Die positive Variante des Adjektivs aus der Überschrift kommt kaum vor, fällt mir beim Schreiben auf, sie wird auch bei den Fundstellen im Internet eher stiefmütterlich behandelt. Was oder wer ist schon liebsam. Aber es ist doch ein schönes Wort, nicht wahr. Liebsam, liebsam, man sollte es vielleicht öfter verwenden.
Allerdings wird es heute kaum zum von mir angedachten Inhalt passen können, da brauchen wir das alles entwertende un- davor.
Ich hatte nämlich das Bedürfnis, Ihnen noch einige Bilder zu schildern, die Sie so vielleicht nicht kennen, wenn Sie, was wahrscheinlich ist, in abweichender Wohnlage gastieren. Also ohne große Alkoholszene, ohne Drogenszene, ohne Straßenstrich und Gewaltschwerpunkte, ohne Waffenverbotszonen neben Partymeilen und anderen sogenannten Szene-Locations. Ohne riesige Bahnhöfe, Methadonausgabestellen und dergleichen, was sich übrigens am Ende alles zu „guter Wohnlage“ summiert. Es hat einen humorvollen Aspekt, nur dass wir als Mieter nicht die ganze Zeit darüber lachen können.
Es ist jedenfalls, Sie merken es, am Ende doch etwas speziell hier und einiges ahnen Sie daher vielleicht gar nicht. Das fällt mir schon in Gesprächen mit Menschen auf, die aus anderen Hamburger Stadtteilen kommen. Die mit einiger Regelmäßigkeit die Gewalt hier über- und das Elend unterschätzen. Man muss es alles wohl öfter sehen, um es sich auch selbst glauben zu können.
Erfreulicherweise müssen Sie das alles aber nicht lesen, wenn Ihnen gerade nicht nach Elend ist, morgen schreibe ich über etwas anderes. Ich dagegen habe in meiner Wahrnehmung weniger Auswahl. I‘m not a tourist, I live here.
I
Ich öffne morgens die Haustür, um meinen Frühspaziergang anzutreten, den ich zu einer Stunde mache, welche die meisten von Ihnen als Zumutung empfinden würden. Ich weiche biorhythmisch ab und mache dadurch hier und da auch abweichende Erfahrungen.
Die Tür geht etwas zu schnell auf, was daran liegt, dass von außen etwas dagegen drückt, wie ich zu spät bemerke. Ein Mensch, ein halb aufgerichteter, der mir mit der zurückschwingenden Tür entgegensackt und rücklings in den Flur kippt, wobei sein hart auf den Boden treffender Kopf auf den Fliesen ein Geräusch macht, das ich lieber nicht gehört hätte. Eine Art *plock*, aber nicht so harmlos wirkend, wie man es aus Cartoons kennt.
Der Mensch liegt dann da einen Moment reglos vor mir. Ein fortgeschritten ungepflegter Mann ist es, mit Wucherbart und in bepissten Hosen, wie ich nicht nur mit den Augen wahrnehme. Draußen vor der Tür stehen Bierdosen und kleine Schnapsflaschen. Etliche davon, einige liegen auch in Scherben. Daneben Kippen, ebenfalls viele. Der Gefallene rappelt sich dann immerhin unter entschuldigenden, beschwichtigenden Gesten stöhnend hoch. Ich hatte schon nach dem Handy gegriffen, Krankenwagen, Notarzt, Alarmgedanken.
Er macht international verwendbare Handzeichen für Schlafen, dann für Gehen. Eine slawische Sprache spricht er, leise, hastig und seltsam zischend, undeutlich, lallend. Er lächelt nahezu zahnlos und wie unter großer Angst dabei, dann entfernt er sich eilig. Fast rennend und seltsam breitbeinig, sicher wegen der nassen Hose, hastet er um die Straßenecke. Sieht aber noch einmal über die Schulter zurück, ob ich ihm nicht vielleicht hinterherlaufe.
Nein, ich laufe ihm nicht hinterher. Natürlich nicht. Ich bin weder Ordnungsmacht noch Verfolger. Ich möchte hier einfach nur um den Block gehen.
II
Sie werden diese durchsichtigen Tütchen kennen, die aus irgendwelchen Gründen nach wie vor im Supermarkt beim Obst und Gemüse verfügbar sind. Diese Tüten, in die sich manche Menschen beim Einkauf auch heute noch ihre drei Bananen stecken. Als hätte es irgendeinen Sinn, und Umwelt hin oder her.
Diese Tüten wehen manchmal draußen herum, auch das werden Sie kennen. Dann landen sie irgendwann an einem Baum oder Busch, in einem Hauseingang, auf einer Treppe, an einer Mauer. Da hat man ein Bild im Kopf, hoffe ich, wie diese Tüten sich da biegsam anschmiegen oder bei Regen auch nass ankleben, wo immer es sie gerade hinverweht hat.
Was Sie aber vielleicht nicht kennen oder nicht oft sehen, das sind Menschen, obdachlose Menschen mit nicht nur einem Problem, die es auch auf diese Art und an ebensolche Orte weht. Und die dann dort in erschreckend plastiktütenhaften Stellungen schlafen, die man gar nicht für möglich halten möchte. So dermaßen verknüllt, eingerollt, zum Knäuel gebogen oder kleingemacht und obskur verknotet. So in sich verdreht, dass man im Vorbeigehen unwillkürlich denkt, dass man selbst vermutlich nie wieder aufstehen könnte, würde man irgendwo so einschlafen. Man kommt doch kaum aus dem Bett, wenn man nur versehentlich ein wenig zu lange auf der falschen Seite schläft.
Aber was weiß man schon.
Und ja, Menschen passen auch in Telefonzellen und schlafen dort auf dem Boden. Es gibt doch gar keine Telefonzellen mehr, werden sie jetzt denken. Aber der öffentliche Bücherschrank wurde bei uns in einer ausgedienten Telefonzelle eingerichtet. Und wenn Sie ungefähr so alt sind wie ich, werden Sie vermutlich eine gut erinnerbare Vorstellung davon haben, wie viel Platz es darin auf dem Boden gibt.
Es gibt hier Wochen, da schläft in jeder Nacht jemand auf diesen Bodenplatten im kleinen Glaskasten, und es ist nicht immer derselbe Mensch. Der Platz ist beliebt. Sozusagen.

III
Und dann Wes Anderson für Arme, das gibt es auch. Ein Mann, Mitte dreißig wird er etwa sein, was aber bei obdachlosen Menschen immer schwer zu schätzen ist. Am Ende ist er erst 21, aber egal. Er sitzt jedenfalls in einem Bushaltestellenhäuschen vor einem der großen Geschäfte in der Innenstadt, in einer der Einkaufsmeilen. Er sitzt dort allein und genau in der Mitte der Bank. Bei Wes Anderson geht es immer auch um Symmetrie. Links und rechts hinter ihm die ebenfalls symmetrisch und spiegelnd aufragenden Schaufenster des Geschäfts, mit eher wirr angepappten Sonderangebotshinweisen. Die fallen farbig aus dem Bild und leuchten rot, während sonst fast alles im Ausschnitt in Grautönen gehalten ist. Der Fußweg, die Straße, das metallene Bushaltestellenwartekonstrukt, die Bank darin, die Fassade des Geschäfts und auch der Hamburger Himmel, der sich in den Schaufenstern spiegelt. Alles in Schattierungen von Grau.
Der Mann hat seine Hose, eine graue Hose, wie sich jetzt fast von selbst versteht, heruntergelassen, sie schlabbert unten um seine Knöchel. Er sitzt da also in seiner Unterhose, die einen unbestimmbaren Farbton hat, aber sagen wir ruhig, dass auch sie eher grau ist. Er sieht auf seine entblößten Beine. Wobei sein Mund weit aufgerissen ist und er einen Gesichtsausdruck hat, der Entsetzen so überdeutlich darstellt, als ginge es darum, dieses Gefühl im Schauspielunterricht nachdrücklich allen anderen im Raum vorzumachen.
Die Beine sind von irgendetwas entstellt, bei dem man sein Entsetzen sofort versteht. Es sind rote, blutende Ekzeme, Abszesse oder was auch immer es sein mag, große, flächige Stellen. Und jedenfalls bedecken sie die Beine in einem Ausmaß, bei dem wir alle zumindest kurz auch so gucken würden, wären es unsere eigenen Beine.
Der Mann hat beide Arme dabei hoch erhoben. Als würde er die Hände möglichst weit von diesen so übel erkrankten Beinen wegnehmen müssen. Und er bleibt dann in dieser Pose. Minutenlang bleibt er so. Es sieht aus wie ein Standbild, und den Menschen, die an dieser eingefrorenen Darstellung vorbeigehen, wird vermutlich reihenweise schlecht.
Das Rot der Ekzeme aber, es wiederholt, wir sind immer noch bei Wes Anderson und da ist alles durchdacht, den Farbton der Sonderpreisaufkleber in den Schaufenstern.
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