Clap hands

Gelesen: Den Anfang eines Buches aus einem der mittlerweile vier – das entwickelt sich hier erfreulich – öffentlichen Bücherschränke im Stadtteil, aus denen ich fast merkwürdig gut versorgt werde, und bei denen ich natürlich auch alle Bücher im steten Umlauf halte und für Nachschub sorge: „Es waren Habichte in der Luft“ vom Lenz. Ich dachte das Buch, es war sein Erstling, längst zu kennen, das war allerdings ein Irrtum. Ich dachte auch, es seien Erzählungen, dabei ist es ein Roman.

Was man sich so denkt, und wie oft man dabei falsch liegt. Imaginierte Bildung und dergleichen. Schlimm.

Ein altes dtv-Buch, "Es waren Habichte in der Luft" von Siegfried Lenz

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Am Abend des Hochzeitstages waren die Herzdame und ich, wie romantisch ist das denn, auf einem weiteren Elternabend. Diesmal in der gymnasialen Oberstufe, in der man nur noch begrenzt für Organisatorisches zuständig ist, wie deutlich vermittelt wurde. Weil die jungen Menschen sich altersgerecht selbst um alles kümmern sollen, was sicher richtig ist.

Wir haben es vorher diskutiert, gehen wir dorthin oder nicht, an diesem besonderen Tag für uns zwei … Aber wir haben nie einen Elternabend verpasst, keinen einzigen, bei keinem Sohn, in all den Jahren nicht. Es hätte sich merkwürdig angefühlt, jetzt damit zu beginnen, auf den letzten Metern dieses Lebensabschnitts. Die protestantische Arbeitsethik bekommt man aus uns beiden nicht heraus, wie weit auch immer wir von der verursachenden Religion entfernt sind.

Und ein Elternabend ist schließlich auch ein Produkt der Ehe, so unpassend war es nicht. Dazu konnten wir uns dann gemeinsam durchringen, und wir kamen uns nicht so falsch dort vor, an diesem Abend, an diesem Jahrestag.

Der 20. Hochzeitstag war die Porzellanhochzeit, dieses Wort kannte ich sogar. Der 21. wird dann, wenn alles gutgeht, unsere Opalhochzeit. Davon wiederum hatte ich vorher noch nie etwas gehört. Wieder etwas gelernt, auch dafür sind Beziehungen gut.

Das Wort Love auf der Tür zu einem Kabuff für Mülleimer in einer Hauswand

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Ich mache ansonsten weiter in der Reihe „Selbstbezichtigungen“. Es mangelt der Gesellschaft an kritischer Betrachtung der eigenen Person, möchte ich meinen, da also nach Möglichkeit beispielhaft vorangehen. Selbstkritik kommt mir auch in Zeiten sinnvoll vor, in denen jedes morgendliche Aufstehen auf LinkedIn bereits zur absolvierten Daily Challenge und zum Milestone in der Schedule hochgejubelt wird. Man erreicht dort bei allen nur denkbaren Aspekten des Alltags und des Berufslebens mittlerweile Dimensionen der Selbstbeweihräucherung, die mir eher fremd bleiben. So gut fand ich mich nie, so awesome bin ich gar nicht, und so exciting ist es auch nicht, was ich zu erreichen scheine.

Es ist, wenn man hier und da Wahrheit und den Hintergrund kennt, kaum zu ertragen, was die ausgeprägte Herbeibehauptungskultur dort mittlerweile vollkommen enthemmt abliefert. Ich habe mir das, bevor ich meinen Account auf der Plattform einigermaßen angewidert gelöscht habe, zunehmend entgeistert eine Weile angesehen. Wie großartig sich alle dort fanden, clap hands, clap hands.

Wenn man nach dem Besuch solcher Seiten Tom Waits hört, dann heilt man wieder etwas.


Ich aber beobachte, das wollte ich nur eben sagen, erschreckend schlecht und ungenau. Es erwies sich gerade in aller Deutlichkeit, wie man hier am Beispiel des Hamburger Bahnhofs Dammtor nachlesen kann. Bei dem hatte ich neulich erst über die geschlossenen Geschäfte in der Halle unter den Gleisen geschrieben, über die merkwürdige Atmosphäre und die Dunkelheit dort, ich habe das sogar als Zeichen des Niedergangs gedeutet. Was auch halbwegs hinkommt, so ist es nicht. Sie waren aber nicht nur geschlossen, diese dunklen Geschäfte dort, sie stehen teils sogar leer, und das ist etwas deutlich anderes.

Genauer und länger hinsehen, Herr Buddenbohm! Stehenbleiben und aufpassen! Denn so geht es nun nicht, nur flüchtig und wie nebenbei zwei, drei genehme, gerade in den Kontext des Blogs passende Stichwörter notieren und dann fehlen im Text aber entscheidende Begriffe und Umstände. Mängelrüge hiermit in aller Deutlichkeit erteilt. Besserung umgehend erwartet, Wind von vorne.

So nämlich, immer druff.

Auf LinkedIn würde ich entsprechend vermerken, dass ich als Autor gerade frisch gecoacht worden bin, Advanced Professional Writing Academy oder dergleichen. Dass ich mir dabei selbst der Coach war, herrje, wer wird es so genau wissen wollen.

Eine mit bunten Smileys verzierte Fassade am Mittelkanal in Hammerbrook

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Ein schneller Kulissenwechsel

Am Sonntagmorgen war es exakt passend zum Kalender so weit. Ich sah morgens aus dem Küchenfenster auf einmal nicht mehr auf das üppige Grün der Sommermonate, sondern deutlich auf Grüngelb. In der Nacht musste draußen umdekoriert worden sein, und ein überraschend schneller Kulissenwechsel wie im Theater war das, der passte zu meinen momentanen Interessen. Soll die Natur ruhig auch etwas für uns inszenieren! Wenn es mir dabei nicht gerade das Dach per Herbststurm von der Wohnung weht, soll es mir alles recht sein. Die Saisoneröffnung wird nicht nur in Theatern gefeiert.

Das attraktive und tiefe Rot des Weinlaubs im Hintergrund des Bildausschnitts vor den etwas helleren Ziegeln der Kirchenwand. Dazu die nun kaum noch zu übersehenden braunen Untertöne des Verfalls auf dem Boden, die bald im Bild überwiegen werden.

Man muss sich mittlerweile deutlich Mühe geben, nicht auch bei solch harmlosen und althergebrachten Naturbeobachtungen die aktuelle Politik dauernd mitzudenken und fehlgeleitet in unangenehme Richtungen zu assoziieren. So viele Farben sind nun tendenziell unangenehm belegt und verbunden mit belastenden Nachrichten. Selbst die letzten Brombeeren an den Ranken sind neuerdings politisch kontaminiert und auf einmal mit Parteien und Programmen verbunden.

In alles grätscht einem die allgemeine Lage hinein, und zwar schon viele Stunden vor den ersten Hochrechnungen aus Brandenburg. Es war nur ein Zufall, dass ich ebenso wie bei den letzten Wahlen schon wieder mitten in einer Menschenmenge stand, als die ersten Hochrechnungen um 18 Uhr vermeldet wurden. Ich konnte daher auch diesmal beobachten, dass es keine Blicke auf die Smartphones um ich herum gab. Kein allgemeines und brennendes Interesse, keine sofort einsetzenden aufgeregten Diskussionen.

Es ist, wie es ist, und ich bewerte es auch diesmal nicht. Ich schreibe nur mit, was ich sehe, und selbstverständlich kann das bei Ihnen ganz anders gewesen sein.

Ich hatte dabei mein aktuelles Hörbuch von Klaus Mann auf dem Ohr, der sich im „Wendepunkt“ rückblickend und weitgehend ergebnislos fragt, wer angesichts der geschichtlichen Katastrophen in seiner Lebenszeit wann was hätte tun können, und der nebenbei auch staunt, was er und andere alles noch Normales und Lustiges gemacht haben, in den letzten Jahren vor 33. Was für eine seltsame Zeit das war.

Keine Patentantworten, nirgends.

Abendszene, eine menschen- und autoleere Kreuzung im Rathausviertel, Sonnenuntergangslicht, sehr großstädtischer Eindruck durch de modernen Bauten

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Während viele mit einem gewissen Entsetzen zur Kenntnis nahmen, dass Stefan Raab seit kurzer Zeit wieder da ist, ich sah zumindest in den Timelines etliche Kommentare in dieser Richtung, ohne mir die Sendungen selbst angetan zu haben, tauchten andererseits auch bisher unbekannte Briefe von Kleist und neue alte Noten von Mozart auf. Diese vermehrte Wiedergängerei liegt zeitlich unpassend weit vor Halloween und den bekanntlich durchlässigeren Nächten des späten Jahres, das ist zu bemängeln. Aber wenn auf einen wiederentdeckten Raab zwei wiederentdeckte Klassiker kommen, es soll mir am Ende vielleicht recht sein.

Der Frauenanteil ist allerdings wie fast immer und überall stark ausbaufähig. Ein paar bisher unbekannte Gedichte der Kaléko, einige Takte von Clara Schumann oder etwas in der Richtung dürften schon auch noch auftauchen.

Eine Frage der Quote und der Verhältnismäßigkeit, wie bei so vielen Themen.

Ein Schwan auf der Binnenalster an einem Sommerabend, goldenes Licht auf dem Wasser

Blick auf den Herrengrabenfleet, im Vordergrund liegt, warum auch immer, eine Rose auf einem Brückenpfeiler

Weiterhin die Sommerbilder hier zügig ablegen, bevor sie vollkommen unpassend werden und zur Stimmung vor der Haustür gar nicht mehr passen.

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Ich habe die ersten beiden Folgen von „So long, Marianne“ gesehen, die Leonard-Cohen-Serie, wie neulich erwähnt. Ich werde sie wohl komplett konsumieren, dabei bin ich doch mit der alten Maigret-Serie mit Bruno Cremer noch gar nicht fertig und verheddere mich also schon wieder.

Es geht doch nichts über Luxusprobleme, das hätte wohl auch Klaus Mann so befunden.

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Ein herangereiftes Paar

Ich schrieb gestern über die Sonderausstellung zum Zauberberg im Lübecker St. Annen-Museum. Es ist auch sonst einen Besuch wert, habe ich nebenbei gesehen. Da überall mal durchgehen! Ich hätte länger im Museum bleiben können, ich merke vor. Kirchenkunst und dergleichen passt für mich aber eh besser in den Winter, vielleicht sogar in Richtung Weihnachtszeit. So füllt sich der Rest des Jahres mit Vorhaben, man muss nicht viel dafür tun.

Zwischendurch noch einmal ein Dank, denn die Eintritte in Theater und Museum in den letzten Tagen waren leserinnenfinanziert, es gab noch Trinkgeld mit dem Betreff Kultur. Das passte jetzt, sehr schön!

Eine mechanische Himmelskörperdarstellung im Museum

Für mich war neben der Ausstellung faszinierend, dass ich mich weder an das Museum noch an die Straße, in der es sich befindet, erinnern konnte. Nicht einmal ansatzweise. Das hätte auch in Wismar sein können, wo ich bisher nur zweimal war, so unbekannt sah das aus. Dabei hätte ich gedacht, Lübeck von früher gut zu kennen, wie ein Einheimischer seine Stadt zu kennen meint. Entweder ich habe größere Erinnerungslücken oder ich bin damals konsequent und oft an dieser Ecke der Stadt vorbeigerannt, ein blinder Fleck auf dem Stadtplan. Ich weiß es nicht, aber es war befremdlich.

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Nach dem Besuch der Ausstellung und vor der Rückfahrt nach Hamburg habe ich die Stadt am Wasser entlang umrundet. Der Weg ist schön, versteht sich, er ist klassisch postkartentauglich auf fast jedem Meter. Strahlenden Sonnenschein gab es in diesen Stunden, Lübeck leuchtete, es war einer der Abschlusstage in der hochsommerlich anmutenden Phase dieses Herbstes. Ich habe die wenigen verbleibenden Stunden diesmal ausgenutzt, so gut es nur ging.

Um die Altstadt herum sah ich Menschen in wahrer Fotoekstase. Alle waren höchst zufrieden mit der Szenerie vor der Kamera, die begeisterten Gesichter des Freundeskreises Tourismus. Sie werden diese Stadt alle weiterempfehlen, nehme ich an. Vor allem in Japan, wo die zahllosen Selfies vor dem Holstentor etc. vermutlich gut ankommen werden.

Die Salzspeicher an der Trave in Lübeck

Alles öfter machen, dachte ich an diesem besonders feinen Tag. Öfter ins Theater gehen. Öfter in Museen gehen. In Kunstausstellungen auch und in was noch alles, es gibt so vieles in der großen Stadt und neben ihr. Auch öfter ins Umland fahren, noch mehr dort ansehen, Lüneburg, Lauenburg, Stade etc. Das Deutschlandticket ausreizen, bevor es die Verkehrsminister endgültig versemmeln, lange kann es nicht mehr dauern.

Na, was man so denkt, an solchen Tagen. Es kommt ohnehin anders, wie wir alle sattsam wissen. Und dann mach noch nen zweiten Plan, wie Brecht damals vorschlug, der bei Unzulänglichkeiten gut orientiert warAber immerhin, die nächsten Theaterkarten habe ich schon gekauft. Und ein nächster Museumsbesuch steht auch bereits im Kalender, in dieser Woche noch, ich werde vermutlich berichten.

Herr Buddenbohm blieb stets bemüht und freute sich weiter auf den Herbst.

Blick über den Lübecker Mühlenteich auf die Marienkirche

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Ein weiterer Instagram-Tipp, nämlich die wunderbar kleinteiligen Paar-Choreographien von The Carberrys (Profil-Link), sehen Sie etwa dieses Beispiel. Das gefällt mir, was die machen.

Paar-Choreographien passen heute gut, die Herzdame und ich haben unseren zwanzigsten Hochzeitstag. Wie bei den Jahreszahlen der Kindergeburtstage neulich, als die beiden 15 und 17 wurden, klingt das eher unwahrscheinlich für mich. Es fühlt sich merkwürdig an, Jubiläen dieser ausgeprägt erwachsenen Art haben sonst nur andere. Für so etwas kauft man Glückwunschkarten im letzten verbliebenen Schreibwarenladen des Viertels, oder man schickt einen freundlichen Gruß per WhatsApp an das herangereifte Paar. Aber dass man selbst ein solches Datum erreicht – ich staune.

Schön ist es, etwas unbegreiflich schön. Es wird im Folgenden wiederum ein Traditionslied mit passendem Refrain gespielt, Bernd Begemann und die Befreiung. Ein dermaßen passender Text aus meiner Sicht. Das Video zum Song wurde sinnigerweise, ich erwähne es jedes Mal, hier um die Ecke gedreht.


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Theater und allgemeine Umtriebigkeit

Im Landlebenblog geht es um die Manufacture d’orgues in Rambervillers, wie immer mit feinen Fotos: „Macht Ihr da draußen, was Ihr wollt.“ In den Kommentaren dort stellt jemand auch den Zusammenhang zwischen Orgelbau und Klimawandel her, woran man alles denken kann. Oder muss, je nach Beruf.

Um inhaltlich halbwegs korrekt ein Bild aus unserem kleinen Bahnhofsviertel anzulegen, wie zufällig liegt gerade eines bereit:

Der Schriftzug "Piano-Fabrik" an einer Altbau-Fassade

An diesem Gebäude hat allerdings nur der Schriftzug etwas mit den Instrumenten zu tun. Von altem Handwerk keine Spur.

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Ich erwähnte neulich das Stück „Altes Land“ im Ohnsorg-Theater, in dem die Herzdame und ich waren. Das ist zu ergänzen um den Hinweis, dass im Thalia-Theater ab 11. Oktober der „Apfelgarten“ laufen wird. Dieses Remix-Stück vereint Tschechows Komödie Kirschgarten mit Dörte Hansens Roman über das Apfelanbaugebiet, was auch eine interessante Idee ist. Sie hat daran mitgeschrieben, das würde bei mir gut in den Kontext der Saison passen. Ich bleibe dran.

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Weiter im bei mir vehement anlaufenden Kulturprogramm. Ich bin kurz nach Lübeck gefahren und habe mir die kleine, zur Nachbarschaft ausgelagerte Sonderausstellung des gerade geschlossenen Buddenbrookhauses im St. Annen-Museum angesehen. Es geht um den Zauberberg, hier gab es auch einen Bericht im NDR dazu.

Die Fassade des st. Annen-Museums in Lübeck

Als ich das Museum betrat und mich Orientierung suchend umsah, sprach mich das ungewöhnlich freundliche und hilfsbereite Personal dort sofort an: „Wollen Sie zum Zauberberg?“

Eine im Grunde märchenhaft einladende Begrüßungsfrage, wer kann dazu schon nein sagen. So könnten auch weitere 700 Seiten beginnen. Oder natürlich, passend zur Vorlage: „Ein einfacher älterer Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Lübeck im Schleswig-Holsteinischen.“

Die Ausstellung verbindet jedenfalls die im Roman thematisierten und zentralen Gegenstände mit passenden Zitaten. Wortmagie und Dingzauber werden verwoben, und die Ausstellungsmacherinnen hatten Spaß dabei, man sieht es. Es ist ein netter Einfall am Rande, dass auch die banalen Insignien der Gegenwart, die in jedem Museumsraum zwingend zu finden sind, schnöde Feuerlöscher, die Lüftungsanlagen, der Notausgang etc., mit entsprechenden Anreicherungen versehen worden sind. So steht auf einem Schild neben dem Lüftungsgerät etwa ein Zitat aus dem Roman:

Behrens meinte, es sei vorläufig hier nicht mehr viel für mich zu erreichen. C’est pourquoi je vais risquer un petit changement d‘air.”

Wer sagte es? Die von Hans Castorp angebetete Dame, meine ich, aber alle Angaben ohne Gewähr.

Da aber bloß nicht weiter darauf herumdenken. Sonst fängt man noch an, zu jedem Ding im Alltag einen Satz aus der Weltliteratur herauszusuchen und also wieder in Büchern zu wühlen. Und man kauft sich dann am Ende eine Etikettiermaschine und beklebt zuhause das gesamte Inventar mit sinnig verbundenen Textschnörkeln. Also mir zumindest wäre das fraglos zuzutrauen, so eine nette und überaus attraktiv erscheinende Sammelaufgabe.

Da lieber vorsichtig sein und gehörigen Abstand von der Idee wahren.

Wer den Roman gelesen und noch einigermaßen in Erinnerung hat, findet vermutlich Gefallen etwa am „perlmuttbeschlagenen Crayon“ der Clawdia Chauchat oder am Beispiel eines Blauen Heinrichs, den die Lungenkranken damals zu unschönen Zwecken mit sich herumtrugen und dergleichen mehr.

Der perlmuttbeschlagene Drehbleistift als Ausstellungsstück

 

Ein beispielhafter "Blauer Heinrich"

Und wissen Sie übrigens noch, wie uns zu Beginn der Pandemie der mittlerweile und entschieden zu früh verstorbene Sven Walser im leeren Ernst-Deutsch-Theater jeden Tag aus dem Zauberberg vorgelesen hat? Ich habe das sehr gemocht. Man kann die Lesungen auf Youtube natürlich noch finden. Und es wirkt auf mich, als seien diese Auftritte im toten Theater zehn Jahre oder eher noch länger her. Es ist etwas unheimlich. Nein, es ist, nachdem ich nun etwas darüber nachgedacht habe, doch entschieden unheimlich.

Aber wie auch immer, kommen Sie bitte gut über den hoffentlich zauberhaften Berg dieser Woche.

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Auf dem geistigen Heimweg

Ein weiteres Update zum schönen Dauerthema Tourismus sah ich, denn die Kaltmamsell ist auf Mallorca und sie ist nicht dorthin geflogen. Von Berichten dieser Art würden mich mehr interessieren.

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In den Mediatheken gibt es gerade Leonard Cohen satt, quasi Festwochen, es ist fast schon etwas unübersichtlich. Angefangen bei einem Zeitzeichen für den kurzen Einstieg. Dann weiter mit dem Londoner Konzert 2008 bei arte, und dort findet man auch eine Doku über „Hallelujah – ein Leben, ein Lied“. Wir haben ferner die ARD-Podcastreihe „So long, Cohen“ und als Krönung schließlich die Serie (acht Teile) „So long, Marianne“. Die, soweit ich auf den ersten Blick sehe, in den Medien gut besprochen worden ist, ich habe noch nicht damit begonnen.

Bei Gaga Nielsen wird außerdem gerade das Video zu „Moving on“ gezeigt. Das wurde in seinem Haus auf Hydra gedreht, es gehört heute seinem Sohn, schreibt sie. Irgendwo dort in der Nähe war auch der Wire, auf dem damals der Bird gesessen hat, man hörte dann später oft davon. Dieses Lied vom Vogel habe ich einmal live von der überaus geschätzten Esther Ofarim vorgesungen bekommen.

Also nicht nur ich, es waren noch mehrere Hundert andere Menschen dabei, versteht sich. Das war jedenfalls ein bemerkenswert schöner Moment. So einer, den man sich merkt, und bei dem man sich denkt, Gott sei Dank bin ich in dieses Konzert gegangen. Da habe ich jetzt etwas Bleibendes.

Jedenfalls überall einmal reinsehen und hören. In der nächsten Woche kommt der Regen, sehe ich übereinstimmend in sämtlichen Wetterberichten, wird es auch kälter, geht es viel deutlicher auf den Oktober zu. We want it darker, da sollte es doch passen, sich mit Dichtung zu beschäftigen.

Der Text im folgenden Lied ist nicht von ihm, aber das Lied ist doch sehr cohenesk, finde ich. Cohenesk und wunderbar.

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Ein neues Hörbuch habe ich angefangen, wieder ist es aus der öffentlichen Bibliothek über die Libby-App. Die sich Gott sei Dank merkt, wo man zuletzt beim Hören gestoppt hat, was beim Streamingdienst unfassbarerweise nicht der Fall war. Eine seltsame Fehlleistung in der Programmierung, die ich nie verstanden habe. Es wird sicher kein Zurück für mich mehr geben. Bibliotheken sind mir ohnehin lieber als kommerzielle Plattformen, da gibt es nicht viel zu überlegen. Ich finde auch genug Bücher in der Bibliothek, auf Monate hinaus, die Merkliste wächst und gedeiht.

Das Musikhören zu verlagern, all die Playlists, das wäre eine deutlich größere Aktion. aber wer weiß. Auch dafür vielleicht einmal Zeit nehmen. Die langen Winterabende, ja, ja. Nach und nach alles auf- und umräumen, immer eine feine und auch besinnliche Beschäftigung für die Monate auf -er.

Nun höre ich den „Wendepunkt“ von Klaus Mann, mit zwölf Stunden ebenfalls eher Langstrecke. Das ist wieder ein letztes Buch, wie schon beim Kempowski, das wird ein Zufall sein. Oder aber mein Unterbewusstsein ist da auf einem Trip, von dem ich noch nichts weiß. So einem Unterbewusstsein ist bekanntlich merkwürdig viel zuzutrauen, es entwickelt manchmal Interessen, ohne vorher groß zu fragen, ohne jedes Briefing. Man lebt so vor sich hin und fragt sich irgendwann überrascht, was zum Teufel man eigentlich macht und warum. Dann hört man bald neben dem Tinnitus das leise Lachen im Hintergrund des Hirns. Sie kennen das, nehme ich an.

Wo war ich. Gelesen wird das Werk diesmal von Ulrich Noethen, angenehm zurückhaltend trägt er vor, es erscheint mir passend.

Das erst posthum und nur mit Hilfe des Vaters erschienene Buch kenne ich bereits. Aber die Lektüre ist ausreichend lange her, das geht längst wieder. Man findet immer Neues, wenn das letzte Leseerlebnis Jahrzehnte zurückliegt, man liest als anderer Mensch. Gleich zu Beginn stellt Klaus Mann im Rückblick auf seine Kindheit und sein Leben fest, dass er als Zeiten der Seligkeit nur die Momente gelten lassen kann, die er im Schlaf verbracht hat. Und er fügt mit maximaler Bitternis und in aller Kürze an: „Es gibt kein Glück, wo Erinnerung ist.“

Damals habe ich vermutlich drüber weggelesen, diesmal bin ich beim Spaziergang mit dem Hörbuch etwas abrupt stehengeblieben. Das musste ich doch etwas nachklingen und wirken lassen, denn das saß, dieser Satz. Und er gärt vielleicht immer noch, aber das passt immerhin auch jahreszeitlich.

Es soll mir also willkommen sein. Herbstgedanken, wo sie hingehören, ich freue mich auf die Saison. Der September fühlt sich immer ein wenig wie ein geistiger Heimweg an.

Bilder: Oben eine Spiegelung an der Bleichenbrücke, unten ein Blick aus der Europa-Passage.

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Kempowski, Hansen, Lenz, Mann

Den Kempowski, „Alles umsonst“, habe ich nun komplett durchgehört. Bis zum bitteren Ende, wie man in diesem Fall routinemäßig sagen muss, und wie es bei Geschichten über Ostpreußen und das Kriegsende 1945 naheliegend ist. Irgendeinen der Soldaten, die da im Roman eher beiläufig vorkommen und am Rande der großen Flucht agieren, hätte ich mir nebenbei und passend als meinen Großvater denken können. Der aus jener Gegend nicht zurückkam und bei Pillau liegt, heute Baltisk, nach wie vor russisches Gebiet. Einen intensiven Bezug zu diesem Thema habe ich allerdings nie entwickeln können, zu spärlich waren die Berichte und Überlieferungen.

Wie es bei Büchern über die extremen Zeiten unserer Geschichte ebenfalls naheliegend ist, wundert man sich hinterher eine Weile etwas mehr, was in den Nachrichten gerade alles als Krise bezeichnet wird. Mitten im Frieden und Wohlleben. Das sind allerdings Gedanken, die niemanden nützen, und alles Relativieren führt uns eh zu nichts, ich weiß. Es kann kaum sinnstiftend sein, den Alltag von Extremen aus zu bewerten.

Nur ein, zwei Tage lang denkt man die Eckpunkte der Geschichte unwillkürlich wieder mit und möchte beim Lesen der News immer murmeln: „Das sind gar keine Krisen. Das sind höchstens Befindlichkeiten.“ Aber diese Wertung steht mir auch vom Alter her gar nicht zu.

Ansonsten im Theater gewesen, unsere Saisoneröffnung. Wobei ich dieses Wort nur verwende, um mich selbst zu weiteren Besuchen zu motivieren. Ich bin im Alltag nachlässig und  starren Routinen und Bequemlichkeiten verfallen. Wie es wohl den meisten geht, daher komme ich zu selten zu besonderen Abendterminen. Dabei habe ich große Theater so dicht vor der Tür, wie es nur denkbar ist. Um die Ecke im wahrsten Sinne.

Die Fassade des Ohnsorg-Theaters im Bieberhaus, der rote Schriftzug Ohnsorg

Die Herzdame und ich gingen diesmal ins Ohnsorg-Theater neben dem Hauptbahnhof, wo auf der kleinen Studiobühne (auf der auch einmal Sohn I gestanden hat, wie wir dort immer murmeln müssen) eine Inszenierung von „Altes Land“ als intensives Drei-Frauen-Stück gegeben wurde. Eine erzählte und gespielte Umsetzung des Romans von Dörte Hansen mit nur einem Mann als Nebenfigur (Kerstin Hilbig, Ruth Marie Kröger, Kristina Nadj, Florian Miro, Regie Julia Bardosch).

Es wirkte dann zwar so, aber es war keineswegs geplant, dass der Abend wie ein weiteres Puzzlestück zum Kempowski passte. In dem einen Roman die Flucht aus Ostpreußen, im anderen die Ankunft der Geflüchteten in der Nähe von Hamburg und der schwierige Neuanfang. Weil Flüchtlinge bekanntlich nicht einmal dann willkommen sind, wenn sie aus dem eigenen Land kommen.

Ein Ölgemälde, es zeigt Heidi Kabel, hängt im Ohnsorg-Theater, durch das Fenster daneben sieht man das Klockmann-Haus

Beeindruckend war es für mich, diese beiden Inhalte direkt nebeneinander, eine etwas seltsame und allzu direkte Fügung in meinem Kulturmenü. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sogar die Namen der Figuren noch gepasst hätten, wenn es nahtlose Übergänge gegeben hätte.

Um im Kontext zu bleiben, könnte ich jetzt noch das Heimatmuseum nach Siegfried Lenz im Altonaer Theater in Betracht ziehen. Das läuft demnächst an, und ja, ich glaube, so wird es kommen.

Altes Land“ läuft im Ohnsorg nur noch bis zum 29. September, das wird ein etwas sportliches Timing sein, falls Sie da noch Interesse haben. Uns hat der Abend jedenfalls gefallen. Es war Theater mit geringen Mitteln der Requisite und Kulisse, ich habe auch dafür eine Schwäche. Wenn einige wenige Gegenstände durch das Spiel aufgeladen werden, gewissermaßen das Gegenstück zur Wortmagie im Bereich der Dinge, es passt schon.

Ab Mai 2025 wird das Stück aber noch einmal gegeben, und dann auf der großen Bühne, vielleicht etwas zum Vormerken für Sie.

Umsetzungen von Romanen sehe ich mir besonders gerne im Theater an, siehe auch Literaturverfilmungen, die sind oft interessant für mich. Im Ohnsorg-Theater wird es im nächsten Frühjahr die Buddenbrooks geben, habe ich dort gesehen. Das dann also auch mitnehmen, versteht sich. Da kann man schon weit voraus denken, und ich werde dann nach Möglichkeit berichten.

Ich: „Hast du die Buddenbrooks eigentlich je gelesen?“

Die Herzdame: „Du hast damals mehrfach versucht, sie mir vorzulesen, aber ich bin immer eingeschlafen.“

Vielleicht bis zum Mai noch einen Versuch machen? Abends im Bett je ein paar Seiten, an den langen Winterabenden? Oder, um den Dichter Bernd Begemann zu zitieren: Gib mir eine zwölfte Chance.

Ohnsorg-Theater innen, der Treppenaufgang zur Studiobühne

Auf den Bildern heute das Ohnsorg-Theater im Bieberhaus, das Heidi-Kabel-Porträtgemälde zu ihrem 70. Geburtstag auf dem oberen Theaterflur, der Treppenaufgang zur Studiobühne.

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Ein gewisses Überdrehen der Symbolik

Ein weiteres Update zum Thema Klimawandel und Tourismus, inkl. „Coolcation“, ohne neue Vokabeln kommen wir bei keinem Thema aus. Neulich, wo ich schon beim Vokabular bin, habe ich einen Kollegen in irgendeinem Call gehabt, der gerade auf Workation war. Er sprach von einer Insel im Mittelmeer, es war eine Erwähnung nebenbei. Und das Interessante war für mich, dass es nicht weiter interessant war. Dass Workation in dieser Saison also auch schon das neue Normal war. So schnell kann es gehen, und da haben wir sie dann schon wieder, unsere Anpassungsfähigkeit.

Die Fensterfronten im Innenhof des Sprinkenhofbaus

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Ich erwähnte neulich in etwas längerer Ausführung den Herbst und seine dekorativen Phänomene im Blog, prompt wurde in Hamburg eine weitere Woche bester Spätsommer ausgeliefert und nachgeschoben, in feinster Qualität. Ich ging an einem seltsam warmen Abend durch die benachbarte Ausgehmeile mit der schnell wiederbelebten und ausnahmslos voll besetzten Außengastro. Es war ein wenig, als hätte man ein abgelaufenes Stück schnell und spontan noch einmal auf den Spielplan gesetzt und die Kulissen fix wieder auf die Bühne geschoben, noch eben kurz abgestaubt. Ich hörte von Tisch zu Tisch beim Passieren Sätze wie:

„Jetzt ist es wieder Sommer.“

„Doch noch ein Sommerabend.“

„Das muss man jetzt aber genießen!“

„So schnell ist der Sommer nicht vorbei.“

„So kann es gerne immer weitergehen.“

Smalltalk-Elemente sind das, bei denen man sogar dann eloquent anschließen könnte, wenn man in dieser Art der Gesprächsführung eher unterbegabt ist. Nur das Wort Klima dabei besser vermeiden, denn es passt nicht in jedes Gespräch, und man kann auch nicht immer alles mitdenken, nicht einmal als Spielverderber vom Dienst.

Die Steinstraße in einem autoleeren Moment

Auf dem Platz vor der Kirche die Kreuzigungsgruppe im Freien und im letzten Sonnenschein. Die Replik eines Kunstwerks aus dem Mittelalter ist das, die drei Angenagelten aus Bronze oben auf ihren Sockeln, Maria und Johannes trauernd davor. Wenn man aus dem richtigen Winkel hinaufsieht, erkennt man ein gewisses Überdrehen der Symbolik, denn unter der linken und der rechten Achsel Jesu erkennt man emsig webende Kreuzspinnen, die seinen gequälten Körper silbrig umnetzen und offensichtlich gut Bescheid wissen, wo sie hingehören.

„Herbst ist, wenn die Spinnen überall sind“, pflegte mein Vater zu sagen, der diese Tiere ganz und gar nicht leiden konnte, und danach ist es in dieser Woche so weit. Augusttemperaturen hin oder her.

Ich erwähnte andererseits auch die Migräne im Blog und entwickelte kurz darauf heftige Kopfschmerzen, die so eine gewisse Richtung hatten, so einen bestimmten Zug ins dermaßen Abseitige und Übersteigerte, dass ich der Arbeit lieber einen Tag fernblieb und ungewöhnlich lange mitten am Tag die Augen zugemacht habe … es ist manchmal doch lästig mit diesen unweigerlich erscheinenden Interaktionen zwischen Text und Welt.

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Es gab ansonsten einen ersten Elternabend des neuen Schuljahres. Ich wurde als Vertreter der Elternvertreterinnen gewählt, mit einer Zustimmungsrate wie in besonders unverschämten Diktaturen. Man muss bei diesem Amt in aller Regel nichts machen, also tatsächlich überhaupt nichts. Und es wurde allgemein festgestellt, dass ich das in der Vergangenheit, in der ich diese fürs Protokoll doch wichtige Rolle bereits routinemäßig innehatte, gut gemacht hatte, dass mein Nichtstun also angemessen und passend war.

Auch einmal gelobt werden! Man muss immer darauf sehen, wo man es sich zusammensuchen kann.

Blick über das Nikolaifleet

Auf den Bildern im Text oben noch einmal die Fassaden des Sprinkenhofs, dann die Steinstraße in einem zäh abgewarteten autoleeren Moment, unten schließlich der Blick über den Nikolaifleet, von der Großen Johannisstraße aus.

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Das Alltägliche und das Undurchdachte

Die Kaltmamsell besprach hier „Kairos“ von Jenny Erpenbeck, gerne gelesen. Also die Rezension, nicht das Buch. Das könnte ich höchstens vormerken, aber der Stapel neben dem Bett ist bereits bedenklich hoch.

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Ich habe das Buch „Machtübernahme“ von Arne Semsrott gekauft und einem Sohn geschenkt. Man muss der nächsten Generation nach Möglichkeit etwas Sinnvolles mitgeben.

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Der andere Sohn kam mittlerweile von seiner Klassenfahrt zurück, der ganze Jahrgang war zum Segeln in Holland.

„Und, wie war es?“

„Es gab kein WLAN auf dem Schiff.“

Ein Drama in modern kurzer, minimalistischer Fassung. Nur ein Akt, ein Auftritt, ein Satz. Wie viel Aussage steckt in dieser Antwort, wie viel Bitternis auch.

Sonst war es aber super. Wenn sie auch die einzige saukalte, verregnete Woche weit und breit erwischt haben, was sich für alle Beteiligten etwas absurd anfühlte.

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Der Mittelkanal in Hamburg-Hamm

Im Bild zusammenhangslos der Mittelkanal in Hamburg-Hamm, in der Nähe des Gartens. Kein Herbst zu sehen.

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Weitere Stunden und mit großem Interesse Kempowskis „Alles umsonst“ gehört, seinen letzten Roman, vorgelesen von ihm selbst. Wie ein Profisprecher liest er, was nicht selbstverständlich für schreibende Menschen ist, immerhin ist es auch eine Langstrecke. Vielleicht liegt sein Können als Sprecher ein wenig daran, dass er Lehrer war. Ein Berufsleben lang an das möglichst gut verständliche Vortragen gewöhnt, ich kann es mir so vorstellen.

Man hört, wie er Sprache liebt und besonders einige Begriffe. Diese besonderen Bezeichnungen und Wendungen, die zu Ort und Zeit in herausragender Weise passen, die Signalwörter. Geradezu mit Lust werden sie betont. Man hört seine Freude über die richtige Wortwahl und auch über die Wiederholungen. Ich finde das aufschlussreich, wie er die Wörter dabei auflädt. Wobei die Kritik in den Feuilletons ihm diese Liebe zu Phrasen auch gerne vorgeworfen hat, allzu banal kam es einigen vor. Ich bin eher Team Kempowski, aus meiner Sicht macht er das richtig. Er beobachtet genau, erfasst treffend und ja, es konzentriert sich vieles in Phrasen und Begriffen, denn wir alle neigen zur Wortmagie. So ist es für mich auch in der Wirklichkeit und wird daher korrekt abgebildet.

Fast möchte ich seine früheren Romane erneut anlesen, mit dieser Stimme und dieser Betonung im Ohr. Es ist doch zu und zu faszinierend.

Im Roman geht es um die letzten Szenen vor dem Kriegsende 1945, um die Flucht aus Ostpreußen, dargestellt an einem überschaubaren Figurengrüppchen, die meisten überleben die Handlung nicht. Und Kempowski macht, was sonst literarisch nicht oft in dieser Deutlichkeit gemacht wird, er bricht die Entscheidungen zum Guten oder Bösen, die den Nachgeborenen später tragisch, groß und geschichtsentscheidend vorkommen werden, fast bis auf Launen und Stimmungen herunter. Auf das Alltägliche und das Undurchdachte, auch darauf, dass man als handelnde Person eben immer irgendwas macht. Und das fällt dann so oder so aus, auch bei Wind von vorn, um im Kontext und Sprachgebrauch zu bleiben.

Es ist aber selten im theatralischen Sinne konzipiert, durchdacht und geplant, was da von uns Menschen im Wirrwarr des geschichtlichen Ablaufs inszeniert wird. Es scheint sich in den meisten Fällen eher einfach zu ergeben, und nur mit viel Glück ist es im kritischen Rückblick nach Jahren noch in Ordnung. Vermutlich ist es das eher nicht, und darüber schweigt man dann. Was meine Generation bekanntlich so überaus gründlich erlebt hat – was wurde uns alles nicht erzählt.

Wenn es darum geht, Geschichte verständlich und nachvollziehbar zu machen, sie vom Sockel zu holen, scheint mir dies einer der geeigneteren Romane zu sein, und Kempowski hat für mich da etwas mit Fontane gemeinsam. Menschen und ihre Handlungen so zu schildern, dass man die Epochen an diesen Beispielen zu verstehen meint, das haben beide vermocht. Siehe auch etwa bei Heinrich Mann mit seinem Untertan oder bei Joseph Roth mit dem Radetzkymarsch etc., und mit denen kommt man weit durch die deutsche Geschichte, hat alles recht nachvollziehbar vor sich und wundert sich manchmal etwas weniger.

Für die westdeutsche Gegenwart dann vielleicht noch Gerhard Henschel anlegen, den man als Chronisten kaum unterschätzen kann, der reicht dann bis weit in unsere Zeit (der nächste Band der bereits umfangreichen Martin-Schlosser-Reihe, sehe ich gerade, erscheint im November: Frauenroman, da haben wir dann die Neunziger abgebildet).

Bei der ostdeutschen Variante der Geschichte unseres Staates bin ich allerdings nicht kundig.

Und aus der Zeit nach der Wiedervereinigung habe ich wegen der im Laufe der Jahre zunehmenden Gegenwartsaversion nicht genug gelesen, kenne mich also kaum aus. Vielleicht ist es bedauerlich, aber man kann sich auch nicht für alles interessieren.

Ich habe mir passend zum Kempowski-Roman noch etwas Doku-Material zur Flucht aus Ostpreußen angesehen, danach dann aber Albträume wie lange nicht mehr gehabt. Quasi in lehrbuchmäßiger Ausprägung, und wer braucht schon besondere Qualität bei Albträumen. Meine Güte, was kann die Fantasie im Schlaf leisten.

Der Innenhof des Sprinkenhofs im Hamburger Kontorhausviertel

Im Bild der Innenhof des Sprinkenhofs, Stichwort Backsteinexpressionismus, Weltkulturerbe und alles.

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Was wissen wir schon

Gesehen: Diese Doku über Annie Lennox auf arte.

Mein Lieblingssong von ihr bleibt das folgende Cover. Für mich ist es immerhin zweitbeste Cover des Songs, nach der allerdings unschlagbaren Version von Dan Reeder:

Von diesem Video aus kann ich zwanglos und bildgesteuert wie die Generation MTV zu Vaya con Dios assoziieren. Damals auch die Aufnahmen in der Manege, wie gut das passt. Womöglich habe ich, fällt mir gerade auf, eine ausgeprägte Schwäche für starke Frauen mit markanten Stimmen, die im Zirkus singen.

Nicht bei allen Neigungen ist es immer leicht und einladend, ihnen nachzugehen.

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In den Foodblogs sehe ich nun die beginnenden Reihen der endlosen Kürbisrezepte, den ganzen Winter hindurch werden sie uns dort erscheinen. Auf Instagram sehe ich entsprechend die ersten gestylten Kürbisbilder aus den USA, aus England, Schottland und Irland. Jetzt wird dort alles herbstlich voll aufgedreht. Das Indian-Summer-Gold der Bäume und das Hokkaido-Orange im Interieur-Dekobereich, alles in barockem Übermaß und schönstens gestaltet. Wer jetzt keinen Kürbis hat …

Klickt man versehentlich irgendetwas davon an, bedienen einen die Algorithmen noch wochenlang mit Edinburgh im Regen. Mit Halloween-Dekor aller Art und Dark-Academia- oder Cottage-Core-Ambiente in sämtlichen nur denkbaren Ausprägungen der herbstlichen Art: Auf allen Bildern regnet, dunkelt oder nebelt es. Und immer ist es schön, stehen draußen Hirsche oder Rehe im dämmernden Garten, dampft Tee oder Kaffee freundlich in edlen Tassen, funkelt Rotwein im alten Glas, liegt beruhigende Trostschokolade bereit. Immer brennen die Kerzen auf den silbernen Ständern aus dem Familienerbe, liegen die ästhetisch angegilbten Klassiker der Weltliteratur aufgeschlagen herum, und stets pianiert jemand dezent im zugespielten Soundhintergrund etwas aus einer Playlist mit Titeln wie „Klassik zum Einschlafen“, „Cozy autumn“ und dergleichen.

Schaurig ist’s, durch den Herbst zu gehen. Aber eben auch attraktiv.

Es ist aber in Wahrheit noch recht grün, was da bei uns ganz unseptembrig weiterhin an den Bäumen hängt. Und es blüht auch noch hier und da in den Beeten, sommersüße Himbeeren ernen wir weiterhin auf der Parzelle.

Rosafarbene Blüten des Phlox, dazwischen ein grünschwarzes Schneckenhaus

In der Schreberkolonie wird noch kein Laub geharkt, es lohnt sich nicht. Etwas gammelndes Fallobst kann man aufsammeln, und das muss dann erst einmal reichen für die Besinnlichkeit des endenden Sommers.

Die duchbrochen zermodernde Hülle einer Lampionblume, kunstwerkähnlich fein ziseliert

Nur die Eicheln fallen in diesen Tagen passend und üppig im ausgesprochen sonnigen, trockenen Hamburg und zerknacken mir auf den Spaziergängen hell unter den Füßen. Immerhin Septembergeräusche.

Auf dem Spielplatz sitzen am frühen Morgen Eichhörnchen und Eichelhäher fast traut nebeneinander, ich sehe es beim Kaffeekochen aus dem Küchenfenster, es sieht wie eine kurze Dienstbesprechung der beiden aus. Sie stecken förmlich die Köpfe zusammen, wenn auch nur kurz. Vielleicht gibt es bei ihnen Vereinbarungen à la „Du von links, ich von rechts.“ Und dann fangen sie bei der großen Eiche neben der Schaukel an. Da eben alles wegräumen und irgendwo einlagern, bevor wieder die so sehr störenden Kinder kommen und die Arbeit behindern.

Vielleicht stimmt man sich bei diesen Tieren viel höflicher ab, als wir denken.

Was wissen wir schon.

Blick über den Mittelkanal in Hamm, noch sommerliche Anmutung, grüne Bäume am Ufer

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Weil das Leben ist doch hart genug

Neulich erwähnte ich, hier war es, die so früh geschlossenen Geschäfte im Hamburger Bahnhof Dammtor, darunter sogar der Kiosk mit den Presseprodukten. Es war vermutlich gegen 18 Uhr, je nach Betrachtung war es noch nicht einmal Abend. Im Grunde sah ich da eine fast komplett geschlossene Bahnhofshalle, nur die Systemgastronomie war noch geöffnet. Dazu war irgendwas mit dem Deckenlicht nicht in Ordnung, es war teils kaputt oder falsch geschaltet, was weiß ich. Es war jedenfalls deutlich zu dunkel im Bahnhof.

Dunkel und geschlossen, man kann es sich wieder als Bild abspeichern für die länger werdende Reihe „Zeichen des Niedergangs“, deren Symbole man allzu leicht übersieht. Weil sie einem schnell, viel zu schnell selbstverständlich vorkommen. Wegen unserer unfassbar leistungsstarken Anpassungsfähigkeit, die es uns so schwer macht, derartige Veränderungen ausreichend zu würdigen. Dabei sind sie gravierend und geschichtlich relevant.

Man muss zurückdenken, einige Jahre mindestens, vielleicht bis 2019, um sich wieder klarzumachen, was sich hier dreht und wie signifikant dieser Wandel ist. Im Sinne des Assoziationsdominos hier anzulegen ist der Hautbahnhof von München, wie ich ihn bei der Sommerreise beschrieben habe, an und in dem praktisch alles kaputt war, und das nicht nur baustellenbedingt.

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Abends vor dem Einschlafen lese ich gerade ein, zwei Texte von Adelheid Duvanel aus „Fern von hier“, mehr schaffe ich davon nicht. Kurze und intensive Erzähltexte sind das, die wie Gedichte zu lesen sind, meine ich zu verstehen. Man kann nicht alles gleich einsortieren, man kann vielleicht auch nicht alle Bilder deuten, es klingt etwas an oder nicht. Es bleibt manchmal etwas im Abgang, tatsächlich wie bei Gedichten.

Das Buch "Fern von vier", Adelheid Duvanel, btb-Taschenbuchausgabe

Den Uwe Johnson, die Mutmaßungen über Jakob, habe ich allerdings in der Mitte abgebrochen und dann zurück in den öffentlichen Bücherschrank gebracht. Natürlich in den anderen der beiden Schränke um die Ecke, also in den, aus dem ich das Buch nicht habe. Immer für weiteren Umlauf sorgen! Ich glaube, es war nun mein vierter oder fünfter Versuch, dieses Werk bis zum Ende zu lesen. Aber es gibt eben Bücher, in die kommt man immer wieder gut rein, doch nie ganz durch. Mit Wolfgang Koeppen geht es mir ähnlich. Und es macht auch nichts, vielleicht habe ich im nächsten Sommer wieder Lust, noch einmal zu beginnen, die sich jährlich erneuernde Lust der ersten Seiten.

Jeder sportliche Ehrgeiz bei diesem Thema geht mir ab, ich bin längst bei einer tiefenentspannten Lesegrundhaltung angekommen. Weil das Leben ist doch hart genug, wie es bei Extrabreit damals vollkommen zu Recht hieß, und da wussten sie noch gar nichts von unserer Zeit.

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Ansonsten sah ich in den Timelines am Freitagmorgen der letzten Woche die ersten kapitulierenden Heizungsmeldungen. Im Supermarkt lag nun auch bei uns das erste Produkt mit Weihnachtsmannaufdruck und im Discounter wurde das übliche Saisonsonderwarenregal aufgebaut. Zucker, gestern wurde es gemeldet, wird passend wieder billiger, deutlich sogar.

Auf den Wegen in Hamburg mischten sich in den letzten Tagen bei teils überschaubaren sechzehn Grad die Menschen in T-Shirts und kurzen Hosen unter die Menschen in Winterjacken, mit Mützen und Schals. Beide Parteien sahen sich gelegentlich etwas entgeistert an, wenn sie nebeneinander an den Ampeln standen, denn die Temperaturempfindungen fallen beim Menschen krass weit auseinander. Ich hielt mich etwa in der Mitte, für mich war bestes Pulloverwetter.

Alle Pullover habe ich dermaßen lange nicht getragen, es ist ausgesprochen nett, sie nach und nach wiederzusehen. Alte, textile Kameraden. Wenn man sich darüber freut, was man vor Jahren einmal gekauft hat, es ist ein so billiges, einfaches Vergnügen.

In unserem Haus steht noch die Restwärme aus dem August. Heizen müssen wir hier nicht, und das kann noch zwei, drei Wochen dauern. Mit etwas Glück sogar länger, denn der Wetterbericht wirft noch einmal die 25 Grad für die nächsten Tage aus. Es ist mit den Jahreszeiten wie mit den Toten in den Gruselfilmen– manchmal kommen sie wieder.

reife Äpfel, rotgrün, an einem Baum, Regentropfen darauf, aber das Licht ist sonnig

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Im Bild hier unten das Riesenrad auf dem Hamburger Dom. Der längst vorbei ist, ich schiebe noch etliche verschleppte Bilder vor mir her. Demnächst wird schon wieder Winterdom sein, nehme ich an. Ich werde vom Veranstaltungskalender der Stadt überrundet, so sieht es aus.

Das obere rechte Viertel des Riesenrads auf dem Hambuger Dom

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