Schloss Lebenberg in Tscherms/Südtirol

Die Urlaubsberichte hier haben sich etwas verzögert, da wir zwischendurch auf Eiderstedt waren. Auf der Halbinsel Eiderstedt in Nordfriesland gibt es so viel Netz wie auf dem Mond, vielleicht auch etwas weniger, es würde mich überhaupt nicht wundern. Weswegen der Urlaub hier im Blog immer noch mit Ladehemmung beim zweiten Tag Südtirol hängt und ich jetzt eine kleine Aufholjagd starte, um irgendwann auch wieder in der Gegenwart anzukommen.

Wobei nach Südtirol aber natürlich noch Eiderstedt gewürdigt werden muss, wie auch überhaupt besprochen werden muss, was so gegensätzliche Reisen direkt nacheinander nun bedeuten. Sind wir jetzt auf Normalnull? Oder völlig verwirrt? Es ist, das kann ich vorwegnehmen, kompliziert.

Schloss Lebenberg Tscherms

Das Schloss Lebenberg also, um wieder im Süden fortzusetzen, das uns bei der Anreise in Tscherms so transsilvanisch anmutend im Abendlicht entgegenleuchtete, es sah im Vormittagssonnenschein gar nicht mehr sehr beeindruckend aus. Etwas kleiner als gedacht. Etwas weniger spektakulär. Und gar nicht unheimlich. Das war ein Schloss, von dem man, wenn man direkt davor stand, gar nicht mehr so viel erkennen konnte. Mauern eben, gar nicht mal so hoch, nicht einmal aus Kindersicht. Ein weiter Blick ins Tal von den Zinnen des kleinen Vorhofs, der Blick war wirklich gut. Aber guten Blick hatte man da am Berg von überall, dafür brauchte man eigentlich gar kein Schloss. Eine kleine Tür, ganz unscheinbar, da stand etwas dran. “Nächste Führung um 11:45”, das konnte Sohn I uns vorlesen. Mit der Hand geschrieben, Kreide auf Tafel, saubere Handschrift. Ein leerer und schmuckloser Vorraum, da warteten noch zwei Touristen. Sitzen und warten also, immerhin nur zehn Minuten, da hatten wir Glück.

Dann ging die Tür zum Inneren des Schlosses endlich auf, langsam ging sie auf, und natürlich, sie knarrte ein wenig, das konnte auch gar nicht anders sein. Ein alter Mann kam heraus, er ging ganz langsam, er hatte alle Zeit der Welt. Aus Sicht der Söhne war er uralt, versteht sich. Er sah uns an, er sah die anderen beiden Wartenden an, er wirkte ein wenig, als würde er überlegen, ob sich eine Führung für uns denn auch lohnen würde. Sahen wir überhaupt interessiert genug aus? Er guckte eine Weile von Besucher zu Besucher und nickte schließlich. Dann beugte er sich zu den Söhnen, sah sie auch lange an, beugte sich dann ein wenig zu ihnen hinunter und fragte endlich höflich und mit leiser Stimme, in einem etwas leierndem Tonfall, den man wohl unweigerlich annimmt, wenn man schon Tausende von Menschen durch ein Schloss geführt hat und immer wieder gleichförmige Sätze von sich gibt, jeden Tag, immer noch einmal: “Was wünschen die jungen Ritter? Was ist Euer Begehr?”

Und damit hatte er sie. Von diesem Moment an hörten sie ihm gebannt zu, ganz egal, ob er während der Tour durch das Schloss von längst ausgestorbenen Adelsgeschlechtern sprach, von der Renaissance, von Schlossgeistern, Hieb- und Stichwaffen, gotischen Schränken, dem Rokoko oder mitttelalterlichen Fresken. Immer wieder wandte er sich während der Führung an die Jungs, sprach sie direkt an, ohne seine Erwachseneninhalte dabei abzuwandeln, aber er nannte doch immer wieder ihre Namen, die er freundlich erfragt hatte, er wies sie immer wieder leise und nebenbei darauf hin, womit sie später in der Kita und in der Schule vielleicht angeben könnten. Die Söhne waren hingerissen und fühlten sich sehr ernstgenommen. Man durfte im Schloss natürlich nichts anfassen und auf nichts herumturnen, es war zur Abwechslung einmal überhaupt kein Problem. Sie liefen lammfromm dem alten Mann hinterher, der so viel über das Gemäuer zu berichten wusste. Und das sind so die Überraschungen im Urlaub, Man denkt vielleicht, ach, Besichtigung nur mit Führung, wie langweilig ist das denn? Innen auch noch Fotoverbot? Muss das denn? Und dann ist es eine großartige Stunde, die man hinterher nicht missen möchte. Und von der die Söhne noch wochenlang reden werden.

Das Schloss Lebenberg ist in Reiseführern gar nicht so prominent, ich möchte dennoch dazu raten, es zu besuchen. Es ist ein immer noch bewohntes Schloss, aber der Teil, den man mit Führung besichtigen kann, ist rappelvoll mit Kunst und schon hinter der ersten Tür steht man vor ganz unvermuteter Pracht. Man fühlt sich dem gegenüber ohne Anke Gröner etwas hilflos, aber da muss man durch. Kunst aus etlichen Jahrhunderten, das Schloss ist alt. Und ohne dass ich es erklären könnte, man hat ja schon etliches an Kunst im Leben gesehen – das waren Stücke, die mich ansprachen. Das war eine Gesamtauswahl, die mir Geschichten erzählen wollte, das waren redende Dinge. Manchmal sagt einem ein ganzes Museum nichts, manchmal spricht eine kleine Sammlung Bände. Schloss Lebenberg Tscherms

Bei den Beschreibungen muss ich ohne Bilder auskommen, Fotos konnte man nur im Innenhof machen. In der kleinen Kapelle hängt in einem Fenster ein Bild des aufgebahrten Jesus. Es hängt seit Jahrhunderten vor einem Nordfenster, es wurde nie restauriert. Der Jesus leuchtet aber bis heute golden, einfach durch das Tageslicht, das durch ihn fällt, und er leuchtet so golden, als wäre es eine höchst effektvolle und sehr moderne Lichtinstallation. Er strahlt aus sich, man möchte wetten, dass dahinter etwas leuchtet, etwas ganz Starkes sogar – aber da ist nichts, nur der taghelle Norden. Auf die Gläubigen früherer Generationen muss das Bild mächtig Eindruck gemacht haben.

Ein gotischer Schrank steht da in einem Saal, gotische Schränke sieht man selten, man hat eher die Truhen aufbewahrt. Gotische Truhen kennt vermutlich jeder, gotische Schränke nicht unbedingt. Und, es kommt einem etwas irre vor, der Schrank sieht so absurd modern aus, den könnte man auch im Stilwerk in Hamburg bestellen, der ist allerneuestes Design. Etwas roh, etwas unbehauen, etwas schräg, urwüchsiges Holz mit deutlicher Maserung. So etwas sieht man in Modern-Living-Magazinen, das nimmt man bei der Homestory eines Architekten nebenbei wahr, das steht da im Arbeitszimmerhintergrund oder auf irgendeinem Instagrambild aus einem Coffeeshop in New York. Wir standen eine ganze Weile kopfschüttelnd vor dem Schrank, der Schrank war unglaublich.

Daneben ein Klappbett. Man muss nicht glauben, Klappbetten seien eine Erfindung von Ikea, Klappbetten sind uralt. Und das Prinzip ist immer gleichgeblieben, nur die Nupsis verändern sich vermutlich stetig und passen dann nicht mehr. Das war damals schon schlimm, es ist heute noch genau so schlimm.

Ein Reisebett aus dem Mittelalter, und man sieht den designgeschichtlichen Weg zur faltbaren Campingliege deutlich vor sich, wie in einem Bilderbuch der Möbelgeschichte. Man sieht aber auch die Knechte, die das Trumm damals tragen mussten. Und den Familienvater, der heute fluchend das Campingzubehör im Kombi verstaut.

Beim Verlassen eines Saals drückte der Schlossführer die Klinke der Tür betont langsam, dann drückte er sie noch einmal und noch einmal, bis alle es gesehen hatten – das Schloss der Tür war feinste Schmiedekunst, uralt. “Nie repariert”, sagte der Schlossführer, während seine Hand die Klinke streichelte, “geht wie am ersten Tag. Geht auch in hundert Jahren noch.” Und er sagte es so, als sei er all die Jahrhunderte dabei gewesen, als hätte er die Tür jeden Tag mehrfach geöffnet und geschlossen. Und als würde er das noch sehr lange machen wollen. Vermutlich verachtet er alle Schließmechanismen jüngeren Datums und geht überhaupt nur widerwillig durch moderne Türen.
Schloss Lebenberg Tscherms

Im Garten draußen ein ungeheuerlicher Maulbeerbaum, warum ist der so groß? Man weiß es nicht, da rätseln auch Experten, es muss am Mikroklima liegen, niemand kann es erklären. Maulbeerbäume werden nicht so groß. Der Maulbeerbaum war für Seidenraupen da, man wollte damit einmal in der Gegend das große Geld machen. Etwas später kamen die Südtiroler aber darauf, mit anderen Bäumen das große Geld zu machen, das hat dann viel besser funktioniert und die Apfelbäume stehen bis heute überall. Der Innenhof sieht so gut erhalten mittelalterlich aus, der ist oft als Filmkulisse zu sehen. Weihnachten gibt es im Ersten wieder einen Märchenfilm, der gerade dort abgedreht wurde. Ich habe vergessen, welches Märchen es war.

Wieder drinnen ein seltsam frisch wirkender Rokokosaal mit lachsrosafarbener Tapetentür, wie gerade eben erst von behandschuhter Damenhand leise geschlossen, während hinten noch das Cembalo verklang. Passt Cembalo überhaupt zu Rokoko? Was weiß ich denn. Mit Kunstgeschichte habe ich mich schon lange nicht mehr befasst, es ist eigentlich bedauerlich.

Es ist andererseits aber auch völlig egal, ich wollte nur sagen, das Schloss lohnt sich, auch wenn es in manchen Reiseführern nur gerade für eine Randbemerkung reicht. Ein kleines, prächtiges Schloss. Nur mit Führung. Und Fotografieverbot innen.

Macht nichts.

Roter Hahn

Porträt des Autors als Trottel

Man wird erstaunlich schnell zum Trottel, wirklich, das geht ganz fix. Man muss nur mal kurz nicht aufpassen, eine Entwicklung verpassen, etwas nicht interessant finden, irgendwo nicht mitmachen – und zack. Gerade lächelte man noch über Ältere, die nicht wissen, wie ein Computer angeht, schon ist man selbst der Ausgelachte. Dafür reicht es schon, ein paar Jahre das Auto nicht zu wechseln.

Wir haben uns im Urlaub in Südtirol einen Mietwagen genommen, der viel neuer als unser Auto war. Genau genommen war das Auto topaktuell, frisch vom Band. Mit jedem technischen Schnickschnack, den man sich nur vorstellen kann. Auch mit dieser Kamera hinten, die einem beim Rückwärtsfahren vorne über einen Bildschirm anzeigt, was hinter einem passiert. Das ist toll, man könnte damit lange Wege rückwärtsfahren, einfach nur, weil es jetzt so leicht geht. Man macht es dann doch nicht, aus dem Alter ist man raus, aber manche Sachen sind schon nette Erfindungen, gar keine Frage.

Dann haben wir aber gemerkt, dass wir dieses ach so tolle Auto leider nicht abschließen konnten. Keine Chance. Da konnten wir drücken und schließen, was immer wir wollten, das Auto blieb unbeeindruckt offen. Erst das satte Klicken für das Schließen, dann hat es sich sofort, noch ein Klicken, selbst wieder geöffnet. Wir standen wie komplette Idioten abends vor dem Auto, ich überlegte schon, im offenen Auto zu nächtigen, damit es wenigstens nicht nachts geklaut werden konnte. Bis uns jemand, der sich damit auskannte, endlich sagte, dass dieses Auto die Türen nur abschließt, wenn man sich mit dem Schlüssel weit genug davon entfernt. Das haben wir natürlich gemacht. Wir haben die Schritte gezählt und dann die Kinder doch lieber nochmal zum Auto zurückgeschickt, um an allen Türen testweise zu rütteln. Mehrmals. Der Autoexperte neben uns hat sich kaputtgelacht.

Es ist im Grunde keine Frage, ob man ein Trottel ist. Die Antwort ist immer: ja. Es ist nur die Frage, wann und bei welchem Thema.

(Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten und in der Ostsee-Zeitung)

Obergluniger – Schloss Lebenberg in Tscherms – Waalwege

Tscherms

Der bereits erwähnte Oberglunigerhof hat, das ist natürlich eminent wichtig und wurde noch gar nicht gewürdigt, WLAN in jedem Winkel. Arbeitsplatz in Tscherms, Obergluniger

Wie man überhaupt in Südtirol dauernd Netz hat, sowohl durch gewöhnliche Großprovider als auch durch freie WLAN-Varianten, die dort einfach so funktionieren. In jedem Dorf. Und sogar oben auf dem Berg, in beträchtlicher Höhe, da starrt man staunend auf sein Handy und lädt Bilder hoch zu Instagram. Mal eben. Wenn man also zwischendurch auch einmal etwas arbeiten muss, und wer müsste das nicht, ist Südtirol als Urlaubsziel eine ziemlich sichere Bank.

Kein Vergleich jedenfalls zum netztechnischen Gegenteil Eiderstedt, das mich jedes Jahr wieder in den Wahnsinn treibt, wenn ich einen Text abgeben muss und dafür kurz Netz brauche – aber nicht finde. Nirgendwo. Nicht im Watt, nicht auf dem Deich, in keinem Dorf und auch nicht in Sankt Peter-Ording auf der Promenade. Es ärgert mich jedesmal wieder. Bei uns gilt jedenfalls: wenn ich Netz habe, ist der Urlaub für alle anderen viel entspannter.

Vorlesen in Tscherms, OberglunigerAuf dem Oberglunigerhof hatte ich, auch das ein vernünftiger Grund, noch einmal hinzufahren, die vermutlich schönsten Arbeitsplätze, an denen ich je etwas getippt habe. Tscherms, OberglunigerInmitten des wahnsinigen Blütendufts, mit Blick auf Bergpanorama und ganz hinten Meran, mit Blick auf Pool, mit Blick auf Pfirsichbäume, Apfelbäume, Wein, beschattet von einem Kakibaum, der gelegentlich eine noch unreife Frucht mit einem satten PLOPP neben mich fallen liess, als würde er zu einem Absatz raten. Wobei ich erst eine Expertenmeinung einholen musste, um den Baum als Kakibaum zu erkennen. Und der Bauer mich vollkommen verblüfft fragte: “Das sehen Sie nicht?”

Tscherms/OberglunigerEs wurde abends kaum kühler, man konnte einfach immer weiter draußen sitzen und schreiben und lesen. Es wurde nur dunkler und der Duft um einen herum änderte sich ab und zu, je nachdem, wie der Abendwind gerade um den Berg kam. Mal etwas mehr Lavendel darin, mal etwas mehr Apfel, mal Wiese bei Nacht, mal Pflaume, mal Erdbeer. Wir waren auf einem Bio-Wein- und Obsthof, der Bauer baut dort 20 Sorten Obst an. Das sind, wie Sohn I nach längerem Nachdenken befand, “viel mehr als es gibt”. Das Obst wächst dort an jeder Ecke, das Obst gibt es marmeladisiert auch zum Frühstück.

Frühstück

 

Die Höfe in Südtirol bieten häufig auch Frühstück an, das scheint dort notwendig zu sein, habe ich gehört. Die Touristen wollen das so, sie wollen den Hof mit Hotelfunktion. Da die norddeutschen Höfe häufig oder meist kein Frühstück anbieten, müsste das heißen, dass die Touristen das hier nicht wollen, es ist doch eine seltsame Welt. TschermsDas Frühstücksbuffet hatte natürlich nicht die hoteltypische Größe, das machte aber überhaupt nichts. Die Zutaten waren nämlich besser, und zwar um Klassen besser. Es gab Käse, der mit dem durchschnittlichen Lidl-Käse in Business-Hotels nichts zu tun hatte, es gab anständige Wurst, es gab selbstgebackenen Kuchen, selbstgemachte Marmelade, frisch gemachtes Rührei, Holundersaft vom Hof, ebenso Himbeersaft, Johannisbeesaft, Apfelsaft, es gab ein Frühstück, das ich so gerne jeden Tag hätte. Auf einen der Kuchen kommen wir übrigens später noch zurück, bzw, kommt die Herzdame noch zurück.

Nach dem ersten Frühstück wollten wir mal eben zum Schloss Lebenberg hoch, das so verlockend nah aussah, nur ein wenig den Berg hoch. In gerader Strecke wäre man in fünfzehn Minuten dagewesen, man denkt so etwas als Norddeutscher dauernd. Es ist eben wirklich beeindruckend, wie lange man im Gebirge für alles braucht, wie unerreichbar das Naheliegende ist. Ich schreibe diesen Eintrag auf der nordfriesischen Halbinsel Eiderstedt, wo man bekanntlich am Morgen sehen kann, wer am Nachmittag zu Besuch kommt. In Südtirol kann man am Morgen sehen, wo man sich in drei Minuten verlaufen wird. Auch schön!

Es war ein außerordentlich heißer Morgen, auch heiß für Südtiroler Verhältnisse. Und nicht nur wegen der bereits erklärten Schuhsitiation, auch wegen des Wetters war vollkommen klar, Wandern fällt aus. Aber einen Spaziergang, den mussten wir natürlich machen. Wir gingen also ein Stück den Berg hoch, fanden am Straßenrand ein einladendes Schild, das auf einen schmalen Wanderweg zum Schloss verwies und bogen dem folgend querfeldein ab. Dann bog der Weg ab, dann bogen wir noch einmal ab, dann bog der Weg wieder ab und dann waren wir, große Überraschung, nicht ganz da, wo wir hinwollten. Wobei wir das, was wir erreichen wollten, auch gar nicht mehr sehen konnten. Das war irgendwo anders. Wir gingen teils unter Wein, das gab also etwas Schatten, es ging aber ziemlich fortgeschritten bergauf und man kam einfach nicht vom Fleck.

Die Kinder waren selbstverständlich nach zehn Minuten beleidigt und konnten nicht mehr, blödes Herumlaufen, wo ist der Pool, wir können nicht mehr, wann sind wir da, Hunger, Durst, ich muss mal, alles.

WeinBis wir an einen Waalweg kamen. Da floss ziemlich kaltes Wasser ziemlich schnell, da konnte man also sowohl die Füße hineinhalten als auch Stöckchen schwimmen lassen, die dann in rasender Fahrt um die nächste Kurve des Weges sausten, wie Kanus im Wildwasserbach. Waalweg TschermsDa hatten die Söhne plötzlich wieder Kraft und Ausdauer und Motivation und liefen bergauf und bergab wie die Gemsen, immer auf der Suche nach noch besseren Schiffchen, Landeplätzen, Abbiegungen, Brücken und Tunneln.

Waalweg Tscherms

Man kann an den Waalwegen gut sehen, wie Bewässerungsanlagen funktionieren, das nehmen die Kinder als Fachwissen nebenbei mit. Das finden sie auch alles ganz logisch, wenn man es ihnen zeigt, das könnten sie auch so bauen, eh klar. Mit genug Zeit. Und wenn man schon keinen Springbrunnen findet, dann setzt man sich eben in einen Bewässerungsgraben, das geht auch, sie haben das getestet. Wir fanden einen kleinen Wasserfall, einen wirklich ganz kleinen. Es war aber der erste Wasserfall im Leben der Söhne, es war also der größte, den sie je gesehen haben. Und so wirkte er dann auch auf sie. Eben noch der knallheiße Wanderweg, auf dem die Sonne wirkte, als bekäme man mit glühender Bratpfanne kräftig einen übergezogen, jetzt plötzlich ein kühles Waldstück, schattig, feucht, voller gluckernder Geräusche und Gesprudel. Wir fanden eine schmale Brücke, die hoch über den Bach führte, das war eine kleine Brücke über wildes Strudeln, das war alles sehr abenteuerlich aus ihrer Sicht. Das war ein Ausflug in ein ganz, ganz kleines Stück Bergwelt – und da war für sie schon alles dabei. Das war auch eine Erkenntis dieser Südtirolreise: man braucht sich eigentlich gar nicht groß um Ausflüge kümmern. Man kann auch einfach losgehen, man findet schon etwas. Um die Ecke.

Tscherms

Dann standen wir endlich vor dem Tor des Schlosses, zu dem ich im nächsten Artikel etwas mehr sagen werde, ich bin hier gerade irgendwie etwas vom Ziel abgekommen. Egal, das passt schon.

Roter Hahn

Gelesen, vorgelesen, gesehen, gehört im Juli

Mascha Kaléko: In meinen Träumen läutet es Sturm. Gedichte und Epigramme aus dem Nachlass. Das Gesamtwerk von Mascha Kaléko hat man leider geradezu bestürzend schnell durchgelesen. Und wäre es doppelt so umfangreich, man würde das immer noch denken. Und auch wenn es dreifach, vierfach wäre. Man legt die schmalen Bände nicht gerne weg.

Mascha Kaléko

Alex Capus: Mein Studium ferner Welten – ein Roman in 14 Geschichten. Geschichten aus einer Kleinstadt in der Schweiz. Die Hauptfiguren tauchen immer wieder in neuen Zusammenhängen auf, werden älter und ändern sich, die Stadt bleibt immer die kleine Stadt, eng und begrenzt. Da kommt nicht jeder raus, und wer rauskommt, der kommt womöglich zurück und weiß nicht recht, wie das zuging. Die kleine und namenlose Stadt bindet die Erzählungen und die Menschen. Ganz leichte Geschichten sind das, der Erzählstil wirkt angenehm mühelos, die inhaltliche Schwere trifft einen etwas unerwartet und ganz ohne dramatische Momente, es sind die Kleinigkeiten und Selbstverständlichkeiten des Älterwerdens, der Liebe, der Sinnfindung. Sehr gerne gelesen. Und gleich mehr von Alex Capus bestellt.

Alex Capus

Wolfgang Büscher: Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß. Das Buch hat etliche Preise gewonnen, was ich auch vollkommen richtig finde. Und statt weiterer Anmerkungen bietet es sich bei diesem Buch an, den ersten Absatz zu zitieren, der Autor geht los, er macht sich zu Fuß auf den Weg nach Moskau.

“Eines Nachts, als der Sommer am tiefsten war, zog ich die Tür hinter mir zu und ging los, so geradeaus wie möglich nach Osten. Berlin war ganz still an diesem frühen Morgen. Alles, was ich hörte, war das Pochen der Schritte auf den Dielen, dann Granit. Eine Süße lag in der Luft, das waren die Linden, und Berlin lag wach, aber es hörte mich nicht. Es lag wach wie immer und wartete wie immer und hing wirren, gewaltigen Träumen nach, die aufblitzten wie das Wetterleuchten dort über dem Häusermassiv. Es hatte geregnet die Nacht, ein Bus fuhr vorüber, seine Rücklichter zogen rote Spuren über den nassen Asphalt. Verkehr kam auf, in den Alleen schrieen die Vögel, zitternd sprang die Stadt an, bald würden die Angestellten in breiter Formation in ihre Büros fahren. Damit hatte ich nichts mehr zu tun.”

Da möchte man doch weiterlesen, möchte man nicht? Ab und zu hat das Buch einen unüberlesbaren Stich ins Esoterische, das wurde von Kritikern teils bemängelt. Aber wer weiß, wenn man zu Fuß nach Moskau gehen würde – ob man selbst ohne Stich ins Esoterische dort ankommen würde?

Auch in diesem Fall gleich das nächste Buch bestellt: Wolfgang Büscher: Deutschland, eine Reise, mein nächstes Buch auf dem Handy. Er ist für dieses Buch einmal um Deutschland herumgegangen. Ich bin noch auf den ersten Seiten, da schwimmt er erst einmal quer durch den Rhein. Das würde ich eher nicht tun, aber ich würde, ich rede davon schon gebetsmühlenhaft, wirklich gerne einmal die ganze deutsche Küste ablaufen. Abwandern. Abbloggen. Sie wissen schon. Egal.

Vea Kaiser: Blasmusikpop oder wie die Wissenschaft in die Alpen kam. Meine Urlaubslektüre in Südtirol. Ich hatte einen ganzen Stapel Bücher dabei, aber mehr habe ich gar nicht geschafft, es gab da so viel Gegend zu gucken, das war mir tatsächlich wichtiger. Das Buch habe ich als E-Book auf dem Handy gelesen, ein schickes Foto gibt es davon also nicht. Das ist ihr Debütroman, eine Coming-of-age-Geschichte aus einem abgelegenen Bergdorf, mit ordentlich Comedy und Drama dabei, mit liebevoll ausgestalteten Nebenfiguren, mit sehr viel Schwung und irvinghaften Schlenkern – ein großer Spaß für den Urlaub, besonders natürlich in den Bergen. Auch von Vea Kaiser gleich das nächste Buch besorgt.

Vorgelesen

Die Herzdame liest gerade aus der Jim-Knopf-Reihe von Michael Ende vor, das wird jeder kennen, das kann man beim Zuhören quasi mitsprechen.

Michael Ende, Jim Knopf

Ein ähnlicher Effekt auch bei Mark Twains Tom Sawyer, das wir allerdings in der Ausgabe “Kinderbuchklassiker zum Vorlesen” von Arena lesen, nacherzählt von Elke Leger, mit Bildern von Markus Zöller. In dieser Ausgabe kann Sohn I leichter auch mal alleine lesen.

Tom Sawyer

Weiter gelesen wurde außerdem in Kirsten Boies Seeräuber Moses, das kam hier schon vor. Es ist ein Buch von ordentlicher Dicke, das dauert eine Weile.

Kirsten Boie, Seeräuber Moses

Und zum ich weiß nicht wievielten Male las ich die Riesenbirne von Jakob Martin Strid, die hatten wir hier auch schon öfter. Das absolute Lieblingsbuch von Sohn II, und zwar mit weitem, weitem Abstand vor allen anderen Büchern. Das Buch bricht alle Vorlesewiederholungsrekorde in diesem Haushalt.

Gesehen

Nichts. Macht nichts.

Gehört

In diesem Monat ist nur ein einziger Ohrwurm hängengeblieben, er ist von Ernest Ranglin. Das Stück fällt beim ersten Hören gar nicht so auf, schleift sich aber nach einer Weile schön ein. Netter Sommersound. Infos zu Ernest Ranglin hier.

Tscherms/Obergluniger

Wir kamen am späten Nachmittag in Tscherms an. Tscherms hinter Lana, das ist der größere Nachbarort. Tscherms ist ein langgezogener Ort an der Straße zwischen Bozen und Meran, das von dort gar nicht mehr weit ist, quasi Fahrradentfernung. Wenn es auf dem Weg nicht etwas hügelig wäre, to say the least.

Eine knuffige Kirche unten im Tal, das Rathaus, ein Eiscafé, ein kleiner Laden, ein Hotel – viel mehr nicht. Alles ziemlich hübsch und überschaubar, keine Hotelpaläste, keine großen Ferienanlagen. An den Hängen hoch überall alte Höfe zwischen den Weinbergen und den zahllosen Apfelbäumen, schon im Vorbeifahren denkt man, dass man die Höfe am liebsten alle sehen möchte, dass man bei allen einmal davor stehen möchte, diesen Ausblick erleben möchte, der Ausblick muss da oben überall großartig sein. Und von jedem Hof anders. Man sieht aus dem Auto den Hang und die Berge hinauf, weiter oben entdeckt man immer noch weitere Höfe, ganz oben auch, helle Pünktchen kurz vor den Gipfeln. Irgendwo ein Schloss, das im blauen Abendlicht gerade transsilvanisch anmutet, das ist Schloss Lebenberg, ich komme später noch darauf zurück.

Schloss Lebenberg

 

Der Hof, auf dem wir uns einquartiert hatten, lag etwas unterhalb dieses Schlosses, ein paar Kurven davor. Kurven, die sich durch schmale Straßen den Hang hinaufwinden, man versteht sofort, warum die Einheimischen uralte Fiat Pandas als Bergziegen fahren, so ein SUV wie unser Mietwagen ist einfach zu breit. Viel zu breit. Besonders, wenn man die Straßen zum ersten Mal hochfährt, das kann dann alles gar nicht passen, die Hände klammern sich ans Lenkrad, man fährt Fußgängertempo. Höchstens. Nach einer Woche ist das Auto aber dann doch noch etwas schmaler geworden. Sagte die Herzdame jedenfalls, die aus noch zu erörternden Gründen den Rest der Woche am Steuer saß.

Wenn man denkt, die Kurven könnten nicht enger werden, dann bietet die Gegend gerne noch ein paar Steigerungen nach dem nächsten Knick im Weg. Die Söhne freuten sich wie auf der Achterbahn, ich als Fahrer fühlte mich auch so. Dabei war unser Hof gar nicht hochgelegen, für Südtiroler Verhältnisse war der eher irgendwo da unten, ich war nur einfach nichts gewohnt. Keine Hänge, keine Haarnadelkurven, keine schmalen Gassen mit Feldsteinmauerbegrenzung.

Wir fanden unseren Hof in Kurve Nummer neun, wenn ich es richtig erinnere, für Hamburger Verhältnisse ist das eine eindeutig alpine Wohnlage. Wir erzählten allen Menschen, die wir auf dem Hof trafen, von der abenteuerlichen Fahrt, sie hörten uns milde lächelnd zu, vermutlich kennt man das dort und weiß, das gibt sich mit der Zeit. Ich möchte mal die Ekstase eines Südtirolers erleben, der an einem Nordseedeich mehrere Kilometer schnurgeradeaus fahren kann, mit getrockneten Schafschiethubbeln als einziger Steigung, das wäre ein fairer Ausgleich für solche Erfahrungen.

Wir stiegen aus dem Auto, und während die Söhne aufgeregt über den Hof liefen, um zu verifizieren, dass es dort wirklich einen Pool gab, wie im Prospekt angegeben, blieb ich in einer Wolke aus Lavendelduft stehen. Nun habe ich Lavendel schon öfter im Leben gerochen, in Travemünde hat man damals reichlich davon angepflanzt, den pflückten die alten Damen im Vorbeigehen aus den Blumenkübeln an der Promenade und legten ihn in ihre Kleiderschränke. Aber das hier war doch etwas anderes. Das war eine Duftintensität, die ich so noch nicht erlebt hatte, das war sonnendurchglühter Lavendel, der so intensiv duftete, dass es schon unter Drogenkonsum fiel, daneben stehen zu bleiben. Eine Hundertschaft von Hummeln wippte träge auf den Blüten, man bekam sofort Lust, sich auf eine Liege neben diese Blüten zu legen, mitten hinein in diese betörende Parfümwolke, und dem Summen der Hummeln zuzuhören, ihrem sachten Wippen zuzusehen und langsam wegzudämmern, den Blick auf die am Abend immer blauer werdenden Berge. Das habe ich im Laufe der Woche dann auch gemacht, und schon diese eine Liege neben dem Lavendel wäre für mich Grund genug, da noch einmal hinzufahren.Ich habe es ja nicht so mit der Entspannung, aber doch, das hatte was.

Die Söhne fanden den Pool.

Pool

 

Wir fanden unsere Wohnung, trugen das Gepäck hinein und stellten nur kurz fest, dass auch die Wohnung genau so aussah, wie wir uns das vorgestellt hatten. Nämlich schön. Schön im Sinne von “Holla! Das ist aber echt schön hier.”

Die Bauern haben ihr jahrhundertealtes Haus in Ferienwohnungen umgewandelt und sich selbst ein neues Haus gebaut. Wir waren im alten Gemäuer, das innen einigermaßen spektakulär neu gestaltet worden ist. Da wurde beim Innenausbau teils altes Stadlholz, das seit Jahren auf dem Hof lag,  zu modernem Mobiliar verarbeitet, da wurden die alten, rohen Steinmauern in die Gestaltung einbezogen. Und das wollte ich immer schon einmal, wenigstens einmal im Leben in so eine Designwohnung, in eine Bleibe, die man tagelang gerne immer wieder ansehen möchte, weil sie so fehlerfrei wirkt, also ganz anders als die eigene Wohnung. Ich habe überhaupt nichts gegen ganz normale Ferienwohnungen, aber das war schon etwas anderes, den Urlaub in einer so durchdachten, durchdesignten und maßgeschneiderten Wohnung zu verbringen, das war seltsam erholsam. Auf eine Art, die ich sonst gar nicht kenne. Die Herzdame neigt als Nordostwestfälin natürlich nicht zu lobenden Erwähnungen, meinte aber nach einem Rundgang durch die Wohnung doch: „Sogar der Föhn taugt was“. Das entspricht einer überaus wahrmherzigen Fünf-Sterne-Bewertung, wenn man es nur richtig überträgt.

Bei der Innenfotografie habe ich zwar elend versagt, man sieht beim folgenden Link aber hoffentlich ganz gut, was ich meine, es sind die Wohnungen des Oberglunigerhofs.

Dann mussten wir allerdings sehr schnell etwas essen und fragten nach der nächsten Möglichkeit im Ort, ich wollte keinen Meter mehr fahren.

Tscherms

 

(Übrigens ein Sohn-II-Suchbild)

Aus der Antwort ergab sich dann gleich ein praktischer Reisetipp. Und nachdem ich jetzt schon mehrfach vom Südtiroler Essen geschwärmt habe, kommt jetzt etwas ganz anderes, jetzt kommt nämlich Pizza. Denn wenn die ganze Familie wilden Hunger hat, diesen Hunger, der kurz davor ist, ein echtes Problem für den Rest des Abends zu werden, dann ist Pizza bei uns immer die richtige Wahl. Die Söhne essen beide Pizza, das kann überhaupt nicht schiefgehen, das geht in solchen Momenten vor. Und, natürlich, Südtirol gehört zu Italien, die können da Pizza. Und sie geben sich Mühe damit.

Die Pizzeria Helden in Tscherms, auf der Durchfahrt von Bozen nach Meran gut zu erreichen, sie liegt direkt am Weg. Gute Pizza zu sehr netten Preisen, im Haus eine erstaunlich große Spielecke für Kinder, für Eltern ist es immer gut, so etwas zu wissen. Und wenn man abends noch ein Getränk in der Ferienwohnung braucht, das bekommt man da auch zum Mitnehmen.

Pizzeria Helden, Gampenstraße 15, Tscherms.

Pizzeria Helden

 

Die Bilder, die ich auf dem Fußweg zurück und hinauf zum Oberglunigerhof gemacht habe, sind größtenteils erheblich verwackelt. Entweder haben die zwei Bier in der Pizzeria deutlich Wirkung gezeigt, oder es gab an diesem Abend seismische Aktivität, wobei es eher unwahrscheinlich ist, dass ich zwei Bier nicht vertrage.

Berge bei Tscherms

 

Vielleicht war ich aber auch einfach nur etwas aufgeregt wegen der Aussicht überall, die fand ich nämlich wirklich umwerfend.

Berge bei Tscherms

 

Am Rande sei erwähnt, dass Sohn I diesen Abend als Beginn seiner eigenen Aufzeichnungen gewählt hat, die uns hier natürlich nichts angehen. Ich darf aber den Anfang zeigen:

Notizbuch Sohn I

 

Am nächsten Tag wollten wir mal eben zum Schloss hinaufgehen. Aber “mal eben” und Berge vertragen sich nur begrenzt, haben wir dann gelernt. Dazu in Kürze mehr.

Berge bei Tscherms
Roter Hahn

Südtirol – die Schuhfrage endgültig geklärt

Bevor ich zu unseren Erlebnissen in Südtirol komme, muss ich noch auf einen besonderen Aspekt eingehen, der sich mit einem gewissen Zwang aufdrängt, wenn man über diese Gegend spricht. Und zwar entsteht der Zwang aus den Gesprächen, die man im Vorwege mit anderen Leuten führt. Man erzählt so nebenbei, dass man da hinfährt – und dann passiert etwas, auf das man wetten kann. Sagen wir, einen dreistelligen Betrag. Sehr geringes Risiko. Denn der Gesprächstpartner, wer immer es sein mag, wird garantiert einen Satz sagen, der das Wortpaar “festes Schuhwerk” beinhaltet. Und zwar wird er es so sicher sagen, als gäbe ein Gesetz, das ihn bei Strafandrohung zu dieser Bemerkung verpflichten würde.

Ich: “Wir fahren ja nach Südtirol.”

X: “Oh! Festes Schuhwerk!”

Als würde das Reiseziel Südtirol jeden Menschen automatisch in einen leidenschaftlichen Wanderer verwandeln, als würde einem bei der Planung schon ein Rucksack wachsen, als würde man dort nur über steile Wanderwege vom Parkplatz zum Restaurant kommen. Das habe ich schon einmal erlebt, dieses seltsam zwanghafte Erwähnen eines Reisehinweises, das kam auch hier im Blog schon einmal vor, es ist Jahre her. Da ging es um Reisen nach Mallorca, denn wenn man Mallorca sagt, dann sagt irgendjemand Mietwagen. Immer.

Das feste Schuhwerk also. Dahinter steht die Grundannahme, Südtirolreisen seien ohne Wanderschuhe quasi ungültig, dahinter steht der Gedanke, man könne da nicht hin, ohne vorher im Outdoorgeschäft etwa ein Monatsgehalt für Spezialschuhe ausgegeben zu haben. Das ist Unsinn.

In dieser Familie bin ich der einzige Wanderschuhinhaber. Die Herzdame lehnt Wanderschuhe aus ästhetischen Gründen rundweg ab, ich lehne es kategorisch ab, Kindern Wanderschuhe zu kaufen, aus denen sie vermutlich schon nach der nächsten kräftigen Mahlzeit wieder herausgewachsen sein werden. Es hat natürlich keinen Sinn, als einziger in der Familie Wanderschuhe zu tragen, ich renne der Truppe ja nicht dauernd 20 Kilometer voraus und erkunde das Gelände. Übrigens schon deswegen nicht, weil ich nie wieder zurückfinden würde, aber egal. Es hat noch einen weiteren Grund, warum wir keine Wanderschuhe dabei hatten, einen ziemlich speziellen Grund, und der findet sich in der Geschichte der Beziehung von der Herzdame und mir und auf Madeira.

Die Herzdame ist nicht besonders nachtragend, aber der Vorfall, um den es hier gleich geht, ist noch keine zwölf Jahre her, der ist für eine Nordostwestfälin also noch recht präsent. Damals reisten wir als noch frisches Paar nach Madeira, so ein Last-Minute-Trip, den wir uns gerade eben leisten konnten. Der allererste gemeinsame Urlaub. Und erst auf der Insel stellte die Herzdame fest, dass ich keine Badesachen, sondern nur Anzüge mithatte, denn mir lag es damals fern, einen Strand oder eine Badestelle zu besuchen. Nein, auch nicht gemeinsam, geh mir weg mit Strandromantik, ich war da recht klar positioniert. Das führte zu so lebhaften Auseinandersetzungen, dass ich mir schließlich noch auf Madeira und unter Protest eine Badehose gekauft habe, die erste überhaupt nach der Travemünder Zeit. Und sogar mit ihr baden ging. Und mit dem Sonnenbrand meines Lebens schmollend am Ufer saß. Ich war einfach noch nicht reif für Badespaß. Travemünde war nicht lange genug her.

Und weil ihr dieses Reiseerlebnis noch so präsent war, stand für die Herzdame von Anfang an fest, dass sie mit Flipflops in die Berge fahren würde. Der Mann im Anzug am Meeresufer, die Frau in Sandalen auf dem alpinen Wanderweg, das klang für sie endlich nach einem fairen Ausgleich. Eine etwas spezielle Form von Auge um Auge, vielleicht aber doch auch nachvollziehbar.

Und es ist tatsächlich so – Südtirol ohne festes Schuhwerk ist überhaupt kein Problem. Zumindest im Meraner Land, wir haben nur diesen Teil von Südtirol besucht, ich kann über die anderen Täler nichts sagen. Es gibt überall, wirklich überall, gut ausgebaute Wege, die man genau so gut als Spazierweg wie als Wanderweg betrachten und nutzen kann. Es laufen überall Menschen in Heavy-Duty-Outdoorausrüstung neben Menschen in Sandalen und Shorts herum, das passt beides und stört sich nicht. Selbst auf zweitausend Metern Höhe, etwa bei Meran2000, kann man noch gelassen spaziergehend wandeln, es ist wirklich überhaupt kein Problem.

Wanderweg Südtirol

 

Festes Schuhwerk braucht, wer sportlich und hoch wandern möchte, was man aber ohnehin nicht macht, wenn es 35 Grad warm ist und man zwei kleine Kinder dabei hat. In Südtirol kann man gerade im Sommer ganz phantastisch Urlaub machen, ohne zu wandern. Wir haben es ausgiebig getestet, es funktioniert. Man kann dort auch einfach nur alle paar Meter herumstehen und Gegend ansehen, das geht sogar mit Kindern, so toll ist die Gegend da. Und die Kinder können dabei auch ruhig barfuß sein, das hat Sohn II eine ganze Woche lang fast komplett durchgehalten. Ohne Probleme. Na gut, einmal ist er auf eine Biene getreten, das war etwas anstrengend für alle Beteiligten. Aber man kann Südtirol tatsächlich auch einfach wegen des Essens bereisen, das Essen ist sensationell, ich berichte darüber später noch ausführlicher. Und es ist vollkommen latte, welche Schuhe Sie beim Essen anhaben.

Wenn Sie über Südtirol reden und jemand murmelt “festes Schuhwerk” – Sie wissen Bescheid. Geben Sie das Geld lieber für Essen aus. Und gehen Sie, wie Sie immer gehen.

Roter Hahn

 

 

Seehamer See – Tscherms

Auf der weiteren Fahrt ist dann nicht mehr viel passiert. Abgesehen von einem kleinen Zwischenfall irgendwo zwischen dem Seehamer See und der Grenze zu Österreich. Da gab es plötzlich ein markerschütterndes Geschrei von der Rückbank. So ein Geschrei, bei dem man als Fahrer sofort zusammenzuckt, den Kopf einzieht und hektisch nach der Standspur sieht, nach dem Knopf für die Warnblinker und auch in alle verfügbaren Spiegel, um herauszufinden, worum es hier eigentlich gerade geht. Unfallgefahr? Wespenstich? Spinne auf dem Sitz? Monster? Marienerscheinung?

Es waren dann aber nur die Berge. Die Söhne hatten am Horizont die ersten richtigen Berge ihres Lebens gesehen, die ersten Berge, die diesen Namen auch verdienten. Die ersten Grüße der Alpen. Und wenn man noch nie Berge gesehen hat, wenn man noch gar nicht verstanden hat, wie hoch die wirklich sein können, wenn man im Grunde den Hügel neben einer Kiesgrube immer schon im engeren Bergverdacht hatte, wenn einen so ein Steinriese also völlig unvorbereitet trifft – dann kann man schon mal ausflippen.

Sohn I hat spontan beschlossen, sich diesen Anblick lebenslang zu merken, weil ihn bis zu diesem Moment noch nie etwas landschaftlich so oder überhaupt beeindruckt hat: “Das will ich mir merken, genau so.” Mit ausgestrecktem Finger in die Ferne weisend, zur Zackenlinie des Gebirges. Sohn II saß mit offenem Mund und konnte bis Südtirol den Anblick nicht glauben, völlig verzückt auf Bergspitzen starrend, auf Burgen, Bergbauernhöfe, Almen, Brücken, Serpentinen, er wies mich auf alles kreischend vor Begeisterung hin.

An der Autobahn in Österreich steht ein großes Schild: “Grüß Göttin”, ich konnte im Vorbeifahren nicht so schnell erkennen, ob es per Hand übermalt worden ist oder tatsächlich so sein soll. Kann das offiziell sein?

Guck an. Tatsächlich.

Und sonst: Tempolimit in Österreich und Italien. Eine schöne Sache, es fährt sich so entspannt, ich mag das. Kann man meinetwegen gerne sofort auch hier einführen, aber damit macht man sich bekanntlich keine Freunde. Das ist in etwa so, als würde man in den USA das Waffenverbot durchsetzen wollen.

Dann kamen wir in Tscherms an. Tscherms in Südtirol, Meraner Land.

 

In der aktuellen Nido …

… gibt es erstens eine weitere Folge der Interviewreihe „Was machen die da“ in gedruckter Version. Isa und ich haben Eleonore Gregori befragt, die Programmleiterin der Pixi-Bücher. Etwas mehr dazu hier.

Nido-Magazin

 

Zweitens habe ich für diese Ausgabe eine Wirtschaftskolumne geschrieben, oder zumindest etwas in der Art. Es geht um eine Frage, die immer interessanter wird, je länger ich darüber nachdenke – wieso erziehen wir eigentlich unsere Kinder zu Fairness und Gerechtigkeit, wenn wir doch alle akzeptieren, in einer unfairen, himmelsschreiend ungerechten Gesellschaft zu leben? Was läuft da eigentlich falsch?

Nido-Magazin

Seehamer See

Wir fuhren morgens von Reichertshausen aus los, Richtung Südtirol. Ich dachte während der Fahrt über ein Thema nach, dass mir kürzlich auf Twitter zugeworfen wurde, da hat nämlich jemand vorgeschlagen, ich finde leider gerade nicht wieder, wer es war, Isa und/oder ich sollten “White-Rabbit-Reisen” machen und darüber schreiben. Das bezieht sich natürlich auf Alice im Wunderland, es gibt hier im Urban Dicitonary eine schöne Erklärung der vermutlich ohnehin bekannten Phrase “Follow the white rabbit”. Man kann es natürlich für Reisezwecke ein wenig umdefinieren und deuten, was das weiße Kaninchen unterwegs sein könnte. Die Kinder können Hinweisgeber der besonders irrationalen Art sein, sie sollten es sicherlich auch sein, wenn man als Familie unterwegs etwas Spaß haben möchte. Die sozialen Medien können ebenfalls Spuren legen, das klappt übrigens auch faszinierend gut. Man schreibt auf Twitter “Meran” und Minuten später schreibt jemand, wo man da hingehen soll. Und alle Arten von mehr oder weniger absurden Zufällen und Bekanntschaften unterwegs sind natürlich auch genau richtig.

Man kann sich grundsätzlich entscheiden, solchen Hinweisen gegenüber aufgeschlossen zu sein, wir haben das in Südtirol, vor allem in Meran so gemacht – und es hat sich gelohnt, dazu später noch mehr. Man kann ausdrücklich offen für Zufälle und Ablenkungen sein, für Irrwege, Abbiegungen und Absonderliches. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gefällt mir dieser Gedanke des immer wieder zufallsgesteuerten Reisens, da muss ich noch mehr versuchen, ich bin viel zu organisationsbesessen. Und deswegen ärgert es mich immer noch, dass ich den kleinen weißen Kaninchen in Gestalt der Söhne am Autobahnparkplatz Seehamer See nicht gefolgt bin.

Wir haben von München an Stau gespielt, bis zur Grenze immer wieder in allen Versionen, kurz, lang, Stop-and-go, halbstündiges Rollen bei 30 km/h, was man sich nur an Fahrnichtvergnügen ausdenken kann, am Straßenrand ein Blechschaden nach dem anderen. Es war ein allgemeines Reisewochenende, das war uns vorher klar, Spaß machte es dennoch nicht, wie überhaupt Autofahren eher nie Spaß macht, finde ich.

Am Seehamer See, noch gar nicht weit von München entfernt, mussten die Kinder mal aus dem Auto. Wenn man dort etwas über den Platz geht, sieht man am unteren Ende des etwas abschüssigen Geländes einen Weg, der zu einer Straße führt. Und hinter der Straße ist ein See. Das sieht dort landschaftlich hübsch aus, da stehen Bootshäuschen am Rand, da gibt es freundlich begrüntes und bewaldetes Ufer – und badende Menschen. So etwas erwartet man nicht gerade an einem Autobahnparkplatz, meistens sind hinter Autobahnparkplätzen nichts als Leitplanken, Zäune und Gegend, ohne Wege und Attraktionen.

Es ist also so, dass man auf diesem Autobahnparkpatz hält und 100 Meter weiter in einen Badesee steigen kann. Einfach so, direkt hinter dem Parkplatz. Eine wirklich einladende Stelle, genau vor uns badete gerade ein Pärchen, das einen winzigen und sehr vergnügten Hundewelpen zwischen sich hin- und herschwimmen ließ, eine Szene, die für Sohn II Tage später noch ziemlich wichtig werden sollte, über dieses Bild hat er lange nachgedacht.

Natürlich, wir hätten da einfach baden sollen. Stundenlang, wenn es denn Spaß gemacht hätte, und keine Frage, das hätte es. Aber Herr Buddenbohm hatte ja einen Plan, der Plan beinhaltete ein Ziel und natürlich eine Tageszeit. Herr Buddenbohm wollte also weiterfahren. Die Herzdame war etwas unentschieden, die Söhne dann eher ziemlich bedröppelt, als wir sie wieder zum Auto zogen. Wir stiegen wieder in das glühende Auto und fuhren im Schneckentempo weiter nach Süden. Das war dumm. Ein, zwei Stunden hätten der Reise nicht geschadet, im Gegenteil.

Und ich kann mir jetzt Gedanken machen, wie wir noch einmal zum Seehamer See kommen. Schlimm.