Ein Update bei „Was machen die da“

… und zwar geht es nach dem Zahnarzt in der letzten Ausgabe wieder um eine Schreibtischtäterin. Wir geben uns ja durchaus Mühe, dass die Berufe dort bunt gemischt sind, ebenso die Damen-Herren-Verteilung usw., im besten Fall geht alles nett durcheinander, das ist gar nicht so einfach. Aber wir versuchen es.

In der nächsten Ausgabe, womöglich in 14 Tagen, wird es also mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um einen Menschen am Schreibtisch gehen. Heute geht es um eine Übersetzerin, da mussten wir nicht lange suchen, da kennt Isa die eine oder andere. Wir haben Ulrike Schimming besucht, die Bücher aus dem Italienischen übersetzt, das Interview und die Fotos dazu findet man hier.

Schneekugel

 

Hochgucken: Kassandra

Die Rubrik “Hochgucken” wurde hier sträflich vernachlässigt, das muss sich wieder ändern. Es ging, das erkläre ich für die Neuzugestiegenen kurz noch einmal, um Beobachtungen von Szenen, die man sonst verpasst, wenn man auf sein Handy sieht. Die ersten Texte dazu finden sich hier. Ich habe das zunächst mit gezählten Tagen betitelt, das war aber keine sehr gute Idee, das setze ich jetzt lieber mit ganz normalen Überschriften fort.

Die Rubrik lag etwas brach, weil es Sommer war und ich im Sommer wenig S-Bahn fahre, denn ich gehe zu Fuß nur zwanzig Minuten bis zur Arbeit. Und wenn ich doch einmal gefahren bin, habe ich nichts gesehen. Also natürlich habe ich irgendwas gesehen, aber, wie Frau Gminggmangg sagen würde, ohne jedes Bemerknis, daher also auch ohne Blogartikel hinterher. Oder ich habe doch einmal etwas gesehen, kam dann aber tagelang nicht zum Schreiben und dann war es mir irgendwann zu lange her. Ich schreibe ja gerne fangfrisch. Jedenfalls im Blog. Da mir die Rubrik aber doch gut gefällt, werde ich mir mit ihr wieder mehr Mühe geben und jetzt auch Situationen aufnehmen, die nicht in der S-Bahn stattfinden. Nicht auf das Handy gucken kann man überall, sagt man. Also zumindest ab und zu, wir wollen nicht übertreiben. Und dann sieht man schon irgendwas. Wie die Szene hier, die sich in der letzten Woche vor dem Hamburger Hauptbahnhof abspielte.

Vor dem Hamburger Hauptbahnhof, auf der Seite nach St. Georg hin, liegt ein Platz, auf dem nichts ist. Auf der einen Hälfte des Platzes stehen Taxis, auf der anderen ist gar nichts. Da stehen Touristen und entblättern ratlos Faltpläne oder fotografieren den Bahnhof, da sitzen ein paar Obdachlose, leeren Bierflaschen und rauchen gesammelte Kippen, da strömen Menschen mit schnellen Schritten nach Sant Georg oder von Sankt Georg zum Hauptbahnhof. Auf der anderen Straßenseite der angrenzenden Kirchenallee ist das Schauspielhaus, da wollen auch viele hin, wenn die Tageszeit passt.

Sie passt aber nicht, es ist erst drei Uhr am Nachmittag, da gibt es noch keine Vorstellung. Zumindest nicht im Theater, denn auf dem Platz ist dann doch eine Vorstellung, und was für eine. Eine Vorstellung mit nur einer Person, die allerdings spielt, als ginge es um ihr Leben. Eine ältere Dame ist das, Wirrnis im Blick, verrutschte Kleidung, der Gesamtzustand etwas desolat. Die Bluse hängt aus der Hose. Es ist aber keine schlechte Bluse, die Frau ist nicht heruntergekommen. Ihre Haare sind zerwühlt, man sieht aber noch, sie hat durchaus eine Frisur. Vermutlich also keine Obdachlose, sicher aber eine Frau abseits der Normalität, denn sie spricht vor sich hin, ziemlich laut sogar. Eigentlich sollte man eher sagen: Sie deklamiert. Sie deklamiert einen Text, von dem man im Vorübergehen nicht alles verstehen kann, nur einige Sätze werden deutlich, es sind die Sätze, die immer wieder lauter als die anderen gesprochen werden, wobei sie die Hände ringt. Das ist ein fast ausgestorbener Ausdruck, man ringt heute nicht mehr die Hände, das ist aus der Mode gekommen. Die verwirrte Dame ringt aber ganz zweifellos die erhobenen Hände, in Sichtweite des Schauspielhauses tut sie das und bühnenreif sieht es aus.

Sie steht vor der Bushaltestelle des 6ers, der fährt in die Innenstadt. Ein Bus rollt gerade heran, da werden die beiden verständlichen Sätze lauter und lauter gesprochen, gerufen fast. Die Hände erheben sich zitternd zum Himmel, fahren immer wieder durch die ohnehin nach oben stehenden Haare, weisen auf den Bus. Ein dürrer Zeigefinger zielt auf die Wartenden an der Haltestelle und sie ruft mit bebender Stimme: “ES IST DER TOD! DER TOD IST IM BUS!”

Die Wartenden sehen sich um. Die Aussteigenden gehen auf die Dame zu, bleiben kurz vor ihr stehen. “STEIGT NICHT EIN! DER TOD IST IM BUS!” Die Dame krümmt sich, als würde ihr das Spezialwissen an den Gedärmen zerren, ein Arm schlingt sich um den Bauch, der andere fährt wieder hoch zum Himmel, kreist, sinkt nieder, bleibt auf halber Höhe und weist auf die Wartenden, die jetzt gerade zu Einsteigenden werden: “ES IST DER TOD!” Die Ausgestiegenen gehen kopfschüttelnd weiter, ein paar gehen links an ihr vorbei, ein paar gehen rechts an ihr vorbei.

Wenn es ein Hollywoodfilm wäre, man sähe jetzt die Gesichter der normalen Leute, die da einsteigen, lächelnd, plaudernd. Die Kamera würde die Busfenster entlang fahren, langsam, ganz langsam. Man sähe im Bus Mütter mit Kindern, Männer mit Zeitung, dämmernde Großmütter – und dann Jack Nicholson, satanisch grinsend und der irren Dame kameradschaftlich zuzwinkernd. In der Musik gäbe es in der Sekunde eine ganz leichte Disharmonie und man wüsste gleich, die nächsten zehn Minuten würden nicht alle überleben.

Wenn das ein schwedischer Film aus der freundlichen Ecke wäre, einer der Einsteigenden würde einen trockenen Scherz über die Frau machen, trocken aber gut, richtig gut. Die Dame, die vor dem Tod warnt, würde kurz darauf von ungeheuer freundlichen Pflegern abgeholt werden, abgeholt in ein Heim, in dem alle wahnsinnig nett wären und in dem lauter skurrile Typen leben würden, solche Typen, die für etliche kleine Geschichten gut wären. Einer der netten, aber insgeheim doch überforderten Pfleger würde sich in die etwas unscheinbare junge Frau verlieben, die ihre verwirrte Tante jeden Dienstag besucht, und darum würde es dann im Rest des Films eigentlich gehen und es ginge auch gut aus, natürlich doch.

Das ist hier aber kein Film, das ist Hamburger Wirklichkeit.Niemand achtet hier länger als eine Sekunde auf die Frau, hier gibt es genug Irre, die den ganzen Tag vor sich hin faseln, da kann man nicht jedem zuhören, wirklich nicht. Die Bustüren schließen sich, der Bus fährt ab. Die verwirrte Dame fährt sich durch die Haare, sieht zum Himmel, sie hat Tränen in den Augen, wischt sie weg. Sie schüttelt den Kopf, vielleicht fragt sie sich, wie viele sie noch verlieren soll, es hört ihr doch einfach keiner zu, sie kann machen, was sie will. Sie steht starr und guckt in den unverändert sommerlich friedlichen Himmel, an dem kein Wölkchen sich zu einem Zeichen formt, nein, ganz bestimmt nicht. Sie steht und guckt einfach nach oben, als würde sie auf etwas warten oder als würde sie im Blau oder im Flug der Tauben etwas sehen, was andere nicht sehen können. Sie steht und steht und sie guckt. Bis der nächste Bus kommt.

Dann hebt sie langsam ihren Zeigefinger.

Woanders – diesmal mit dem Schulsystem, dem Streaming, der Ilias und anderem

Schule: In der Zeit wird das deutsche Schulsystem grafisch und quasi stark vereinfacht, haha, dargestellt. Der Scherz erschließt sich nach dem Klick.

Schule/Hamburg: Noch einmal die Zeit, diesmal zum Hamburger Endlosthema G8/G9. Ich kann das Wort Reform beim Thema Schule allmählich nicht mehr hören.

Schule: Noch ein wunderbarer Artikel über die Rechtschreibung, mit historisch-fundiertem Anlauf bei Herrn Wolf. Ohnehin immer lesenswert, das Blog, abonnieren Sie das ruhig gleich.

Familie: Stock-Fotos von glücklicher Elternschaft, sehr ansprechend kommentiert. Sieht quasi aus wie bei uns allen, nehme ich stark an. It’s like they know us.

Irgendwasmitmedien: Bei Herrn Mierau geht es um Streaming und warum das kaputt ist.

Feuilleton: Der oben bereits erwähnte Herr Wolf hat die Ilias gelesen.

Feuilleton: Liisa hat Pia Ziefles neues Buch “Länger als sonst ist nicht für immer” gelesen, das ich auch gerade angefangen habe. Vermutlich bin ich hinterher genau so begeistert. Doch, ich bin ziemlich sicher. Ich komme nur schon wieder nicht zum Lesen und das finde ich wirklich furchtbar. Da stimmt doch was nicht.

Lisa kauft Blumen.

 

 

Kurz und klein

 

Frage einer Leserin

Ich werde per Mail nach einem Buch gefragt und weiß leider keine passende Antwort, aber vielleicht weiß Sie jemand da draußen? Und könnte in den Kommentaren einen Tipp geben? Gesucht wird ein Buch für einen Neunjährigen, es muss darin um Monster gehen oder diese müssen zumindest eine prominente Rolle spielen. Hat jemand eine Idee?

Anmerkung zur Rechtschreibung

Christian Fischer, Lehrerinnenmann, hat etwas über die neue Rechtschreiblehrmethode geschrieben. Ich möchte da vieles unterschreiben, besonders was das Niveau der Kritik und was Martenstein betrifft. Für meine endgültige Meinung zum neuen System habe ich ja noch ein paar Jahre Zeit. Mir geht es ohnehin auf den Wecker, wie schnell gerade alle Meinungen zu allem haben. Ich gucke mir das erst einmal an. Sohn I ist seit drei Wochen in der Schule, er hat seinen ersten Satz geschrieben und kann auf Zuruf den Einkaufszettel wunschgemäß erweitern. Das finde ich so schlecht nicht. Da er gemerkt hat, dass bei vielen Begriffen verschiedene Schreibweisen denkbar sind (Laks, Lax, Lags, Lachs), hat er mich gebeten, die Erwachsenenschreibweise neben seine Variante zu schreiben. Das guckt er sich dann beides an – und das finde ich auch nicht schlecht.

Ich finde es aber auch erheiternd, dass die vehemente Kritik an der neuen Lehrmethode der Rechtschreibung in einem Medienumfeld geäußert wird, in dem kein Mensch mehr richtig schreibt, nirgendwo. In den Onlineausgaben der Zeitungen wimmeln die Fehler nur so herum, in Print ist es nicht besser. Im Business ist es ein einziges Trauerspiel, die Texte von Berufsanfängern sind in den Schreibweisen höchst überraschend, wenn man es noch nett ausdrücken möchte. Die Fehler in den Schreiben von Banken, Versicherungen, Finanzämtern könnte man alle mit dem Rotstift angehen, das wäre ein lustiges Gekritzel am Rand. Sogar die Papiere, die ich aus der Schule erhalte, könnte man mit ein paar belehrenden Anmerkungen zu Kommaregeln versehen, wenn man nur bösartig genug wäre. Dieses Blog enthält zweifellos in nahezu jedem Artikel irgendwelche Fehler, andere Blogs selbstverständlich auch. Das Lektorat bei einigen Verlagen arbeitet mittlerweile ohne Korrektorat oder beide arbeiten zu schnell, ich weiß es nicht, heraus kommen dabei jedenfalls Bücher, die eklatante und zahlreiche Fehler beinhalten. Währenddessen führen aber verblüffend viele Eltern die Diskussion um die Rechtschreibung, als würden sie vom Niveau der Topchecker aus urteilen. Ich habe da dann doch Zweifel – ohne mich selbst für einen Topchecker zu halten, versteht sich.

Die Bedeutung der Rechtschreibung nimmt eindeutig ab. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass das noch einmal zurückgedreht wird, ganz unabhängig davon, wie man das findet. Das ist einfach eine Tatsache. Ob daran auch das Abendland untergeht, das kann man mit Fug und Recht lange diskutieren. Ich denke, es ist eine Menge seltsame Bildungshuberei in der Diskussion. Es gehen noch sehr viele davon aus, dass der andere, der einen Rechtschreibfehler macht, den ich als Leser sofort als solchen erkenne, sich damit als Depp outet, den ich entsprechend verspotten darf, über den ich mich erheben darf, weil er mein himmelhohes Bildungsniveau leider nie erreicht hat. Ich weiß zwar gar nichts über diese Person, ich sehe nur den Rechtschreibfehler – es reicht aber doch für ein flottes Urteil über den Menschen, über den Text sowieso. Es liegt ein sehr billiger und zweifelhafter Triumph in der Lust am Rechtschreibspott, finde ich, ganz ähnlich dem Spott über die Englischkenntnisse der deutschen Zugbegleiter, der mir ebenfalls zutiefst zuwider ist. Ich habe mich als junger Mensch auch für schlauer als all die anderen gehalten, die mehr Rechtschreibfehler machten als ich, ich habe diese Meinung im Laufe der Jahre gründlich revidiert. Es ist kompletter Unsinn, so etwas anzunehmen. Wenn man erst von ausreichend vielen Menschen in den Themenfeldern abseits der Rechtschreibkenntnisse überholt worden ist, sieht man das irgendwann ein. Man kann auf mehr Arten intelligent sein, als sich an Kommafehlern erkennen lässt. Und wenn man heute über Kinder in Grundschulen spricht, sollte man sich genau ansehen, ob die aktuellen Jahrgänge nicht vielleicht gerade ganz andere Kompetenzen in anderen Lebensbereichen erwerben, von denen meine Generation etwa nur träumen konnte.

Und ja, ich finde es dennoch auch nett, wenn am Ende der Schulzeit eine regelkonforme Schreibweise steht, schon klar. Wir werden sehen.

 

Woanders – diesmal mit Meta, Mathe, Maschinen und anderem

Meta: Felix Schwenzel über Linklisten. Kann ich alles unterschreiben.

Schule: Bei Claus Ast geht der Mathematik-Unterricht weiter.

Frankreich: Anne erklärt den Verkehr im Nachbarland. Wer einmal da war, wird die Richtigkeit sofort bestätigen können.

Feuilleton: Eine nicht gerade euphorische Besprechung des neuen Albums von Leonard Cohen. Mit so schönen Sätzen wie: “Die Geige spielt ein Solo und klingt, als habe der Geiger zu viel Handcreme genommen.” Isa wies mich darauf hin, dass der Konjunktiv in diesem Satz falsch sei, womit sie völlig richtig liegt. Korrekt wäre natürlich “hätte” gewesen, korrekt hätte er hätte geschrieben. Konjunktiv II. Wenn man darüber nachdenkt, dann kommt man auch drauf. Das haben Sie beim Lesen eben aber nicht bemerkt, ich übrigens auch nicht, weil den Konjunktiv in seinen verwirrenden Varianten nämlich kein Schwein mehr richtig bilden kann. Tja. Say Goodbye to Konjunktiv II. Das hätte wieder eine Textzeile von Erdmöbel sein können.

Hamburg: Oliver Driesen über das Flüchtlingsheim in Harvestehude, dass es noch nicht gibt und warum es das nicht gibt.

Familie: Das Nuf zu den Loom-Dingern und zu Youtube-Tutorials.

Politik: Da die “Das Boot ist voll”-Mentalität in Deutschland so überaus gruselig im Aufwind ist und sich verblüffend viele Menschen einig sind, niemanden mehr aufnehmen zu wollen, ein kleiner Hinweis am Rande: Dieses Boot hier ist wirklich voll.

Politik: Bei Novemberregen ein kleiner Exkurs zum multikulturellen Shopping. Sozusagen. Türkisch zählen kann ich übrigens auch bald, denn in der Schule von Sohn I sind alle Treppenstufen zweisprachig betitelt. Toll, manchmal ist es ja einfach. Nebenbei bei einem Elternabend zum Schreibunterricht gelernt: Im Türkischen gibt es für jeden Laut einen Buchstaben, im Deutschen gibt es etwa 40 Laute, aber viel weniger Buchstaben. Guck an.

 

 

Sätze aus der Kindheit

Ich habe hier gerade etwas gelesen über Sätze, die man in der Kindheit nie mochte und die man selbst nie sagen möchte und dann vielleicht doch versehentlich schon beim Nachwuchs angebracht hat. Da fällt mir sofort ein Satz ein, der mich heute noch aggressiv macht, so ein Satz, der für Instant-Missmut steht, für finsterste Laune.

Und der Satz ist verblüffenderweise überhaupt nicht schlimm. Er enthält keine abartige Drohung, er ist nicht abwertend oder übergriffig, er ist vollkommen harmlos. Ich kann ihn auch meiner Mutter nicht vorhalten, es war gar nicht verwerflich, diesen Satz zu sagen, immer wieder zu sagen, für mein Gefühl geradezu unendlich oft zu sagen, nein, es war wirklich keine schlimme Formulierung. Das Problem mit diesem Satz liegt ganz allein in meiner damaligen Aversion gegen die Schule begründet, auf die ich mich niemals so gefreut habe, wie es Sohn I heute tut.

Und deswegen war es mir zutiefst zuwider, wenn Tage mit dem immer gleichen Weckspruch meiner Mutter begannen, auf den sie nur in den Ferien verzichtete. In den Ferien, in denen man als Kind damals noch nicht in irgendeine Betreuung musste, sondern einfach tonnenweise freie Zeit hatte, ohne jede Aufsicht, “Los, geh spielen”. So viel freie Zeit, dass ganze Romane hinein passten. Romane, die man selbst erleben oder doch wenigstens stapelweise lesen konnte. Wenn man es recht bedenkt, besteht ein erheblicher Teil der Kinder- und Jugendliteratur aus Sommerferien, aus wochenlangen Gelegenheiten für alles, aus Tagen und Tagen und Tagen ohne jeden Termin. Das werden die Söhne in dem Ausmaß schwerlich erleben können, und das gehört übrigens zu den wenigen Umständen, die mir heute wirklich für die Kinder leid tun. Ferien werden sie nie so kennenlernen wie meine Generation. Aber so viel Urlaub, wie man nehmen müsste, um in allen Ferienwochen die Kinder zu Hause zu haben, wer könnte die nehmen, von Lehrern mal abgesehen? Wir sicher nicht.

Waren keine Ferien, begann damals jedenfalls jeder Tag für mich unweigerlich mit dem durch die Tür gerufenen Satz meiner Mutter: “Aufstehen, Schule gehen.” Und ich könnte immer noch spontan Kopfschmerzen bekommen, wenn ich nur an diesen Satz denke. Da kommt alles wieder hoch, die bleischwere Schulmorgenmüdigkeit der Teenie-Jahre, die komplett unverstanden gebliebene Vektorrechnung, die ungelösten Rätsel der lateinischen Grammatik, physikalische Formelketten aus der Hölle, lustlos geführte Endlosdebatten über Shakespeares “Is this a dagger which I see before me”, brechreizerregend endlos langweilige Brechtgedichtzergliederungen, Bundesjugendspiele im Regen, Lithium, Natrium, Kalium usw., was es da alles an Horror gab. “Aufstehen, Schule gehen”, und der Tag war im Eimer. So schnell ging das.

Im Moment wäre Sohn I allerdings sogar entzückt, wenn ich ihn mit diesem Satz wecken würde, er würde ganz begeistert aus dem Bett springen. Aber ich werde es sicher nicht tun.

 

Tinko

Ich nehme das hier mal aus der üblichen Monatsliste mit gelesenen Büchern heraus, der Text ist etwas zu lang geraten, der sprengt sonst das Format.

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Erwin Strittmatter: Tinko. Mit dem Buch hat es eine ganz seltsame Bewandtnis. Das war nämlich ein Wiederlesen nach etwa 38 Jahren, und das kam so: Als ich etwa zehn Jahre alt war, hat mir das Buch jemand geschenkt, ich weiß nicht mehr, wer das war. Vermutlich ein Mitbringsel von einer DDR-Reise, ich kriege die Umstände überhaupt nicht mehr zusammen. Ich weiß aber noch genau, wie das Buch aussah, ich sehe die Abbildung des Jungen auf dem Titel noch und den pinkfarbenen Schriftzug “Tinko”. Die Ausgabe auf dem Bild oben ist modern und natürlich ganz anders gestaltet. Das Buch war dick, es war viel dicker als die Kinderbücher, die ich sonst so las. Strittmatter war in der DDR ein großer, ein sehr großer Name, im Westen war er es damals nicht und ist es heute auch nicht. Er hat sich womöglich in gleich zwei Diktaturen zweifelhaft verhalten, sein Lebenslauf in der Wikipedia liest sich zumindest nicht wie ein einziges Ruhmesblatt, aber ich habe mich mit seiner Biographie auch nicht weiter beschäftigt. Er hat eine ganze Reihe bekannter Romane geschrieben.

Jedenfalls war ich damals in einem Alter, in dem das Buch nicht recht passte. Der Roman ist zwar fast durchgehend aus der Perspektive eines Jungen erzählt, aber es ist ziemlich harter Stoff und auch nicht kindgerecht erzählt, das ist definitiv kein Kinderbuch. Es wird offiziell als Jugendbuch gehandelt, das habe ich erst jetzt nach der erneuten Lektüre gemerkt und war etwas überrascht, es würde auch ohne den Zusatz „Jugend“ ganz gut auskommen. Das ist ein Buch über gewaltig durchgerüttelte Schicksale, über Kriegsfolgen, über knorrige Charaktere, die ihr Leben mit Grandezza, wenn nicht sogar mit griechischer Tragödienhaftigkeit an die Wand fahren. Und es ist ein Buch über Landleben, Landarbeit und Landbewohner, man versteht die Zusammenhänge zwischen den Begriffen ganz anders, wenn man das Buch gelesen hat. So eine endlose körperliche Qual wie die Kartoffelernte per Hand, das kannte ich natürlich nicht ansatzweise. Aber es wurde für mich vorstellbar durch diesen Roman, es wurde sogar sehr deutlich. Die tagelange Suche nach Kartoffelkäfern, das Binden von Getreidegarben in brutaler Sommerhitze, das Schärfen der Sensen, die Saat, das Herumsitzen und tatenlose Warten im Winter, das war mir alles neu und wunderlich, darüber wusste ich bis zu diesem Buch gar nichts oder wenig.

Die Geschichte spielt in der frühen Nachriegszeit, in den ersten Jahren der DDR. Es geht um ein Dorf in der Niederlausitz. Die Hauptfigur, der kleine Tinko, lebt elternlos bei seinem jähzornigen Großvater und dessen niedertyrannisierter Frau. Der Großvater hat sich auf nicht ganz astreine Art und mit loderndem Ehrgeiz von einem kleinen Arbeiter zum etwas größeren Bauern aufgeschwungen, ohne aber jemals mit den wirklich großen Bauern im Dorf mithalten zu können. Und er ist überhaupt nicht begeistert, dass die neue Gesellschaft um ihn herum jetzt vom Kollektiv faselt, von lärmenden Landmaschinen statt von stolzen Pferden, von Reformen aller Art, von neuer Ordnung. Seine Söhne kehren beide aus der russischen Gefangenschaft zurück, sie sind aber nicht von seiner Art. Sie kooperieren gerne mit dem neuen Staat. Tinko nennt den Vater nur “Heimkehrer”, man bleibt sich fremd, es bahnt sich also schnell ein Familiendrama gewaltigen Ausmaßes an.

Das Buch ist ganz hervorragend erzählt, die Figuren aus dem Dorf so lebendig, wie man es bei deutschen Erzähler aus der Zeit nicht gerade gewohnt ist. Naturbeschreibungen vom Feinsten, die Wechsel der Jahreszeiten kann man jeweils glatt mehrmals lesen, so wunderbar sind die dargestellt. Strittmatter braucht nur eine Seite, damit es wieder Frühling wird, aber nach der Seite merkt man die Sonne. In ganz einfacher Sprache macht er das und in umwerfenden Bildern. Das Buch ist sprachlich ein großes Vergnügen, gar keine Frage – und politisch einigermaßen platt. Das wusste ich als Kind aber natürlich nicht. Ich merkte nur, diese Geschichte ist fremd, gewaltig, beeindruckend. Das war das erste Mal, dass mir überhaupt etwas aus der DDR begegnete, es war das erste Mal, dass mir Schicksale von dort wie normale Menschenschicksale vorgestellt wurden. Die DDR kam ansonsten bei uns nicht vor, die gab es zwar, das war nicht zu leugnen, ich bin ja grenznah aufgewachsen – aber was in ihr war, das war unerfindlich, das war kein Gesprächsgegenstand, das war ein Tabu. Und mir war klar, dass Bücher oder Filme und Fernsehsendungen aus der DDR voller Lügen waren, voller Propaganda und Verdrehungen, das immerhin wurde dann doch auch in der Familie besprochen und daran zweifelte niemand. Ich musste beim Lesen also höllisch aufpassen, um bloß nicht irgendwie eingewickelt zu werden.

Allerdings fand ich es dann gar nicht so schlimm, was da im Buch erzählt wurde, es war fast ein wenig enttäuschend. Das Menschliche, das war schlimm, das Schicksal des Kindes war furchtbar tragisch und hatte eine Härte, die meine Vorstellungskraft glatt überforderte. Aber das Politische, das schien mir alles recht logisch und naheliegend, das war auch gar nicht so verherrlichend, wie ich angenommen hatte. Man konnte schon klar herauslesen, dass nicht alles gut und reibungslos lief beim großen und etwas später auch kompromisslosen Umbau des Landlebens. Man konnte aber auch nicht überlesen, das vorher auch nicht alles gut gelaufen war auf dem Land, dass die gute alte Zeit den Namen ganz und gar nicht verdient hatte, und das klang auch durchaus glaubwürdig. Das Leben auf dem Land war hart, brutal, streng hierarchisch und übel verkrustet. Was Strittmatter da beschrieb, das war plausibel und klang vollkommen richtig. Konnte das denn nun dennoch alles falsch sein? War das der Trick? Alles Lüge? Das wusste ich nicht und ich habe auch niemanden gefragt. Das löste sich einfach nicht auf.

Ich fand bei der Lektüre als Kind schrecklich, dass die Hauptfigur sich zwischen dem Großvater und dem Vater entscheiden musste, da beide für verschiedene Systeme standen. Ich habe natürlich nicht verstanden, dass genau darin der parteikonforme Ansatz versteckt war, so etwas liest man mit zehn Jahren noch aus keinem Roman heraus. Oder ich tat es zumindest nicht. Ja, das Buch ist linientreu, je weiter man sich dem Ende nähert, desto schöner tirilieren die Kinderchöre von der Zukunft, der sie strahlend zugewandt sind, herrje. Ja, es ist dennoch über weite Strecken ein sehr gutes Buch.

Das war jedenfalls vermutlich mein erster “richtiger” Roman. Und der fiel mir aus irgendeinem Grund gerade bei einem Spaziergang wieder ein, wie aus heiterem Himmel, als ich erstes Herbstlaub an der Alster sah. Vielleicht eine ganz ferne Erinnerung an eine Naturbeschreibung aus dem Buch, mag sein, ich kann sie aber nicht greifen. Ich habe das Buch gleich gekauft und noch einmal gelesen – und ich habe es nach all den Jahren wieder mit Begeisterung gelesen. Das ist sprachlich wirklich gut, das hat auch eine gute Geschichte, auch wenn sie selbstverständlich systemkonform endet und die wonnige Zukunft der Jungen Pioniere einem etwas auf den Wecker geht. Da ist plötzlich doch arg viel Rosa im Bild. Aber der Mann konnte erzählen, und wie er das konnte. Ich hatte sogar die Namen der Hauptfiguren noch parat, ich wusste noch grob, wie die Handlung lief, ich hatte das Dorf immer noch vor Augen. Nicht schlecht, für 38 Jahre nicht gelesen, das muss mich damals wirklich beeindruckt haben. Ich glaube, ich habe es mehrmals gelesen, das Buch hat mich ziemlich gründlich verwirrt.

Jetzt reicht mir das einmalige Wiederlesen – aber höchst interessant war es allemal.