Die Herzdame backt: Tarte Tatin – featuring Patricia

Die Tarte Tatin ist natürlich nicht irgendein Kuchen, das ist eine sehr, sehr französische Angelegenheit mit dazugehörigem Mythos von den beiden Damen Tatin. Da ist es besser, man lässt Fachleute ran, in diesem Fall also z.B. eine Französin. Wir haben dafür Patricia besucht, eine langjährige Freudin der Herzdame. Patricia hat die richtige Nationalität, sie hat außerdem damals eine wichtige Rolle bei unserer Hochzeit gespielt, sie ist Patentante von Sohn II und der Familie also auf so manche Art verbunden – und jetzt auch per Blogeintrag.

Patricia

Patricia hat ein Händchen für Deko und Einrichtung, weswegen man nach einem Besuch bei ihr immer ein seltsames Gefühl empfindet, wenn man wieder nach Hause kommt und das eigene heruntergewirtschaftete Chaos betritt, das man so Wohnung nennt. Sie wohnt irgendwie immer dekorativer als wir, obwohl sie auch zwei Kinder hat.

Dekoklimbim

Bei Patricia sieht immer alles gut aus, ist nett arrangiert und wohlüberlegt. Bei Patricia schmeckt auch immer alles, was sie wie nebenbei in der Küche zusammenrührt, ich bewundere das sehr.

Nüsse

Ich rede mir manchmal ein, dass das mit dem Essen daran liegt, dass sie dauernd so viel Lebensmittel aus Frankreich mitbringt, aber im Grunde kann man das natürlich nicht glauben.

Dekoklimbim

Sie kann es einfach. Jedesmal, wenn wir bei ihr waren, denken wir hinterher ein paar Tage lang, das wir das doch auch können müssten! So mit Liebe kochen, alles so nett anrichten und einrichten, überhaupt so gepflegt herumleben. Zumindest ein wenig! Dann legen wir zaghaft zwei Weintrauben neben den Käse auf dem Abendbrottisch, aber es ist irgendwie doch nicht vergleichbar. Wir bleiben stets bemüht, mehr ist es nicht.

Wasser mit Zeug

Tarte Tartin also, wir brauchen zunächst mal einen Mürbeteig, Pâte Brisée, wie die Fachfrau sagt. Es geht los.

Patricia und die Herzdame

Für den Mürbeteig brauchen wir:

200 g Mehl
100 g Butter
10 g Zucker
1 Ei
1 Prise Salz

Zutaten Mürbeteig
Teig in Schüssel

Butter in Flöckchen in eine Schüssel geben. Mehl dazusieben (Patricia siebt wirklich, war klar), das Ei, Zucker und Salz dazugeben. Alles sehr gut verkneten, zu einer Kugel rollen und in Frischhaltefolie etwa eine Stunde kaltstellen.

Teig in Folie

Patricia backt übrigens nach diesem Buch hier, es macht schon einen etwas abgelebten Eindruck, wie es sich für wirklich anwendbare Kochbücher gehört.

Kochbuch

Wir brauchen außerdem:

Etwa 600 Gramm Äpfel
150 Gramm Zucker
75 Gramm Butter
Etwas Zimt

Pommes

Die Äpfel werden in wirklich dünne Scheiben geschnitten, nicht etwa in norddeutsche Apfelkuchenkeile. Dünn!

Äpfel schneiden

Die Herzdame schneidet Äpfel

Butter in einer Pfanne erhitzen, Zucker zugeben und schmelzen lassen. Dann kommen die Äpfel und der Zimt dazu.

Geschnittene Äpfel

Äpfel in Pfanne

Äpfel in Pfanne

Das sieht gut aus, das riecht auch gut, da kommen, wenn die Fenster offen sind, sämtliche Kinder aus dem weiteren Umkreis des Hauses wie zufällig vorbei und fragen, ob es vielleicht bald Kuchen gibt. Die Äpfel sind nach kurzer Zeit hübsch bräulich karamellüberzogen.

Den Teig auf einer bemehlten Fläche ausrollen, was Patricia hier übrigens nur wegen des besseren Lichts auf dem Wohnzimmertisch macht, normalerweise machen das auch Menschen aus Frankreich eher in der Küche. Prüfen ob die Größe reicht!

Teig ausrollen
Teig ausstechen

Teig auslegen

Teig auf Tisch

Die karamellisierten Äpfel kommen in die Kuchenform, der Teig kommt auf die Äpfel, es wird kunstvoll ein Rand gebastelt und alles wird vorsichtig festgedrückt. Ich hoffe, die Bilder sprechen hier einigermaßen für sich.

Äpfel in Form

Äpfel in Form

Teig über Äpfeln

Rand schneiden

Teig in Form

Patricia und Maret und Teig

Teig andrücken

Backofen vorheizen. Nach dem Backen – bei 180 Grad etwa 20 Minuten, Patricia backt nach Gefühl – wird die Form beherzt gestürzt, ein Moment, der nicht ohne Spannung ist.

Patricia an Ofen

Gebackener Mürbeteig

Tarte Tatin stürzen

Tarte Tatin stürzen

Im besten Fall sieht das Ergebnis etwa so aus:

Tarte Tatin schneiden

Man isst es mit Vanilleeis und Sahne. Und mit erheblicher Begeisterung, versteht sich.

Tarte Tatin

Die Herzame mit Kuchen

Laut Original-Rezept isst man es in Frankreich übrigens mit Crème fraîche, bzw. mit geschlagener Crème fraîche. Da sagt Patricia aber, es müsse gute Crème fraîche sein, womit sie vermutlich eine Qualität meint, die hier nicht im Kühlregal steht. Es gibt anscheinend etliche Möglichkeiten zwischen Crème Fouettée und Crème Chantilly, gerade bei Milchprodukten gibt es doch ein paar entscheidende Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland, man rede nur einmal über Butter. Mit Vanilleeis und banaler geschlagener Sahne schmeckt es auf jeden Fall großartig.

Und das alles ist, so sagt Patricia, total einfach und macht sich nebenbei, während man kocht. Die Herzdame denkt darüber noch nach.

Die Herzdame

Shopping

Die Herzdame ist nach wie vor vom Ehrgeiz besessen, die Wohnung bis hin zum Idealzustand zu verschönern – was auch immer dieser Idealzustand eigentlich sein mag, ich weiß es gar nicht. Sie hat so ein Bild im Kopf, sagt sie. Ich kann aber nicht in ihren Kopf gucken, deswegen ist mir nicht klar, was bei der Renovierung herauskommen soll. Ich kann nur immer wieder auf ihren Computer gucken, auf dem sie mir Möbel zeigt, die für gewisse Ecken der Wohnung vielleicht in Frage kommen.

Das sind Möbel, die man online bestellen kann, man kann ja mittlerweile alles online bestellen, aus einer schier unfassbaren Auswahl. Dieses Übermaß an Angebot führt dazu, dass für den sehr übersichtlichen Wandmeter hinter meinem Schreibtisch eine geradezu unendliche Anzahl Kommödchen in Frage kommt, immer noch eine und noch eine. Ich sehe teilweise nicht einmal mehr die Unterschiede zwischen den nahezu identischen Möbeln, worauf hin die Herzdame streng guckt und an meinem Verstand zweifelt: “Die Fassung der mittleren Schublade ist doch unten einen winzigen Tick dunkler weiß als bei der anderen!” Ich habe aber vergessen, wie die andere aussah, wir sind gefühlt mindestens bei Modell Nummer 150. Ich habe längst keine Lust mehr auf Möbelseiten, ich könnte mir auch einfach eine Apfelsinenkiste oder einen Pappkarton hinter meinen Schreibtisch stellen, wie damals in der WG. Ging doch auch!

Der ganze Onlinehandel geht mir überhaupt auf die Nerven, ich finde Auswahl immer anstrengender. Um endlich und tatsächlich eine Kommode zu kaufen, brauchen wir eigentlich einen Shop mit ganz kleiner Auswahl und am besten auch keiner Beratung, die verwirrt nur. Reingehen, auf eine von den beiden vorrätigen Kommoden zeigen, bezahlen, rausgehen. Das ist mein Traum.

Ach, das gibt es? Ach, das heißt Ladengeschäft? Dann gehe ich da mal hin. Einer muss ja wieder damit anfangen.

(Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten und in der Ostsee-Zeitung)

Warten, warten

Es wird eine Zeit kommen, wer weiß wann, da werde ich wieder leichter meine Wege gehen, unbeschwerter. Schneller auch, ja, schneller und etwas froher womöglich und vielleicht sogar wieder mit einem leicht hüpfenden Gang, wie damals auf dem Heimweg nach der Schule, als ich zum Strand eher flog als ging. Ich werde endlich das Gefühl haben, um Tonnen erleichtert zu sein, ich werde mich vollkommen ungehindert bewegen und nur noch manchmal seufzend zurückdenken an die lange Zeit der Mühsal und Beschwernis. Es dauert noch etwas, ich weiß, ich muss Geduld haben, das habe ich verstanden. Ich füge mich ja auch. Monate, vielleicht auch Jahre muss ich warten, ich warte, ich warte, oh, wie ich warte. Und doch weiß ich ganz sicher , dass es irgendwann soweit sein wird. Irgendwann – vielleicht sogar bald! – werden die Söhne doch noch endgültig aus dem Alter raus sein, bei jedem zweiten Stein am Wegesrand zu rufen: „Wow, so ein toller Stein! Da, noch einer – und da! Ganz viele! Papa, steckst du die für uns ein? Bitte?“

Doch, das wird schön.

 

12 von 12 im Juni

Ein ganz normaler Tag diesmal, kein Ausflug, kein Geheimprojekt, kein gar nichts. Nur etwas Sommer und eine Ahnung von Wochenende.

Nüsse

 

Ich ernähre mich am Morgen wie gewohnt von dem, was Sohn I aus dem Müsli sortiert, ich bin ein genügsamer Familienvater. Drei Nüsse für Buddenputtel, ist schon recht. Ich brauche ja nix.

Frisur von Sohn II

 

Die Herzdame stylt derweil die Frisur von Sohn II mit einem Zeug, das tatsächlich wörtlich „krassen Halt“ verspricht. Was es alles gibt! Sohn II orientiert sich frisurtechnisch gerade an Sascha Lobo und an einem Kuschelrentier, das versehentlich im Januar nicht mit der Weihnachtskiste in den Keller gezogen ist. Warum das Rentier und Herr Lobo die gleiche Frisur haben, man weiß es nicht. Sohn II jedenfalls geht stolz mit Iro zur Kita, ihm ist in geradezu bewundernswerter Weise vollkommen schnurz, was andere davon halten. Was seine Erscheinung betrifft, ist er immer schon über alles Feedback erhaben, es ist faszinierend. Er ist er. Fertig. Ich hätte das als Kind nicht so gekonnt.

Himmel über dem Mariendom

 

Draußen findet derweil ein Wetterchen statt, sogar inklusive halbwegs warmer Temperaturen.

Aprikosen

 

Ich gehe ins Büro, aus dem Büro gibt es wie immer keine Bilder. Fast keine Bilder, denn mein rustikaler Obstsalat kann wohl ruhig abgebildet werden. Im Sommer stelle ich die Ernährung tagsüber auf Obst um, das gehört so. Von regional kann hier aber keine Rede sein, schlimm.

Bier

 

Nach der Arbeit in den Park. Wir haben in diesem Stadtteil, was sicher nicht alle haben, wir haben einen wirklich funktionierenden Park. Also einen Bilderbuchpark, in den alle gehen. Um zu spielen, um sich zu sonnen, um zu lesen, zu essen, zu trinken, Gitarrre zu üben, Fußball zu spielen, in die Gegend zu starren, zu reden. Der Park ist weder besonders groß, noch besonders schön, aber es ist unserer. Es gibt Gastronomie, es gibt Stühle, es gibt Toiletten. Und wenn man lange genug dort herumsitzt, dann trifft man den ganzen Stadtteil – das ist in der Kommunikation manchmal sogar wesentlich effizienter als Facebook. So ein Park ist das.

Stefan Zweig: Balzac

 

Da kann man also sitzen und lesen, zum Beispiel das letzte Buch von Stefan Zweig, von dem mir die erste Seite zwar sehr bekannt vorkommt, der Rest aber überhaupt nicht. Vermutlich vor Jahren schon einmal angefangen und dann doch davon abgekommen. Jetzt aber!

Pommes

 

Dazu ein wenig Gemüse, der Mensch lebt nicht von Obst alllein.

Erdbeere

 

Wobei etwas Obst aber auch noch geht.

Herzdame

 

Es ist heute übrigens etwas irritierend, ganz schnell zwischen der Herzdame und einer Erdbeere hin und herzusehen. Gucke ich also lieber wieder ins Buch. Mache zwischendurch die Augen zu und höre mir diese Parkgeräuschkulisse an, dieses Gemisch aus Stimmen und Straßenverkehr und Vogelsang und auftippenden Bällen und aufploppenden Flaschen und bellenden Hunden und Flugzeugen und Musik von irgendwo. Zu und zu schön.

Schriftzug "Frei sein"

 

Auf dem Heimweg sehe ich überall diese Schrift, von einer Künstlerin großzügig im Stadtteil verteilt. Alle paar Meter sieht man diesen Hinweis, diese Frage, diese Mahnung, was auch immer. Man kann das larifari-eso-trallala-mäßig finden, man kann natürlich auch darüber nachdenken.

Illegal gepartkes Fahrrad

 

Am Straßenrand derweil die katastrophalen Folgen von zu viel Freiheit, die reine Anarchie. Die Gegend verkommt immer mehr, je gentrifizierter sie ist.

Pflanzsets von Meinwoodie

 

Zuhause wartet Post von Ozan. Ozan ist erstens supernett und zweitens der Gründer von meinwoodie, einem Öko-Startup, das gerade in der Crowdfundingphase ist. Und nein, das ist keine bezahlte Werbung, die Idee des Unternehmens finde ich einfach sympathisch. Die Söhne haben jetzt jeder einen Topf, mal sehen, was daraus wird. Eigene Zucchini! Demnächst hier also auch ein Gartenblog, warum auch nicht.

Sommerlektüre

Es wird wohl doch wieder Sommer, zumindest fühlt es sich heute einmal so an. Es geht sogar schon auf die Urlaubszeit zu. Ich habe in wenigen Wochen ein paar Wochen Urlaub, ich fahre erst in die Berge, dann ins platte Binnenland, dann ans Meer. Eine ausgefeilte Planung, man macht sich keinen Begriff. Und auf meinem Stapel ungelesener Bücher liegt bei näherer Betrachtung gar nicht genug geeignete Ferienlektüre, ich bin da ja ein wenig jahreszeitenempfindlich. Da liegt leider eher Herbst und Winter, da liegt Regen und Nebel und Dunkelheit und Sofakuscheln und hochseriös. Ich brauche aber Sommer und Licht und Reise und Hollywoodschaukel – gibt es überhaupt noch Hollywoodschaukeln? –  und warm und lässig.

Vorzugweise Erzählungen, zur Not auch Romane. Vorzugsweise aus Europa, sehr gerne aus den kleineren Staaten, sehr gerne nicht komplett trostlos, aber auch keine reine Comedy. Gerne aktuell, das muss aber nicht sein. Wenn jemand Empfehlungen hat – ich freue mich, vielen Dank. E-Book oder Print ist vollkommen egal, Hauptsache Buchstaben.

 

Wie man medienpädagogische Entscheidungen trifft

Wenn man mit einem Erstklässler durch die Stadt geht, achtet man gezwungenermaßen viel mehr auf Werbung, als man es jahrelang gewohnt war. Denn das Kind liest natürlich dauernd ab, woran es vorbeikommt, es kann nicht mehr an Buchstaben vorbeisehen. Man diskutiert also dauernd kryptische Werbebotschaften – und stellt überrascht fest, dass ein enorm hoher Anteil bei Kindern gar keine Chance hat. Völlig unbegreiflich, was da steht, ohne weitere Bezüge oder Produktkenntnisse gar nicht zu verstehen, ohne Englisch nicht zu deuten, ohne Erwachsenenhumor komplett witzlos. Man muss wohl erstaunlich viel Werbung kennen, um Werbung zu verstehen.

Sohn I und ich steigen aus der U-Bahn, da wird auf dem Bahnsteig mittels Riesenposter für Ferris MC geworben. Den Herrn kenne ich nicht, ich bin popkulturell seit Jahren einigermaßen abgehängt. Der Sohn kennt ihn auch nicht und weiß nun nicht, ist Ferris MC irgendeine englische Vokabel, heißt der Mann auf dem Bild da so – oder geht es wieder um etwas ganz anderes, und er versteht es erst nächstes Jahr? Ich verstehe immerhin, dass es um einen Musiker geht, das erkläre ich ihm auch und zack, findet er den gut. Das Bild ist nämlich ziemlich düster, das sieht nach Krimi aus und hey, Musik UND Krimi, wie toll ist das denn.

Und weil wir 2015 haben und totale Topchecker sind, sehen wir auf dem Handy in der Youtube-App eben nach, was der Typ so macht. Und weil man als Vater immer einen medienpädagogischen Auftrag hat, sehe ich noch in der Wikipedia genauer nach, was es mit dem auf sich hat.

Dabei stelle ich fest, dass der Herr nur bedingt grundschulkompatibel ist. Und dass er bei Deichkind mitmacht, die ich zwar auch nicht kenne, von denen aber alle dauernd reden, die sollen ja gut sein. Da kann man also auch mal eben nachsehen, was die eigentlich so machen, wenn man schon dabei ist. Auf Youtube und in der Wikipedia, und bei Gefallen kann man das dann auch gleich alles bei Spotify in der Playlist des Sohnes festhalten, so weit sind wir ja auf der Höhe der Zeit. Durch die Welt gehen und das Wissen der Welt nutzen, das man immer in der Hosentasche dabei hat, so findet Lernen heute statt. Finde ich. Der Sohn findet eher, dass man dadurch lernt, sich sämtliche Videos eines Künstlers mehrfach anzusehen, erklärt er mir. Am besten zuhause auf dem Sofa. Ich höre ihm allerdings nur bedingt zu, in meinem Hirn ist nämlich schon ganz zu Beginn dieser Szene ein Schalter umgelegt worden, und zwar bei dem Wort Ferris. Da wechselt mein Hirn vollautomatisch und unweigerlich auf die Spur “Ferris macht blau”, die Älteren erinnern sich. Und dann erinnere ich mich an diesen Film, der so gut nun auch wieder nicht war, wirklich nicht, den aber alle damals gesehen haben, alle, alle. Und sogar mehrfach, wenn irgend möglich, das war einer der Filme, für die es dann Videotheken gab, dafür wurden die erfunden. Das war ein überaus wirkungsmächtiger Film, gar keine Frage, da konnte man Szenen mitsprechen. Unser eigenes Schulschwänzen war nach diesem Film nichts mehr wert, es war völlig unkomisch, komplett herabgesetzt und machte gar keinen Spaß mehr. Schlimm.

Und dann fällt mir ein, wie lange dieser Film schon her ist, ich rate etwas herum und denke an Mitschülerinnen,m mit denen ich den damals gesehen habe. Dann sehe ich auch das lieber einmal genau nach, meine Güte, doch schon so lange. Und für einen Augenblick fühle ich mich ob dieser Erkentnis sehr, sehr alt, aber leider nicht ebenso weise, weswegen mein Hirn nur eine nicht sehr geistreiche Bemerkung zu diesen meinen Gedanken zustande bringt, die ich dann seufzend vor mich hin murmele: “Ja, ja.”

Es ist ein senioriges „Ja, ja”, es wächst einem irgendwann einfach so zu.

Der Sohn freut sich allerdings sehr über dieses ja, ja, er bedankt sich bei mir, seltsam aufgeregt sogar, wofür genau bedankt der sich jetzt eigentlich? Ich bin etwas verwirrt, und es bedarf dann einiger Minuten vorsichtiger Nachfragen und sorgsamer Rekonstruktion, bis ich darauf komme, dass mich der Sohn genau während meiner nostalgischen Anwandlungen gefragt hat, ob er nicht am Abend reihenweise Deichkindvideos sehen könne. Am besten alle. Und mein “Ja, ja” kam dann genau in dem Moment, in dem er mich erwartungsvoll und ohne große Hoffnung ansah, während ich das Handy sinken ließ.

So werden nämlich medienpädagogische Entscheidungen in dieser Familie getroffen. Unter Einbeziehung modernster Technik und mit ganz viel Nachdenken. Ja, ja.

 

Kurz und klein

 

Gelesen, vorgelesen, gesehen, gehört im Mai

Gelesen

Sarah Kirsch: Juninovember

Juninovember

Die Prosatexte von Sarah Kirsch kann man schwer erklären, da geht es um wenig, und es passiert fast nichts. Sarah wohnt so herum, altert, betrachtet das Wetter, freut sich über die Jahreszeiten und ihre Folgen, kommentiert den Literaturbetrieb aus ihrer ländlichen Zurückgezogenheit, und ist, wie immer in diesen Texten, etwas koboldhaft vergnügt in ihrem ziemlich weltentrücktem Alltag. Besuch kommt und geht, ab und zu ein Satz über die Nachrichten. Mehr nicht. Und doch gibt es kaum Bücher, die in mir so eine unbändige Lust wecken, auch einmal, zumindest vorübergehend, genau so zu leben. Irgendwo am Arsch der Heide, ohne Stress, Deadlines und Hektik. Nicht gerade für immer, aber so als Sabbatical würde ich das wirklich mittlerweile ganz nett finden. Einfach mal wieder stundenlang Natur ansehen, Blümchen und Schafe und guck mal, die Wolken. Irgendwas über den Herbst schreiben, über den Sommer, über die Übergänge, die Rückfälle und Fortschritte der Jahreszeiten. Oder über Regentonnen, warum auch nicht. In Ruhe denken. Egal, ich kann mir kein Sabbatical leisten, wegen der Kinder geht es ohnehin nicht. Vielleicht in zehn Jahren.

Juni – Gedichte. Herausgegeben von Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell

Juni-Gedichte

Ich bin mir nicht ganz sicher, woran es liegt, aber das fand ich diesmal ganz furchtbar langweilig. Entweder meine Lyrikphase ist gerade durch – oder der Sommer ist einfach zu nett für interessante Gedichte. Da ist womöglich schlichtweg zu viel in Ordnung, da passt alles so nett zusammen, und das Wetter ist auch noch passabel. Gähn.

Lutz Seiler: Kruso

Kruso

Das fängt sehr gut an und lässt, das klingt fast wie ein Scherz, ich weiß, dann doch schwer nach, sobald die titelgebende Figur auftritt. In einer Amazon-Rezension steht die schöne Formulierung, der Roman sei “streckenweise esoterisch vermumpft”, dem möchte ich mich dann doch anschließen. Irgendwo am Ende des ersten Drittels aufgegeben.

Kurt Held: Die rote Zora

Die rote Zora

Das würde man vielleicht eher bei “Vorgelesen” erwarten, das steht hier aber ganz richtig. Das wollte ich nämlich mal kurz anlesen, um zu sehen, ob es für Sohn I schon passt und zack – komplett festgelesen. Dieses Buch war vermutlich der erste richtig dicke Roman, den ich damals als Kind selbst gelesen habe, vielleicht mit acht oder neun Jahren. Und ich erinnere mich noch sehr gut, wie mich der Anfang mit der sterbenden Mutter damals beeindruckt und verwirrt hat, das hat mich wochenlang beschäftigt und verfolgt. Und wie das Buch dann immer lichter und spannender wurde, wie komplett ich beim Lesen in diesem dalmatischen Dorf gelebt habe, wie genau ich das alles vor mir gesehen habe, wie atemlos ich die Abenteuer miterlebt habe und wie schnell dann doch der dicke Wälzer geschafft war – und wie schwer es war, danach ein anderes Buch zu finden, das im Vergleich nicht enttäuschend war. Sohn I ist lebhaft interessiert, es geht dann wohl demnächst mit der Vorleserunde los.

Bram Stoker: Dracula. Ohne Übersetzerangabe. Das wollte ich gar nicht lesen, das war ein Versehen. Da war nämlich Sohn II auf meiner Brust eingeschlafen und ich kam nur an das iPad und dort mit einem Finger nur an genau dieses Werk in der E-Book-Bibliothek und da dachte ich, ach, warum nicht. Es fällt ja vermutlich auch unter Bildungslücke, das nicht zu kennen. Und für ein Versehen ist es dann doch sehr unterhaltsam. Auch interesssant: Bram Stoker in der Wikipedia.

Vorgelesen

Otfried Preußler: Hörbe mit dem großen Hut – eine Hutzelgeschichte

Hörbe

Das hat die Herzdame vorgelesen, ich habe es nicht gehört. Aber die Söhne waren beide sehr angetan.

Roald Dahl: James und der Riesenpfirsich. Illustriert von Quentin Blake, Deutsch von Inge M. Artl und Kai Ohlen

Das kam hier schon einmal vor, aber so ist das, wenn der kleinere Sohn größer wird – da muss dann einiges wiederholt werden. Und da die Herzdame das erste Vorlesen verpasst hatte, hat sie es jetzt vorgelesen. Und nun finden wir es also endlich alle gut. Nach wie vor eine große Empfehlung.

Dorothee Haentjes & Philip Waechter: Schaf ahoi!

Schaf Ahoi

Ein wunderbar norddeutsches Bilderbuch über Schafe auf einer Hallig, die nachts ausbüxen und mit dem Kahn des Bauern aufs Festland fahren. Einmal richtig Spaß haben! Aber wie kommt man zurück? Kinder mit Wattenmeererfahrung können mit nachdenken, Kinder mit Deichschafkenntnis wissen auch, in welchem Tonfall die Schafmama nach ihrem Jungen ruft. Und diesen Tonfalll, den muss man dann beim Vorlesen auch genau treffen, versteht sich.

Sara Pennypaker: Stuarts Cape. Illustriert von Martion Matje, übersetzt von Brigitte Kälble

Stuarts Cape

Stuart ist Experte im Sorgenmachen, das ist ein wenig hinderlich im Alltag. Die Lage ändert sich allerdings deutlich, als er sich aus einhundert Schlipsen und einer lilafarbenen Socke ein Cape zusammenschneidert. Denn wie Fachleute wissen: coole Abenteuer erleben nur Leute mit Cape. Auch für Erstleser ganz gut geeignet, die haben so ein überaus entzückendes Erstaunen über absurde Witze – “Das steht da wirklich?!”

Thilo (Text) und Jörg Hartmann (Bilder): Agent Andy Action, der Fall blaue Hornissse

Agent Andy Action

Nachdem ich neulich über diese Reihen der Erstlesebücher geschimpft habe, hier die Ausnahme, zumindest aus Sicht von Sohn I. Andy Action ist super, ein jugendlicher Geheimagent mit Wahnsinnsausrüstung und wahnsinnig tollen Computerkenntnissen, der im Auftrag der CIA Verbrecher jagt und, eh klar, in Rekordzeit zur Strecke bringt. Mit im Glossar erklärten englischen Fachausdrücken. Das Buch fand er dann doch so spannend, dass er glatt über die Englischhürden hinweg gelesen hat – und so soll es ja auch sein.

Gesehen

Weil es zu “Gesehen” passt – sehr praktisch fand ich die Flimmo-App, die über Fernsehsendungen für Kinder informiert. Wie geeignet, für welche Altersgruppe – für Haushalte ohne Programmzeitschrift ist das wirklich nützlich. Für Apple und Android und Browser verfügbar.

Gehört

Das ist nun seltsam, und es passiert mir auch gar nicht so oft, aber ich bin in diesem Monat nirgendwo hängengeblieben, habe nur etwas ratlos hier und da herumgeklickt, in tausend Sachen hineingehört und doch nichts gefunden. Alles doof. Musik im Mai, nichts dabei.

 

Von damals und von dieser Zeit

Wir waren in Nordostwestfalen, wo wir die Naturkenntnis der Söhne um immerhin zwei Gattungen erweitern konnten. Zum einen haben wir in einem Waldstück eine Blindschleiche gesehen, zum anderen lag das ganze Land voller toter oder sterbender Maikäfer. Warum sterben all die Maikäfer gerade? Eine vollkomen berechtigte Frage der Söhne, die Erwachsenen daneben versuchen vergeblich, sich an Schulwissen zu erinnern. War da nicht irgendetwas mit Zyklen und sieben Jahren oder mit Tod nach Paarung oder weiß der Kuckuck – der übrigens vom Waldrand ruft, da haben wir gleich noch eine neue Art und auch wunderbar abgelenkt. Kuckuck! Da, schon wieder, hört ihr?

Da gab es doch auch so eine Regel, so oft wie der Kuckuck schreit, so viele Jahre müssen die jungen Mädchen auf den Mann warten, der sie heiraten wird – oder wie war das noch? Wenn das die Regel ist und wenn es nach diesem Kuckuck geht, dann haben die jungen Mädchen im Dorf noch sehr, sehr viel Zeit, viel mehr Zeit, als sie schön finden werden. Ich kriege die Regel nicht mehr richtig zusammen, aber der Ruf des Kuckucks klingt auf jeden Fall sehr nett nach damals, nach irgendwelchen Kindheitswäldern, die ich längst nicht mehr Orten zuordnen kann. Irgendwo im Mai, irgendwo im Damals. Da gab es auch Maikäfer, dann gab es sie sehr lange Zeit überhaupt nicht mehr, so etwas fällt einem dann erst auf, wenn man sie wieder sieht. Aber ich erinnere mich immerhin noch an dieses leise, feine Knacken, wenn man barfuß auf einen Maikäfer getreten ist, dieses jähe Schuldgefühl und das Wissen, bestimmt nichts mehr retten zu können.

****

Auf der Rückfahrt nach Hamburg haben wir den Söhnen lehrreiche Musik vorgespielt, Musik aus der Geschichte ihrer Eltern. Da wir zuhause nie Radio hören und keine Platten oder CDs abspielen, jeder hängt hier nur an seinem Stream vom Computer, muss man sich das ab und zu fest vornehmen, die Musik von damals für alle aufzulegen. Die Söhne lernen sie sonst nie kennen, das möchte man ja auch nicht. Wir hörten diesmal Bands, die in den Partyphasen unserer Jugend eine Rolle gespielt haben, auch wenn diese Phasen etliche Jahre auseinander lagen. Gegensätzliche Bands, die manchmal Familien und Haushalte trennen, wie man hört, eine Glaubensfrage wie bei St. Pauli oder HSV. Na, vielleicht nicht ganz so, damals hat man sie eh nacheinander gehört, ganz zwanglos. Die Ärzte und die Toten Hosen, die alten Sachen, die alten Hymnen, die alten Scherze, die alten Partysongs, zu denen wir einst in irgendwelchen anderen Armen gelegen haben, zu denen wir einst fortgeschritten alkoholisiert durch irgendwelche partyverwüsteten Wohnzimmer von Schulfreunden gehüpft sind.

Und Sohn I, gerade von Sylt zurück, kann sich tatsächlich mit “Zurück nach Westerland” anfreunden, das findet er gar nicht so schlecht. Sohn II findet “Eisgekühlter Bommerlunder” ausgesprochen belebend und alle Zweifel, dass man auch angeschnallt in einem Kindersitz außer Rand und Band tanzen kann, sie sind jetzt endgültig ausgeräumt. Das Lied geht nach wie vor ab, das Kind auch. Und man findet Campino für einen kleinen Augenblick doch wieder sympathisch, das macht die Nostalgie.

Mir gehen, das macht auch die Nostalgie, die bekanntlich immer schlimmer wird, wenn man erst einmal damit anfängt, auch die Maikäfer nicht mehr aus dem Kopf. Weil sie mich an die Sportfeste in der Oberstufe erinnern. Das habe ich schon einmal irgendwann erzählt, wer sich daran erinnert, kann hier ruhig wegklicken. Ich will aber zu einem anderen Ende hin, deswegen muss ich die ganze Kurve nehmen. An meiner Schule gab es die mit großer Begeisterung gepflegte Tradition der Unsportlichkeit, wir legten erheblichen Wert darauf, nichts zu können und nichts zu gewinnen. Das brachte unsere Sportlehrer selbstverständlich regelmäßig zur Verzweiflung, zumal wir nicht einmal als Publikum Lust hatten, unsere in der Tat drittklassigen Truppen anzufeuern. Wozu auch? Hatten sie denn eine Chance gegen die anderen Mannschaften aus den sportlicheren Gymnasien, mit den meterlangen Vitrinenreihen voller Pokale und Medaillen auf den Fluren? Aber nein, hatten sie nicht. Die Lehrer bestanden dennoch darauf, dass wir bei den jährlichen Leichtathletikmeisterschaften der Schulen unsere Läufer anzufeuern hatten, mit Spruch und Lied, zwo, drei. Und wir sangen, weil wir eben etwas singen mussten, “Maikäfer flieg”. In äußerst getragener und sehr langsamer Version, so tief die bröckeligen Jungsstimmen eben reichten. Und da wir auch Sprüche zu brüllen hatten, riefen wir den vermutlich unbrauchbarsten Anfeuerungschor, der je an einer Schule erdacht wurde: “Ich bin stolz, ein Katharinäer zu sein, denn katharos heißt rein.” Lehrer hätte man da nicht sein mögen, fällt einem beim Erinnern etwas unangenehm ein.

Es gab nur wenige Streber bei uns, die dennoch vehement auf Sieg aus waren, die sich auf der Bahn die Seele aus dem Leib liefen, die dennoch unbedingt vorne sein wollten, beim Sport, auch im Unterricht, bei allem. Wir wollten nicht gewinnen, wir wollten Party machen, Musik hören und trinken und uns verlieben. Und erst heute, aus der Position meines längst recht konventionellen Alltags heraus, fällt mir auf, dass wir nicht gewinnen wollten, weil wir dachten, längst gewonnen zu haben. Wir waren keine Spießer, das war es nämlich, worum es eigentlich ging. Das war der Hauptgewinn, das meinten wir, verstanden zu haben. Mit sechzehn schon! Das war ziemlich früh für solche lebenswichtige Erkentnisse. Aber wir waren eben verdammt schlau. Dachten wir.

In unserer Abi-Zeitung gab es von jedem Schüler ein Bild und einen Text aus nur vier Wörtern. Einer der Oberstreber von damals saß da mit Schlips und Kragen und dem Text “Deutschland, Deutschland über alles.” Ich auf dem Bild daneben, noch langhaarig und mit Schreibmaschine auf dem Schoß und dem Text “Völker, hört die Signale.” Er hat dann Jura studiert, ich irgendwas, das passte schon.

Vielleicht haben wir heute einen auf den ersten Blick ganz ähnlichen Alltag, das kann schon sein. Aber er ist Funktionsträger in einer bürgerlichen Partei geworden, ich bin ein seltsamer Teilzeitblogger mit Sponsor aus der ökoszialen Ecke, vielleicht passt das alles doch immer noch ganz ganz gut? Vielleicht denke ich aber auch nur aus alter Gewohnheit, dass ich sowieso immer schon gewonnen habe, ohne je aufgestanden zu sein. Ick bün all door. In all meiner mittlerweile doch recht braven Spießigkeit. Da mal drüber nachdenken!

Aber erst ein belegtes Brot mit Ei. So viel Party muss sein.