaziergehend wandeln, es ist wirklich überhaupt kein Problem.

Wanderweg Südtirol

 

Festes Schuhwerk braucht, wer sportlich und hoch wandern möchte, was man aber ohnehin nicht macht, wenn es 35 Grad warm ist und man zwei kleine Kinder dabei hat. In Südtirol kann man gerade im Sommer ganz phantastisch Urlaub machen, ohne zu wandern. Wir haben es ausgiebig getestet, es funktioniert. Man kann dort auch einfach nur alle paar Meter herumstehen und Gegend ansehen, das geht sogar mit Kindern, so toll ist die Gegend da. Und die Kinder können dabei auch ruhig barfuß sein, das hat Sohn II eine ganze Woche lang fast komplett durchgehalten. Ohne Probleme. Na gut, einmal ist er auf eine Biene getreten, das war etwas anstrengend für alle Beteiligten. Aber man kann Südtirol tatsächlich auch einfach wegen des Essens bereisen, das Essen ist sensationell, ich berichte darüber später noch ausführlicher. Und es ist vollkommen latte, welche Schuhe Sie beim Essen anhaben.

Wenn Sie über Südtirol reden und jemand murmelt “festes Schuhwerk” – Sie wissen Bescheid. Geben Sie das Geld lieber für Essen aus. Und gehen Sie, wie Sie immer gehen.

Roter Hahn

 

 

Seehamer See – Tscherms

Auf der weiteren Fahrt ist dann nicht mehr viel passiert. Abgesehen von einem kleinen Zwischenfall irgendwo zwischen dem Seehamer See und der Grenze zu Österreich. Da gab es plötzlich ein markerschütterndes Geschrei von der Rückbank. So ein Geschrei, bei dem man als Fahrer sofort zusammenzuckt, den Kopf einzieht und hektisch nach der Standspur sieht, nach dem Knopf für die Warnblinker und auch in alle verfügbaren Spiegel, um herauszufinden, worum es hier eigentlich gerade geht. Unfallgefahr? Wespenstich? Spinne auf dem Sitz? Monster? Marienerscheinung?

Es waren dann aber nur die Berge. Die Söhne hatten am Horizont die ersten richtigen Berge ihres Lebens gesehen, die ersten Berge, die diesen Namen auch verdienten. Die ersten Grüße der Alpen. Und wenn man noch nie Berge gesehen hat, wenn man noch gar nicht verstanden hat, wie hoch die wirklich sein können, wenn man im Grunde den Hügel neben einer Kiesgrube immer schon im engeren Bergverdacht hatte, wenn einen so ein Steinriese also völlig unvorbereitet trifft – dann kann man schon mal ausflippen.

Sohn I hat spontan beschlossen, sich diesen Anblick lebenslang zu merken, weil ihn bis zu diesem Moment noch nie etwas landschaftlich so oder überhaupt beeindruckt hat: “Das will ich mir merken, genau so.” Mit ausgestrecktem Finger in die Ferne weisend, zur Zackenlinie des Gebirges. Sohn II saß mit offenem Mund und konnte bis Südtirol den Anblick nicht glauben, völlig verzückt auf Bergspitzen starrend, auf Burgen, Bergbauernhöfe, Almen, Brücken, Serpentinen, er wies mich auf alles kreischend vor Begeisterung hin.

An der Autobahn in Österreich steht ein großes Schild: “Grüß Göttin”, ich konnte im Vorbeifahren nicht so schnell erkennen, ob es per Hand übermalt worden ist oder tatsächlich so sein soll. Kann das offiziell sein?

Guck an. Tatsächlich.

Und sonst: Tempolimit in Österreich und Italien. Eine schöne Sache, es fährt sich so entspannt, ich mag das. Kann man meinetwegen gerne sofort auch hier einführen, aber damit macht man sich bekanntlich keine Freunde. Das ist in etwa so, als würde man in den USA das Waffenverbot durchsetzen wollen.

Dann kamen wir in Tscherms an. Tscherms in Südtirol, Meraner Land.

 

In der aktuellen Nido …

… gibt es erstens eine weitere Folge der Interviewreihe „Was machen die da“ in gedruckter Version. Isa und ich haben Eleonore Gregori befragt, die Programmleiterin der Pixi-Bücher. Etwas mehr dazu hier.

Nido-Magazin

 

Zweitens habe ich für diese Ausgabe eine Wirtschaftskolumne geschrieben, oder zumindest etwas in der Art. Es geht um eine Frage, die immer interessanter wird, je länger ich darüber nachdenke – wieso erziehen wir eigentlich unsere Kinder zu Fairness und Gerechtigkeit, wenn wir doch alle akzeptieren, in einer unfairen, himmelsschreiend ungerechten Gesellschaft zu leben? Was läuft da eigentlich falsch?

Nido-Magazin

Seehamer See

Wir fuhren morgens von Reichertshausen aus los, Richtung Südtirol. Ich dachte während der Fahrt über ein Thema nach, dass mir kürzlich auf Twitter zugeworfen wurde, da hat nämlich jemand vorgeschlagen, ich finde leider gerade nicht wieder, wer es war, Isa und/oder ich sollten “White-Rabbit-Reisen” machen und darüber schreiben. Das bezieht sich natürlich auf Alice im Wunderland, es gibt hier im Urban Dicitonary eine schöne Erklärung der vermutlich ohnehin bekannten Phrase “Follow the white rabbit”. Man kann es natürlich für Reisezwecke ein wenig umdefinieren und deuten, was das weiße Kaninchen unterwegs sein könnte. Die Kinder können Hinweisgeber der besonders irrationalen Art sein, sie sollten es sicherlich auch sein, wenn man als Familie unterwegs etwas Spaß haben möchte. Die sozialen Medien können ebenfalls Spuren legen, das klappt übrigens auch faszinierend gut. Man schreibt auf Twitter “Meran” und Minuten später schreibt jemand, wo man da hingehen soll. Und alle Arten von mehr oder weniger absurden Zufällen und Bekanntschaften unterwegs sind natürlich auch genau richtig.

Man kann sich grundsätzlich entscheiden, solchen Hinweisen gegenüber aufgeschlossen zu sein, wir haben das in Südtirol, vor allem in Meran so gemacht – und es hat sich gelohnt, dazu später noch mehr. Man kann ausdrücklich offen für Zufälle und Ablenkungen sein, für Irrwege, Abbiegungen und Absonderliches. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gefällt mir dieser Gedanke des immer wieder zufallsgesteuerten Reisens, da muss ich noch mehr versuchen, ich bin viel zu organisationsbesessen. Und deswegen ärgert es mich immer noch, dass ich den kleinen weißen Kaninchen in Gestalt der Söhne am Autobahnparkplatz Seehamer See nicht gefolgt bin.

Wir haben von München an Stau gespielt, bis zur Grenze immer wieder in allen Versionen, kurz, lang, Stop-and-go, halbstündiges Rollen bei 30 km/h, was man sich nur an Fahrnichtvergnügen ausdenken kann, am Straßenrand ein Blechschaden nach dem anderen. Es war ein allgemeines Reisewochenende, das war uns vorher klar, Spaß machte es dennoch nicht, wie überhaupt Autofahren eher nie Spaß macht, finde ich.

Am Seehamer See, noch gar nicht weit von München entfernt, mussten die Kinder mal aus dem Auto. Wenn man dort etwas über den Platz geht, sieht man am unteren Ende des etwas abschüssigen Geländes einen Weg, der zu einer Straße führt. Und hinter der Straße ist ein See. Das sieht dort landschaftlich hübsch aus, da stehen Bootshäuschen am Rand, da gibt es freundlich begrüntes und bewaldetes Ufer – und badende Menschen. So etwas erwartet man nicht gerade an einem Autobahnparkplatz, meistens sind hinter Autobahnparkplätzen nichts als Leitplanken, Zäune und Gegend, ohne Wege und Attraktionen.

Es ist also so, dass man auf diesem Autobahnparkpatz hält und 100 Meter weiter in einen Badesee steigen kann. Einfach so, direkt hinter dem Parkplatz. Eine wirklich einladende Stelle, genau vor uns badete gerade ein Pärchen, das einen winzigen und sehr vergnügten Hundewelpen zwischen sich hin- und herschwimmen ließ, eine Szene, die für Sohn II Tage später noch ziemlich wichtig werden sollte, über dieses Bild hat er lange nachgedacht.

Natürlich, wir hätten da einfach baden sollen. Stundenlang, wenn es denn Spaß gemacht hätte, und keine Frage, das hätte es. Aber Herr Buddenbohm hatte ja einen Plan, der Plan beinhaltete ein Ziel und natürlich eine Tageszeit. Herr Buddenbohm wollte also weiterfahren. Die Herzdame war etwas unentschieden, die Söhne dann eher ziemlich bedröppelt, als wir sie wieder zum Auto zogen. Wir stiegen wieder in das glühende Auto und fuhren im Schneckentempo weiter nach Süden. Das war dumm. Ein, zwei Stunden hätten der Reise nicht geschadet, im Gegenteil.

Und ich kann mir jetzt Gedanken machen, wie wir noch einmal zum Seehamer See kommen. Schlimm.

 

Kloster Scheyern

Türklopfer Kloster Scheyern

 

Das Kloster Scheyern ist eine Benediktinerabtei im gleichnamigen Ort. Da kommen übrigens auch die Wittelsbacher her, die mit der Geschichte des Kloster viel zu tun haben. Für die Region und auch für Bayern also ein besonderer Ort und nicht nur ein Kloster unter vielen.

Es klingt vielleicht nicht so spannend, mit Kindern zu einem Kloster zu fahren, die Erfahrung zeigt aber, das kann man sehr gut machen. Besonders, wenn man norddeutsche Kinder dabei hat, die eine derartige Prachtentfaltung überhaupt nicht gewohnt sind. Denn die Anlage ist schon auf den ersten Blick reich, pompös, mächtig, riesig und beeindruckend – und zwar in einem Ausmaß, dass Sohn I nach einigen Minuten Bedenkzeit schon auf die Frage kam, wie denn bitte die Kirche so viel Geld haben könne, was den mit den Armen sei und überhaupt?

Kloster Scheyern

 

Kopfschütteln beim Nachwuchs, gleichzeitig fanden die Söhne das Bauwerk aber schon auch schön. Eine seltsame Sache, aber schön. Und so nett angemalt, das fanden sie auch gut, das mit der Farbe.

Kloster Scheyern

 

Das Kloster ist noch in Betrieb, gar kein Museum wie sonst immer alles aus dieser Zeit,das fanden sie höchst irritierend.

Kloster Scheyern

 

Kloster Scheyern

 

Das hebt so einen Bau auf eine ganz andere Dimension der Echtheit, das wird dann sofort mit anderen Augen gesehen. Kein Museum, keine Attrape, kein Plastik, keine Show!

Portal Kloster Scheyern

 

Und der Papst war auch schon da, singe ich im Geiste vor mich hin, denn das war er wirklich, zumindest der vorige, wie man auf den Schildern dort lesen kann, auf denen sogar stolz verzeichnet ist, welche Wanderwege er gegangen ist.

Die Wanderwege sind teilweise auch Pilgerwege, ein Zubringerweg zum Jakobsweg ist dabei, da hatten wir dann wieder viel zu erklären. Das Ziel des Pilgerns leuchtete den Söhnen nicht ganz ein, aber die Sache mit der Muschel als Wegzeichen, die fanden sie gut. Kinder lieben Geheimzeichen, das klappt immer. Und bis zur nächsten Muschel zu laufen, das klingt dann doch nachvollziehbar. Schnitzeljagd in ganz groß.

Kloster Scheyern

 

Im riesigen Hof des Klosters ein Springbrunnen, die Söhne waren natürlich sofort drin, das hört jetzt so leicht nicht mehr auf. Vor dem Eingang der Basilika eine Hochzeitsgesellschaft, so etwas ist natürlich auch immer interessant. Vom lautstarken Kommentieren des Hochzeitskleides konnten wir die Söhne gerade noch abhalten, es sagte ihrem Geschmack leider nicht zu.

Kloster Scheyern

 

Ebenfalls abhalten mussten wir sie vom naheliegenden Verlangen, diese Glocke mit größeren Steinen zu bewerfen, um den Klang zu erleben.

Kloster Scheyern

 

Zu dem Kloster gehört ein Gut von beträchtlicher Größe, das Gut ist in Betrieb, eine Versuchsanstalt für die nachhaltige Nahrungsproduktion. Man kann sich dort auch herumführen lassen. Das haben wir nicht gemacht, es war schon wieder zu heiß, interessiert hätte es mich aber schon.

Gut Kloster Scheyern

 

Gut Kloster Scheyern

 

Man sieht übrigens, dass es menschenleer war, die ganze Anlage kaum besucht.

Gut Kloster Scheyern

 

Vor dem Gutshof ein Skulpturenpark, der lohnt auch einen Abstecher (vom Kloster 10 Minuten zu Fuß), denn Skulpturen finden Kinder in aller Regel super.

Skulpurenpark Kloster Scheyern

 

Skulpurenpark Kloster Scheyern

 

Ist das schön, warum ist das schön – und wenn es nicht schön ist, warum macht das dann erstens jemand, warum stellt man es zweitens dahin, wo sich drittens jemand dann all das fragen muss? Kunst ist ein endloses Thema.

Skulpurenpark Kloster Scheyern

 

Und können sie irgendwann auch so gut schnitzen? Wenn sie viel üben?

Skulpurenpark Kloster Scheyern

 

Vor dem Kloster auch ein altes Brauhaus, ein Schild weist darauf hin, dass hier Solarbier gebraut wird – also die Anlagen nur mit regenerativer Energie betrieben werden. So ein Koster kann eine ziemlich moderne Angelegenheit sein.

Brauhaus Kloster Scheyern

 

Und zum Kloster gehört auch ein Biergarten. Der erste Biergarten, den die Söhne gesehen haben, das Prinzip kannten sie so überhaupt nicht. Stühle und Tische auf Schotter unter Bäumen, Kellnerinnen und Kellner in Tracht, Brezeln ungeheuerlichen Ausmaßes. Getränke gibt es nur in Übergröße und niemanden stört es, wenn sie neben dem Tisch weiter an ihren Stöckchen herumschnitzen oder wenn sie zwischen den Tischen herumlaufen. Das Prinzip Biergarten fanden sie sehr überzeugend, das dürfte gerne auch bei uns öfter vorkommen. Mit Tracht und allem.

Gegessen habe ich dort ein Brauburschenbrotzeit, schon weil “Buddenbohm isst Brauburschenbrotzeit” so einladend klang. Die Platte reichte für mich und die Kinder, Brauburschen müsssen sehr viel Hunger haben. Sohn II aß noch ein paar Weißwürste dazu, er ist schon lange ein großer Fan dieser Spezialität. Sehr gute Auswahl, sehr guter Preis, den Biergarten sollte man aufsuchen, wenn man dort in der Nähe ist, das lohnt auch einen Umweg – Klosterschenke Scheyern (sorry, Link kaputt).

Brauburschenbrotzeit

 

Am nächsten Tag fuhren wir weiter nach Südtirol und haben unterwegs etwas ausgelassen, was mich immer noch ärgert.

 

 

Reichertshausen

Reichertshausen im Landkreis Oberpfaffenhoffen, das klingt als Reiseziel vielleicht etwas originell. Und tatsächlich wären wir da auch gar nicht gewesen, hätten wir dort nicht Verwandtschaft, die erstens supernett ist, die man zweitens viel zu selten sieht, und die drittens strategisch äußerst günstig wohnt, wenn man auf der Route nach Italien Station machen möchte. Und das wollten wir, denn Südtirol ist mit Kindern etwas schwierig zu erreichen, wenn man in Hamburg wohnt und einem der Kinder beim Autofahren immer schlecht wird. Wir wollten nicht tagelang mit dem Auto fahren, deswegen haben einen Teil per Zug gemacht. Wir wollten aber auch nicht mehr als sechs Stunden im Zug verbringen und vor Ort in Italien möglichst beweglich sein, deswegen haben wir den zweiten Teil der Strecke mit dem Auto absolviert. Und das würden wir vermutlich auch wieder so tun, auch wenn man recht lange braucht.

Wir fuhren von München aus bald über Landstraßen, es wurde ziemlich hügelig, wenn auch noch nicht ausgesprochen bergig, aber doch immerhin so hügelig, dass man stellenweise so etwas wie Fernblick hatte. Sagen wir einen mittelweiten Fernblick. Einen mittelweiten Fernblick über eine traumschöne Sommerlandschaft, in der natürlich bayerische Häuser standen, bayerische Kirchen in den Himmel ragten, rotbunte Kühe weideten. Die Söhne waren komplett hingerissen, die kannten so etwas nicht, es sind eben Kinder der norddeutschen Tiefebene.

Laut Sohn I, der förmlich am Autofenster klebte, war es um uns herum “schön wie in Nangilaja”, also wie im Heckenrosental aus den Brüdern Löwenherz von Astrid Lindgren, das war ein Kompliment von beträchtlicher Größe. Wir hielten Ausschau, wo Tengil wohnen könnte, wir stellten uns vor, das Auto sei eine Kutsche und am nächsten Hügel würden Reiter warten, wer weiß, von welcher Truppe. Es war eine spannende Fahrt.

Ich habe es nicht recherchiert, ob der Landkreis Oberpfaffenhofen sonst viel zu bieten hat, aber Landschaft können sie da. Und Hopfen, Hopfen können sie auch. Das weltgrößte (?) zusammenhängende Hopfenanbaugebiet, irgendein Superlativ in der Richtung war es. Wir haben den Hopfen am Abend selbstverständlich feierlich gewürdigt, denn man soll immer regional trinken, das ist ganz wichtig.

Hopfenschnaps

 

Die Verwandten haben einen Garten, im Garten war ein winziger Springbrunnen, in den sich die Söhne sofort gesetzt haben. Das haben sie in Berlin gelernt, da sieht man wieder, dass Reisen wirklich bildet. Ein kleiner Garten, ein kleiner Springbrunnen, ein Wasserschlauch  – genug für stundenlangen Kinderspaß. Das sind die Szenen, mit denen man bei der Urlaubsplanung gar nicht rechnet, weil man als Erwachsener auf Reisen immer nach Attraktionen sucht und versucht, möglichst viele einzuplanen, während die Kinder einfach welche finden. Überall. Und vermutlich reist man als Familie klüger, wenn man sich immer noch mehr nach dem richtet, was die Kinder da finden. Ich habe immer noch zu viel Planungsehrgeiz, das muss sich ändern.

Wir sind zwei Nächte bei den Verwandten geblieben, die Söhne hätten den Aufenthalt gerne noch verlängert.

Gefunden hat Sohn II dort in dem kleinen Garten allerdings auch eine schmale Treppe hinterm Haus. Und die hat er so überraschend gefunden, dass er sie im Steilflug hinabstürzte und dann kopfüber in dem Busch links unten landete. Aber Chuck Norris und Sohn II, die friemeln sich nach so einem Sturz einfach die Nadeln aus dem Körper und laufen dann weiter. Wobei er seit diesem Sturz aber konsequent oben ohne herumlief, weil er so coole Schrammen hatte. Man muss auf sein Image achten und es pflegen, auch mit fünf Jahren schon.

Gartentreppe

 

Von diesem Zwischenfall abgesehen waren die Söhne sehr zufrieden mit Bayern, sie fanden die Reise an diesem ersten Abend schon sehr lohnend und erfreulich. Nur als unsere Gastgeber nach dem stundenlangen Springbrunnenbad Handtücher mit FC-Bayern-München-Aufdruck reichten, mussten sie sich doch auf ihre norddeutsche Ehre besinnen – und ablehnen. Bevor man sich mit so etwas abtrocknet, geht man lieber nass und trotzig “Pauli!” murmelnd ins Bett, soviel Lokalpatriotismus muss schon sein.

Am nächsten Tag besuchten wir das Kloster Scheyern.Mehr dazu in Kürze.

 

 

Hamburg-München (2)

Der Zug hielt in Fulda und ich hatte also tatsächlich die Gelegenheit, den hier erwähnten Tweet zu posten, das kam dann doch wesentlich schneller als gedacht. Wobei ich gerne zugebe, dass er so ein Kracher nun auch nicht ist, aber er ist eben alles, was ich zu Fulda überhaupt habe.

 

Abgesehen von dieser Szene weiß ich von Fulda rein gar nichts mehr, es ist schon ein paar Jahrzehnte her. Es war da hügelig – mehr fällt mir nicht ein. Ich habe mir Bilder der Stadt angesehen, nichts kommt mir bekannt vor. Aber auf Klassenfahrten interessiert man sich auch nicht für Gebäude. Ich weiß natürlich noch gut, wie das Mädchen aussah, in das ich verliebt war. Ich sehe sie noch vor mir, schlafend im Bus, wie das Haar ein wenig über ihr Gesicht fiel, wie ihr T-Shirt an der Schulter etwas verrutscht war, wie ihre Finger beim Einschlafen an der ledernen Halskette spielten. Und ich erinnere mich noch an die Musik, an dieses damals dauerpräsente Vamos a la playa, an Everything counts von der Gruppe Depeche Mode, deren Mitglieder damals außerordentlich interessante Frisuren hatten, die allen Jungs sehr erstrebenswert schienen. Die Frisuren waren noch interessanter als die Musik, wenn ich so darüber nachdenke. Ich habe einen solchen Haarschnitt dann doch nie im Leben gehabt, das sind die kleinen Niederlagen.

Man kommt drüber weg, ich bin mit meiner Frisur heute ganz zufrieden. Und habe jetzt nach all der Zeit wieder einen gepflegten “Vamos a la playa”-Ohrwurm, das ist auch nicht schön.

Ansonsten wirbt Fulda heutzutage mit dem “Slogan “Barock & Business”, da fallen einem viele schöne Bilder ein, wenn man über diese Begriffskombination nachdenkt. Nach Burnout klingt das gewiss nicht, aber nach Potentaten in Konferenzraumsesseln, Durchlaucht in der Telco und absolutistischen Hierarchien.

Business Punk gibt es als Magazin für eher junge Menschen im Business, Business Barock könnte das Coffeetablemagazin für die älteren und erfolgreichen, die sogar sehr erfolgreichen Player sein. Hemmungslos herumprotzen, Vasallen herumscheuchen, sich gigantische Denkmäler bauen, in goldenen Kutschen fahren! Da geht doch was. Und wenn der Businessbarock dann irgendwann in ein neues Rokoko mündet und Schäferspiele im Großraumbüro aufgeführt werden – das könnte wirklich interessant werden. Aber so ist das natürlich nicht gemeint, schon klar.

Der Zug hielt dann noch außerplanmäßig in Ansbach, ich schrieb schnell einen Ansbach-Tweet – und konnte ihn nicht senden. Der Zug rollte schon wieder an, es waren nur noch Sekunden, bis das Netz vollkommen weg sein würde, wie bei jeder verdammten Zugfahrt in Deutschland, ich bekam schon etwas Panik. Da hatte ich gerade das Problem mit dem Fulda-Tweet gelöst, nur um einen mit Ansbach auf ewig in meinen Entwürfen zu haben? Was für eine Vorstellung! Er ging aber doch noch raus. In der allerletzten Sekunde. Ich weiß nicht, wie ich es sonst jemals wieder nach Ansbach geschafft hätte, um ihn loszuwerden, man will so etwas doch nicht lebenslang im Speicher haben.

Muss man zu Ansbach irgendwas wisssen? “Ansbach ist in Westmittelfranken”, das klingt fast so schön wie Nordostwestfalen. Immerhin!

Nach Ansbach wurde es minütlich immer wärmer im Zug, vielleicht war das doch noch das legendäre Klimaanlagenproblem im ICE, von dem man immer hört. Ein allgemeines Wegdämmern setzte ein, sinkende Augenlider wohin man auch sah, bis der Zug endlich München erreichte und schon ab dem Stadtrand nur noch in Schrittgeschwindigkeit fuhr, man konnte sich innerlich wirklich gründlich auf das Aussteigen vorbereiten. Den Teil mit der Gluthölle in der Stadt und den ähnlichen Beschreibungen lasse ich weg, das kann sich mittlerweile jeder denken. Heiß eben. Wie neuerdings fast immer. Die Familienkarawane zog mit den Gepäckstücken, die vermutlich immer noch sieben waren, sich aber so anfühlten, als hätten sie sich während der Fahrt vermehrt, durch den Bahnhof und suchte die Autovermietung. Die kann man in München lange suchen, die ist bemerkenswert gut versteckt und sicherheitshalber auch nicht ausgeschildert, da ist die Freude riesig, wenn man sie endlich findet. Klimatisiert ist sie, wer an heißen Tagen in München Abkühlung sucht, sollte einfach mal so tun, als würde er am Bahnhof ein Auto mieten wollen. Das erfrischt.

Wir wühlten uns durch den Papierkrieg und die Anmeldeprozedur, dann mussten wir weitergehen, nach “gleich da vorne”, wie die freundliche Dame von der Autovermietung so einladend sagte und vage in die Gegend vor dem Bahnhof zeigte. “Gleich da vorne” ist aber für schwer bepackte Familien ganz schön weit, ganz schön heiß, ganz schön anstrengend. Das gilt übrigens generell auf Reisen mit Kindern, all diese Wegbeschreibungen und Zeitangaben sind Unfug und unbrauchbar, man braucht für alles viel mehr Zeit als in den Reiseführern steht. Immer. Dramatisch viel mehr Zeit. Es ist nie etwas “gleich da vorne”, es sind nie “nur 5 Minuten”, man macht nie etwas “mal eben”.

Wir suchten das Parkhaus, wir suchten im Parkhaus das Auto, wir luden alles ein. Das dauerte erstaunlich lange, zumal wir auch noch Kindersitze einbauen mussten, es war ein endloses Gefummel. Als endlich alles fertig war, haben wir erst gemerkt, dass es das falsche Auto war, es war nämlich kein Automatikwagen. Ich bin in den letzten 30 Jahren nur Automatikwagen gefahren, ich habe nicht vor, im Urlaub wieder Getriebe zu studieren, womöglich noch am Berg. Automatik ist super. Ich habe nie verstanden, warum alle Deutschen so gerne schalten, ich halte das ja für einen seltsamen Kollektivklaps, aber egal.

Wir haben also alles wieder ausgeladen und die Situation mit der Autovermietung geklärt, zu der man natürlich erst zurückgehen musste, was noch einmal eine Dreiviertelstunde dauerte, in der die Kinder größtenteils etwas apathisch, hungrig und durstig im Parkhaus auf dem Boden saßen und München tendenziell ziemlich doof fanden.

Dann wurde uns ein anderes Auto zugewiesen – und das Auto, das einzige, das wir überhaupt noch bekommen konnten, war dann wohl der kleine ironische Schlenker des Schicksals, den ich mir durch meine Idee verdient hatte, einmal etwas umweltfreundlicheren Urlaub zu machen. Also ohne Flugreise. Auf einem Biohof. Mit Besichtigung von weiteren Biobetrieben, regionalem Handwerk usw., ich wollte einmal etwas ganz anderes machen, als Pauschalreisen mit Flug und Halbpension. Und das Auto für uns war dann kein sparsam-sinnvolles Familienauto, sondern ein fetter SUV. Denn die Götter haben bekanntlich Humor.

Wir fuhren durch München nur durch, ganz ohne etwas anzusehen, wir wollten schnell weiter nach Reichertshausen. Bericht dazu in Kürze.

Irgendwas in München

 

Nachtrag zu gestern: Hier eine Rezension zu Vea Kaisers Blasmusikpop, das ich während der Zugfahrt sehr zufrieden gelesen habe.

 

Hamburg-München

Bozen-Krimi

 

Der Urlaub begann mit einem Kraftakt. Und damit ist noch gar nicht die sechsstündige Zugfahrt nach München gemeint, es ging schon vorher los. Denn da wir quasi direkt neben dem Hamburger Hauptbahnhof wohnen, können wir da nicht mit dem Auto oder mit der S-Bahn hinfahren, wie es normale Leute tun, nein, wir müssen da hingehen. Das ist ein kurzer Weg,  der sich aber faszinierend in die Länge zieht, wenn man auf ihm sieben Gepäckstücke und zwei Kinder trägt, hinter sich herschleift, vor sich herschiebt, rollt, zieht, was auch immer. Und, versteht sich, dazu noch eine Provianttasche ungeheuerlichen Ausmaßes. Denn aufgrund eines historisch vermutlich noch gar nicht so lange überholten Schutzinstinktes gehen Menschen – und vor allem Eltern – bekanntlich heute noch davon aus, dass man gerade auf Reisen schnell verschmachtet, und dem ist entschieden und kalorienreich vorzubeugen. Bordbistro im ICE hin oder her. Auf unserem Weg zum Bahnhof gingen wir an betenden Moslems vor einer Moschee vorbei, es war gerade der Morgen des Fastenbrechens, da war fröhliche Feststimmung am Straßenrand. Männer in arabischen Gewändern  steckten uns und den Söhnen noch mehr Proviant zu, Dattelgebäck, Mandeln und Süßigkeiten. Ich mag Multikultiviertel.

Es war am frühen Morgen schon beeindruckend warm in Hamburg, es ist überhaupt gerade dauernd so warm um mich herum, dass mir bald die Adjektive und Metaphern ausgehen. Womöglich nenne ich das Wetter dann einfach nur noch sommerlich. Früher haben wir heiße Tage ja auch nur schlicht Sommer genannt, ganz ohne jeden Beschreibungsbarock, wir hatten ja nichts! Wobei ich allerdings „es war Sommer“ nicht denken kann, ohne dass eine Maffay-Stimme in meinem Kopf „zum ersten Mal im Leben“ weitersingt, das ist auch schlimm.

Wir kamen also schon schweißgebadet am Bahnhof an, wo wir uns dann dank des beliebten Gesellschaftsspiels „abweichende Wagenreihenfolge“ in einer hysterischen Meute schwerstbepackter Reisender wiederfanden, die hektisch am Zug auf- und abliefen. Das Spiel wurde noch lustiger durch die Spaßvögel, die meinen, dass man in eine sich öffnende Zugtür immer SOFORT einsteigen muss, ganz egal , ob da noch jemand aussteigen möchte oder nicht. Es gab also in den Zugtüren gleich mehrere Knäuel verkeilter Menschen mit Koffern, Rucksäcken, Taschen – und ein allgemeines Aggressionspotential, das man so eigentlich gar nicht mitbekommen möchte, schon gar nicht am frühen Morgen. Der Kalorienverbrauch beim Einsteigen entspricht auf diese Art in etwa einer Schicht bei Blohm & Voss, und man braucht bis Hannover, um sich davon zu erholen. Wo man dann auch etwas überrascht feststellt, dass der Proviant allmählich bedenklich zur Neige geht.

Weingummi

 

Aber egal. Es gab die reservierten Plätze, es gab eine Klimaanlage, es gab einen Tisch, ich mag Zugreisen nach wie vor gerne. Der Zug war nicht pünktlich, Weichenstörungen, Baustellen, herumhängende andere Züge, aber das macht ja nichts, wenn man schon drin sitzt, das stört immer nur, wenn man draußen steht und auf den Zug wartet. Ich würde eine Zugreise jederzeit einer Autofahrt vorziehen. Zumal Sohn II im Zug nicht schlecht wird, das ist auch einen gewissen Aufpreis wert. Noch logischer würde ich es allerdings finden, wenn eine Zugfahrt deutlich billiger als eine Autofahrt wäre, soviel Öko muss schon sein.

Sohn I hatte ein Heft mit Übungsaufgaben für die Schule dabei, so eine Art Rätselblock. Das ist auch interessant, weil man heutzutage als Ganztagsschulkindvater gar nicht mehr mitbekommt, an welchen Aufgaben die Kinder gerade arbeiten. Ich führe mit Sohn I während des Schuljahrs täglich den Routinedialog auf, den Tausende anderer Eltern auch kennen werden:

Ich: „Wie war es in der Schule?“

Sohn I: „Gut.“

Ich: „Was habt ihr gelernt?“

Sohn I: „Nichts.“

Viel mehr Informationen sind ihm nicht so leicht zu entlocken, es ist eher zufällig, dass ein Gespräch zuhause doch einmal auf schulische Inhalte kommt und man dann merkt, aha, die machen da gerade was mit Blumennamen und so. Das ist ein wenig schade, weil ich doch denke, man könnte noch ein wenig mehr darauf eingehen, was sie da so treiben, aber wirklich schlimm ist es auch nicht.

„Woraus kann man Marmelade machen?“ Das war eine der Fragen in diesem Rätselblock, daneben dann Abbildungen von goldrichtigen Früchten, wie etwa Erdbeeren, und von offensichtlich falschen Gemüsesorten, wie etwa Weißkohl. Zu den richtigen Lösungen zählten allerdings auch Tomaten. Tomatenmarmelade? Bitte? Also rein technisch wird man aus Tomaten schon Marmelade machen können, keine Frage, aber dennoch – richtig fühlt sich die Antwort für mich nicht an. Und es ist vielleicht doch ganz gut, mit diesen Aufgaben normalerweise keinen Kontakt zu haben. Man würde ja aus dem abendlichen Diskutieren im Familienkreis gar nicht mehr herauskommen.

Ansonsten, keine Frage, ziehen sich sechs Stunden im Zug ganz beträchtlich. Es ist dann doch ein wenig langweilig, vor allem im norddeutschen Flachland. Eine Wiese, ein Acker, ein Busch, eine Schweinemastanlage. Repeat until Göttingen, ab da dann immerhin ein paar Hügel. Das Bordbistro ist auch nur beim ersten Besuch interessant und sich Bücher anzusehen ist nett, aber auch nicht die ganze Fahrt über. Ich mache die Augen zu und höre, was um uns herum gesprochen wird. Von links ein helles, leicht knarzendes Geräusch, mehrfach in schneller Folge, dann eine kleine Pause, gefüllt von einem erstaunten: „Hä?“. Das war ein etwa zehnjähriger Junge mit einem Rubik’s Cube, das habe ich auch lange nicht mehr gehört und gesehen. Und was ich dann auch gar nicht sehen wollte, das war die Mutter des Jungen, die irgendwann nach dem Spielzeug griff und ihrem Nachwuchs sehr souverän vorführte, wie man den Würfel zur Lösung dreht. Einfach so. Ganz fix. Ein paar Handgriffe. Das haben die Söhne nämlich auch staunend gesehen, und ich glaube, so ein Rubik’s Cube kommt mir lieber nicht ins Haus.

Weiter hinten erzählt ein Jugendlicher aus einer Klassenfahrttruppe seinem Freund, dass sein Passwort überall „falsch“ sei, denn dann würde ihn die Software bei Fehleingabe ja automatisch daran erinnern: „Ihr Passwort ist falsch.“ Perlen der Comedy, einfach so unterwegs aufgesammelt.

Ein junger Bayer drückt die Naturverbundenheit und Direktheit seiner Gegend sehr schön durch den bemerkenswerten Satz aus, den er seiner Freundin über den Gang hinweg zurief, ich bitte die eventuell nicht korrekte Schreibweise zu entschuldigen: „Wann i dahoam bin, muass i erst amoal kackn.“ So sind sie wohl, die Bayern.

Die Herzdame bereitete sich währenddessen lesend auf Südtirol vor. Ich habe im Klappentext gesehen, dass diese Kriminalromane, es gibt von dem Herrn mehrere, auch als Reiseführer geeignet sind, das wird dann vor Ort noch zu prüfen sein.

Bozenkrimi

 

Ich las, nicht ganz zu Südtirol passend, aber doch fast: „Blasmusikpop – oder wie die Wissenschaft in die Alpen kam“ von Vea Kaiser. Das habe ich auf dem Handy gelesen, das gefällt mir bisher sehr, und das kann ich auch jetzt schon empfehlen. Hervorragende Urlaubslektüre für Reisen in die Bergregion.

Direkt neben uns eine Familie, die Kniffel spielte, was mich unweigerlich an meine Jahre in Travemünde erinnerte. Wo ich im Winter Nachmittag um Nachmittag mit meiner Mutter und Hilde, der alkoholkranken Nachbarin, Kniffel spielte, wobei Hilde im Laufe der Stunden immer ordinärer und wüster fluchte, wenn die Würfel ihr nicht gefällig waren. In einer komplett verräucherten Wohnung, dicke und blaue Luft, der lederne Würfelbecher knallte immer wieder zwischen Sekt-, Bier- und Schnapsgläser auf dem Tisch, überquellende Aschenbecher daneben und jeder Punkt auf dem Blöcken immer ein Pfennig. Auf dem Sofa daneben Hans, der Mann von Hilde, mit dem immer gleichen Buch über den U-Bootkrieg auf dem Schoß, in das er allerdings kaum guckte. Ab und zu schlug er es dann doch einmal auf und sah auf ein Bild, ansonsten besah er sich stumm die Rauchschwaden, die er selbst auch ergänzte, mit unzähligen Reyno Menthol.

Das klingt nicht beeindruckend, ein Pfennig pro Punkt, das brachte aber manchmal erstaunlich viel Geld, wenn wir nur genug Stunden mit dem Spiel zubrachten. Es war auch nicht gerade schwer, gegen Erwachsene zu gewinnen, deren Konzentrationsfähigkeit irgendwann sichtlich unter Dimple oder Deinhardt litt. Aber eigenartig, aus heutiger Sicht ist das alles kaum noch vorstellbar. Es war doch eine seltsame Zeit, wenn man das jetzt so aufschreibt. Wie jede Zeit seltsam ist, wenn man sie mit ausreichend Distanz betrachtet, und sei es nur wegen der Mode. Irgendwas war immer absurd.

Dann fuhr der Zug in Fulda ein.

(Fortsetzung folgt)