Bis in die Luft

Eine bemerkenswert pünktliche Angelegenheit ist das in diesem Jahr. Während wir noch probehalber das Kalenderblatt mit dem Februar darauf am Donnerstag einmal kurz anheben, um eben zu prüfen, ob danach wirklich der März kommt oder ob die Welt nicht vielleicht mittlerweile in noch weitere Unordnung geraten ist, während wir also noch das Papier zwischen den Fingern haben, kommt draußen die Sonne durch, steigen die Temperaturen, bläut der Himmel. Wie durch uns animiert, so geht es vor den Fenstern zu.

Auf dem Spielplatz unten sitzt zum ersten Mal in diesem Jahr eine Frau und hält ihr Gesicht in die Sonne. Es ist dies ihre einzige Beschäftigung, für eine lange Zeit sogar, sicher eine halbe Stunde nimmt sie sich. Konzentriert macht sie das, unbewegt und ganz so, als sei das eine recht ernsthafte Übung, die es unbedingt zu absolvieren gilt. Ihr Freund schaukelt währenddessen. Ein erwachsener Mann ist das, der nicht lässig und etwas ironisch nebenbei schaukelt, wie es Väter auf diesem Platz oft zur Erheiterung ihrer Kinder tun, nein, ambitioniert wie ein Kind schaukelt er, „hoch bis in die Luft“, wie die Kleinen sagen, und mit durchaus sportlichem Schwung. Die beiden haben kein Kind dabei, die sind da nur so, die wollten wohl einfach nur raus.

Ich lehne oben am Fenster und sehe den beiden zu, und es ist das erste Hinauslehnen ohne die geringste Kühle, ohne Frische, ohne jede Pullovermahnung.

Am Nachmittag habe ich wieder etwas Bewegungslust, es geht also programmgemäß aufwärts, auch mit meiner Form. Ich gehe durchs kleine Bahnhofsviertel. Vor den Cafés und Restaurants, vor den Imbissen und Bars wird überall geräumt und gewerkelt. Es werden Tische zusammengeschraubt, es wird Mobiliar gereinigt, abgeschliffen, neu angepinselt, frisch angesprüht, neu arrangiert und aufgebaut. Die kalendarisch festgelegte Wiederkehr der Außengastro wird inszeniert.

Und wo ein erster Tisch schon steht, mit ein paar Stühlen oder einer Bank dabei, da nähert sich sehr bald ein Mensch und besetzt ein Revier. Setzt sich, streckt sich, strahlt die Passanten an. Ein höchst ungewöhnlicher Anblick, so also sieht gute Laune aus.

Bier, in das Sonne fällt, lange habe ich das nicht mehr gesehen. Und Sonnenbrillen, die gibt es auch wieder, und Übergangsjäckchen. Es wird März, wir haben es geschafft.

Auch wenn wir sonst nichts geschafft haben – das immerhin.

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Der Affe und Bonn

Eine Sendung (RadioWissen) zum Deutschen Herbst gehört (23 Min.). RAF-Themen werden medial ja gerade wieder erstaunlich präsent („Sie hat immer so nett gegrüßt“) und auswendig könnte ich die Chronologie der Vorfälle im Jahr 1977 auch nicht herbeten. Ich habe, wie alle Kinder dieser Zeit, Erinnerungen an die Polizeikontrollen mit bedrohlich schwerbewaffneten Beamten, an die omnipräsenten Fahndungsplakate mit den vielen Köpfen darauf. Auch an die Diskussionen der Erwachsenen im familiären Umfeld, bei Kaffee und Kuchen, ob die Todesstrafe vielleicht in diesen Fällen doch, und warum denn eigentlich nicht. „Was meinst du denn“, fragte mich überraschend eine Tante, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. So etwas wurde ich sonst nicht gefragt.

Eher vage Erinnerungen sind das allerdings nur. Als Zeitzeuge bin ich völlig unbrauchbar. Damals habe ich vermutlich keine Zeitung jemals gelesen, auch kein Radio gehört, keine Nachrichtensendung gesehen. Oder doch nur wie versehentlich und nebenbei, schon auf dem Weg ins Bett. Ich glaube auch nicht, dass ich eine brauchbare Vorstellung von dem Westdeutschland hatte, in dem ich lebte, erst recht keine Meinung dazu.

Jemand sagte im Fernseher um acht Uhr abends laut „Bonn“ und machte danach eine kurze, bedeutungsschwere Pause, als sei das eine sinnvolle Einleitung für irgendwas, und dann wurde es langweilig und enorm ernst, viel zu ernst für mich. Alles um den Begriff Bonn herum war für mich dunkelgraues, staubiges, knochentrockenes Erwachsensein, noch erfreulich fern.

Vermutlich habe ich dann doch lieber Abenteuergeschichten oder Asterix gelesen. Diese vielen Geschichten von Enid Blyton etwa, in denen der zahme Affe vorkam. Hätte ich so einen Affen gehabt, das war klar, alles wäre besser gewesen, und Bonn noch viel weiter weg.

***

Am Mittwoch ansonsten krank herumgelegen, was sich als recht langweilig herausstellte, das kann ich so nicht empfehlen. In der Familie werden es mir einige wohl dennoch nachmachen. Unbelehrbar bei allem.

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Nur die Hälfte von allem

Am Dienstag mit unvermutet starken Halsschmerzen aufgewacht, das umfassende Formtief äußert sich jetzt auch in körperlicher Ausprägung, na gut. Aber das vergeht ebenfalls mit dem Februar, das wird im Kalender demnächst alles energisch weggeblättert.

Erst einmal halblang machen. Halbe Texte schreiben, halbe Artikel lesen, halbe Exceltabellen ausfüllen, überall nur mit halbem Ohr zuhören und den Tag nur halbherzig mögen, das muss heute reichen.

Einen Film angefangen, der im März 2020 spielte, den habe ich gleich wieder abgebrochen, und wie schnell. Ich merke, dass ich nicht die geringste Lust auf die Aufarbeitung dieser Zeit als Geschichte habe, als Besinnungsstück, als Lehrbeispiel, als Plot. Vielleicht ist es noch zu früh dafür, vielleicht werde ich es nie haben, das kann ich noch nicht abschätzen.

Ich habe jedenfalls auch keine Neigung, selbst Geschichten aus dieser Zeit zu erzählen und, vielleicht geht es Ihnen auch so, ich gerate im Zusammensein mit anderen Menschen kategorisch nicht in Weißt-Du-Noch-Situationen, welche die Pandemie, die Maßnahmen, die Belastungen betreffen. Auch interessant.

Wohlfeile Sprüche über Verdrängung und geschichtliche Spiegelungen bitte selbst hier einfügen, am Ende stimmen sie sogar.

Ich lege mich wieder hin. Und mache vielleicht einen Test, wo ich schon beim Thema bin. Wissen Sie noch, all die Tests?

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Das ist eben, was wir machen

Montagmorgen, das Fenster auf und den Kopf rausgehalten. Es sieht hellgrau aus, es riecht nach Winter, die Vögel klingen nach Frühling, es fühlt sich an wie Februar. Die Lichter in den Häusern gegenüber gehen an, man macht sich überall bereit, die letzte Woche dieses elenden Monats abzuarbeiten. Hunde trotten um Blöcke, die Nasen am Boden, die Besitzerinnen im Schlepptau.

Die Herzdame macht Frühsport im Wohnzimmer, ich mache mehr Kaffee und mehr Texte, wir wecken die Söhne, ich belege Brote, so geht es in den Werktag.

Regen auf den Dachfenstern. Das dezente Gerumpel der Waschmaschine, das sachte Rauschen der Spülmaschine, das Tippen auf zwei Tastaturen. Schritte im Treppenhaus, leises Schlüsselklirren, Nachbarbewegungen. Müllcontainerrollgeräusche von der Straße. Alltag durch und durch.

I woke up this morning to a garbage truck
Looks like this ol‘ horseshoe’s done run out of luck.”

John Prine wieder. Einer von denen übrigens, die wir durch das Corona-Virus verloren haben. Boundless love hieß der Titel.

Sometimes my ol‘ heart is like a washing machineIt bounces around ‚til my soul comes clean.”

Man arbeitet so vor sich hin. Zwischendurch ein Blick auf die Nachrichtenlage. Dann lieber doch nicht. Aber dabei immerhin gesehen, dass in Paris die Fashion Week beginnt. Der WDR schreibt, ein Trend für Frauen sei jetzt die Mafia-Mode: „Getragen werden Pelze, auffälliger Goldschmuck und üppige Toupet-Frisuren.“

Wenn mir das im Hauptbahnhof beim Abendspaziergang so begegnen sollte – ich werde berichten.

***

Gesehen (bei Filmfriend): Die Koffer des Herrn Spalek, das ist eine ruhige, betont langsame Doku über John Spalek, selbst ein alter Mann, der in den USA die Nachlässe von alten und sehr alten Menschen sichert, die im letzten Jahrhundert aus Deutschland dorthin zu Zeiten der Nazis, also der ersten Nazis, emigriert sind. Ihre Notizen, ihre Tagebücher, Briefe, Postkarten, Visa und Tickets, all die Papiere und Belege.

Unbedingt interessant für den Freundeskreis Archiv, Bibliothek und Geschichte, es geht auch um die Einlagerung der Funde in Deutschland.

Der Herr Spalek wird im Film intensiv bei seiner Arbeit beobachtet, und am Rande kann man feststellen, dass diese Arbeit dabei gar nicht wie Arbeit wirkt. Es wirkt mehr so, als sei er einfach durchgehend beschäftigt, und als sei das auch gar nicht anders denkbar, denn das ist eben, was er macht. Das ist seine Lebensform, nicht sein Job.

Auf diese Art wirkt Arbeit dann auch im hohen Alter vorstellbar. Menschen meiner Ausprägung werden vermutlich auch im Rentenalter immer weiter bloggen. Denn das ist eben, was wir machen.

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Und dann zu Bette

Am Sonntagmittag habe ich wiederum routiniert an einer Demo gegen Naziklimbin teilgenommen, man erschien erneut zahlreich und pflichtbewusst. Ich lief mehr herum und durch die Menge als bei den letzten beiden Veranstaltungen und traf dabei eine Ex-Kollegin, Nachbarn, Freunde, alte Bekannte, es war eine ausgesprochen heimelige Großdemo. Und Maja Göpel kann mir gerne jeden Sonntag einen kleinen Vortrag halten, sie ist immer hörens- oder lesenswert.

Zwischendurch lief ich eine Weile zufällig neben den „Omas gegen Rechts“ her, wobei mir irritierenderweise auffiel, dass einige von ihnen gar nicht älter aussahen als ich. Da vielleicht auch mal in einer stillen Stunde drüber nachdenken.

***

Gehört: Im Bildungsfunk eine alte Folge über Franz von Papen. Im Kontext der Demo und angesichts der sich dezent überschätzenden Führungsmannschaft der heutigen CDU war das gar nicht so abwegig. Beim Hören habe ich aber auch wieder etwas gelernt oder noch einmal gelernt, teils sogar Aspekte, die ich aus der Schulzeit noch dunkel erinnerte. Es war doch nicht alles umsonst, damals im Geschichtsunterricht.

***

Frau Novemberregen schrieb Sinniges über Sinnsprüche.

***

Nebenbei sehe ich bei dem neulich bereits erwähnten Erich Lüth ein Fallersleben-Zitat, und zwar gibt er da wieder, wie der Dichter seinen Tagesablauf auf Helgoland beschreibt (wo er dann bekanntlich auch den Hymnentext geschrieben hat, natürlich ohne zu wissen, dass er da gerade einen Hymnentext schreibt), und ich finde das geschilderte Programm gerade recht anziehend:

“Mein Leben war einfach: Morgens Spazierengehen, dann Überfahrt zur Düne, Baden, Rückfahrt, Spazieren, Mittagessen, Kaffeetrinken im Trichter, Ausruhen auf der Klippe, einen Augenblick im Conversationshause, um Zeitungen zu lesen, dann letzter Spaziergang auf der Klippe und zu Bette.” 

Ich würde das angenehm finden, wenn ich meine Tage so beenden könnte: „Ein letzter Spaziergang auf der Klippe und dann zu Bette.“

Im Bild die Außenalster, auf dem Weg zur Demo aufgenommen. Wir haben weiterhin viel mit Wolken zu tun, aber es kommt doch hier und da Licht durch, wie deep ist das denn.

Jemand sitzt auf einer Bank an der Außenalster, die Person wurde von hinten aufgenommen. Viele Wolken am Himmel, aber die gebäude am Ufer erscheinen hell und wie angestrahlt, es kommt Licht durch.

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Anmerkung zu prinzipiellen Gültigkeiten

Ich habe die Berichte zur Legalisierung des Kiffens nur am Rande verfolgt, das Thema interessiert mich nicht. Aber erheiternd fand ich doch einen irgendwo abgebildeten Stadtplan, auf dem markiert war, wo man nun darf und wo nicht, weil man doch im Umkreis von 100 Metern um Spielplätze etc. – was für ein absurder Flickenteppich, ein Schildbürgerstreich. Während auf diesen so genau umrissenen Spielplätzen usw. in schöner Regelmäßigkeit die Alkoholkranken jeden Tag stundenlang ihren Stoff konsumieren. Ach, was rege ich mich auf.

Es ist jedenfalls eine weitere Regelung, die im Prinzip niemanden interessieren wird, die auch vermutlich niemand jemals durchsetzen wird, die aber doch fallweise herangezogen werden könnte, weil sie ja prinzipiell immerhin gilt. Siehe Tempo-30-Zonen, auch so ein vollkommen sinnentleertes Thema, bei dem es zwischen Vorgabe und Wirklichkeit schlicht keinen Bezug mehr gibt.

Wenn man alle staatlichen Regelungen, bei denen es weder eine real vorstellbare Durchsetzungsmöglichkeit noch ein wenigstens vage erkennbares Durchsetzungsinteresse gibt, einfach streichen würde – es wäre spannend, was überhaupt noch übrigbliebe. Die Straßenverkehrsordnung wird es mit großer Sicherheit nicht sein, während wir uns mehrheitlich und sogar gemeinsam mit den staatlichen Institutionen bei Raub und Mord wohl doch noch einig sind, dass die meist nicht okay sind, dass man da etwas regeln und tatsächlich auch verhindern muss.

Aber die Basis, auf der wir uns noch weitgehend alle einig sind, sie ist in den letzten Jahren viel schmaler geworden. Erschreckend schmal, nehme ich an, weil Freiheit, Eigenverantwortung usw., die stets so bereitwillig wiedergegebene Litanei der Egomanen. Der Mensch ist dem Menschen eine FDP-Blockade.

***

Gesehen: Finding Vivian Maier. Danach habe ich mehr zu Vivian Maier nachgelesen, auch pflichtbewusst zur harschen Kritik an diesem Film und auch zu den rechtlichen Aspekten der Veröffentlichung ihrer Bilder, zum Erbstreit, zu ihrem Lebenslauf etc. Es ist sehr kompliziert – aber was für eine Geschichte. Und was für Fotos.

***

Passend zum Sonntag heute ein Bauzaun im kleinen Bahnhofsviertel:

Ein mit weißer Folie bespannter Bauzaun, auf den jemand in pinkfarbener Schrift "Hallelujha" geschrieben hat, mit Rechtschfreibfehler und so getrennt, dass oben Halle und unten Lujha steht. Der Bauzaun steht auf einem sonst leeren Platz, der Schriftzug wirkt dadurch sehr prominent.

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Pfeifend vor der falschen Tür

Am Freitagmorgen im Home-Office eine seltsame Situation am Schreibtisch, ich erkenne auf einmal nichts mehr auf meinem Notebook. Ich sehe nicht, was ich schreibe. Das liegt an einem ungewöhnlichen Vorkommnis, die Sonne blendet nämlich. Das ist erstaunlich, weil es morgens also schon Licht gibt und weil dieses Licht auch nicht wie sonst ist, also etwa mittelgrau, dämmerdiesig oder werktagsfahl. Es ist strahlend, gleißend. Ich bin sicher, ich hatte wochenlang keine blendende Sonne mehr auf meinem Bildschirm, vielleicht monatelang nicht. Da wird einem wieder bewusst, was für eine heruntergedimmte, durch und durch trübe Veranstaltung der Winter in Hamburg doch ist. Und dass man mal die Fenster putzen könnte, das auch.

Na, man wird sich wohl wieder umstellen. Das merkwürdige Vorkommnis fand auch nur kurz statt und zeitgleich wurde es wieder kühler, das ist auch besser zur Wahrung der Contenance. Wir werden langsam und behutsam an den Wechsel der Jahreszeit herangeführt, das ist hier alles betont rücksichtsvoll eingerichtet.

***

In einem Kommentar zum letzten Text erwähnte Slowtiger die Rolle des Zufalls im Leben. Ich höre oft und gerne Podcasts zur Musikgeschichte, zur Geschichte der modernen Musik im weitesten Sinne, zu einzelnen Künstlern, Bands oder Songs, auch zu Epochen etc. Ich höre das sogar dann gerne, wenn mir das Besprochene nur am Rande etwas sagt, ich mag diese Geschichten.

Und wenn Musik beispielhaft ist, kann man die Rolle des Zufalls auch für den Erfolg an diesen Geschichten klar belegen. Es ist unfassbar oft so, dass an einem Tonstudio der siebenjährige Neffe des Hausmeisters vorbeigeht und etwas pfeift, was der Leadsänger dann spontan aufgreift und in den Song einbaut und zack, überragender Welterfolg, one hit wonder oder Karrierestart erster Klasse. Nur wegen dieses winzigen Moments.

Das ist ein ausgedachtes Beispiel, aber so geht es tatsächlich zu, und zwar erstaunlich oft. Was hatte ich neulich gehört – der Erfolg von Roberta Flack entwickelte sich daraus, dass Clint Eastwood sie im Autoradio hörte, daraus ergab sich dann alles. Viel öfter ist das so, als man zunächst annimmt, denke ich, das Absurde ist vielleicht sogar die Regel und klar, es wird auch ein paar andere Fälle geben, erarbeitete Erfolge nach Plan. Aber ich nehme nicht an, dass sie die Mehrheit darstellen.

Was bedeutet, dass man Gelegenheiten braucht, Situationen, Kontakte, Möglichkeiten. Also neben den so konservativen Werten Fleiß und Ausdauer, die bestenfalls irgendwann in Können münden, womöglich noch unterstützt durch etwas Talent, vielleicht auch Lust.

Also, um es kurz zu fassen: Weitermachen und ab und zu rausgehen. Dann hat man sich ausreichend Mühe gegeben. Der Rest ist Schicksal.

Und, das ist sicher auch richtig, was wir über die Jahrhunderte mittlerweile kulturell alles verpasst haben werden, nur weil irgendwo ein kleiner Zufall fehlte, nur weil der Neffe des Hausmeisters pfeifend vor der falschen Tür stand oder Clint Eastwood zu spät losfuhr. Nicht auszudenken.

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Wendepunkte II

Ich denke immer noch auf den Wendepunkten im Leben herum, siehe mein Text von gestern dazu. Wenn man einmal anfängt!

Ein Anruf vor vielen Jahren, meine Mutter am Telefon. Ich hatte gerade mit Ach und Krach Abitur gemacht und hing etwas planlos im Leben herum, frisch angekommen in Hamburg. Sie fragte, ob ich ein paar Stunden im Büro aushelfen könne, es gebe da gerade Arbeit. Klar, sagte ich, denn Geld war in der Phase auch so ein Problem, wie bei fast allen jungen Menschen. Es wollte dummerweise nicht vom Himmel fallen, ebenso wenig wie die klugen Ideen für den Rest des Lebens. Ich war äußerst unschlüssig, was aus mir Tolles und Besonderes werden sollte.

Ich ließ mir also den Weg erklären und fuhr hin und fing an. Dreimaliges Umsteigen in fremder Großstadt ohne Mobiltelefon und Navigation, das waren damals noch Abenteuer, liebe Kinder. Viele von uns gingen bei so etwas verloren und tauchten nie wieder auf.

Das ist jedenfalls deutlich mehr als dreißig Jahre her und ich arbeite da immer noch. Ich könnte dieses Telefonat also recht treffend als Wendepunkt deklarieren, denke ich. Es kommt hin, wenn auch ohne jede Dramatik, man braucht keine Special-Effects, um das zu inszenieren.

Und allmählich habe ich übrigens das Gefühl, die Arbeit dort wird gar nicht weniger. Wieviel Zeit auch immer man damit zubringt. Das habe ich damals nicht unbedingt erwartet, ich dachte zunächst eher, ich arbeite da mal eben etwas ab, ein paar Wochen lang vielleicht. Es kam mir in den ersten Tagen damals ein wenig vor wie „Wir spielen Büro“, das weiß ich noch, und das ist übrigens ein Gefühl, das ich seltsamerweise nie ganz verloren habe. Ich merke es heute noch manchmal, wenn auch nicht mehr allzu oft.

Und an guten Tagen ist es sogar ein interessantes Spiel, heute wie damals. Aber auf Dauer zieht es sich doch etwas.

In einer Komödie könnte man jetzt ein zweites Telefonat mit meiner Mutter, die selbstverständlich schon seit Jahrzehnten in Rente ist, einbauen, in dem sie beiläufig nach meiner Arbeit fragt und dann etwas irritiert sagt, dass ich da ja auch allmählich mal aufhören könnte. Und ich sage okay, und ich mache das dann einfach. Nach wie vor unschlüssig, was den Rest des Lebens betrifft, aber immerhin mit etwas mehr Geld als damals.

Na, wie auch immer. In einem Drehbuch wäre das okay, in der Wirklichkeit wäre es deutlich problematischer.

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Wendepunkte

Gesehen: Die Wahrheit über Männer, ein dänischer Film über Liebe und Lebenshoffnungen, über Handlungsbögen und Wendepunkte in Geschichten und im wahren Leben. Die Hauptfigur schreibt Drehbücher und kennt sich mit Wendepunkten also gut aus, sie erklärt auch in den Dialogen etwas dazu. Wobei das wahre Leben in diesem Fall selbstverständlich auch eine Geschichte ist und man also weiterdenken müsste bis zum eigenen Leben, wenn man das noch tiefer ergründen möchte, und man könnte dann, wenn man schon dabei ist, auch überlegen, wieviel im eigenen Lebenslauf durch Wendepunkte und wieviel durch eher inkrementelle Veränderungen geprägt war, durch eher zögerlichen Wandel.

Oder welche Punkte man, wenn man ein Drehbuch über sich schreiben würde, szenisch überhöhen würde, damit die Story etwas mehr hergibt. Oder welche Wendepunkte zum Guten oder Schlechten man in näherer Zukunft für möglich oder sogar erwartbar halten könnte, und wenn man auf keine zum Guten kommt, warum eigentlich nicht, was hat man da wieder falsch gemacht.

Man kann es aber auch alles lassen und einfach nur einen Film sehen. Manchmal ist es schon entspannter, nicht dauernd herumzudenken, ich sehe es ja ein.

***

Es gibt neue Pläne für den Hamburger Hautbahnhof, für den Umgang mit dem Elend dort, und sie beinhalten sogar soziale Aspekte. Sollte sich tatsächlich etwas verbessern – ich werde berichten. Das gilt allerdings auch für den Fall, dass sich nichts verändern wird.

***

Ansonsten eher nichts. Es ist sehr Februar, meine Laune ist unterirdisch schlecht, ich finde alles schrecklich und unzumutbar. Ich könnte eine Woche durchgehend schlafen und weiß am Ende doch, es ist nur so ein kalendarisches Ding, ich muss mich da also keineswegs besonders ernst nehmen, und das ist immer ein beruhigender Gedanke, den übrigens deutlich mehr Menschen öfter haben sollten, aber das nur am Rande.

Vielleicht mache ich heute mal etwas Positives, etwas eindeutig der Zukunft Zugewandtes und kaufe mir schon einmal die ersten Radieschensamen, trotz Sturmwarnung und Dauerregen.

Wobei – man kann sich wirklich jeden Quatsch als Wendepunkt in einem Film oder einer Serienfolge vorstellen, sogar den beiläufigen Kauf von Saatgut, und es ist sogar ganz lustig, das eine Weile zu machen, mit Kameraperspektive, Schnitt und allem. Ab da wird es dann anders.

Man kann sich sogar, wie hieß es neulich in dieser einen Filmkritik, Musik als Soundtrack dazu vorstellen, die deutlich mehr weiß, als die Zuschauerinnen gerade. Ich klicke eben rüber zum Musikstreamingdienst, ich lasse irgendwas zufällig laufen: „Do somethin‘ good“ heißt der Titel. Chip Taylor.

Geht doch.

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Es gibt Eis, es gab Eis

Ín Schleswig-Holstein öffnen die Eisdielen, lese ich am Morgen in den Nachrichten, natürlich deutlich unterhalb all der Schlagzeilen zur gewohnten Schrecklichkeit der Welt. Wobei Eisdiele ein Wort ist, das seltsam aus der Zeit gefallen scheint. Wenn man es dreimal nacheinander laut aufsagt, fühlt man sich direkt in die Großelterngeneration versetzt, und die Kugel kostet wieder fünfzig Pfennig oder was damals der Preis gewesen sein mag.

In Österreich sagen sie Eissalon, sehe ich gerade. Das klingt für mich so, als müsse man dort etwas aufrechter sitzen und das Eis etwas vornehmer löffeln, an Lecken gar nicht zu denken. Das Wort Eisdiele wiederum hat nicht nur einen heimatlichen Klang, es kommt vielleicht sogar aus Hamburg, guck an.

Bei uns um die Ecke hat die Eisdiele schon seit Wochen auf, sie wirbt aber noch für Heißgetränke, auf Schildern vor der Tür und bei meist einstelligen Temperaturen. Der Februar ist dennoch extrem zu warm, schreiben die Wetterseiten, es wird ein Rekordmonat, und ein guter Rekord ist das nicht.

Ich lese nebenbei die Aufzeichnungen eines Helgoländer Arztes (Walter Kropatschek: Tage und Nächte auf Helgoland), im Februar 1940 berichtet er von Eisschollen, die an der Insel im Nebel vorbeitreiben.

Ich weiß nicht, ob ich es noch zur Ausstellung in der Kunsthalle nebenan schaffe, Caspar David Friedrich, da könnte ich mir auch ein Bild von Eis auf dem Meer ansehen, glaube ich. Einmal im Leben habe ich das an der Ostsee sogar selbst erlebt. Ein zugefrorenes Meer, Eis bis zum Horizont. Man konnte darauf herumlaufen und weit raus.

Meine Eltern und Großeltern haben das sicher noch öfter als ich erlebt, für meine Söhne ist es dagegen schon unvorstellbar. Bilder aus einem Märchenland.

***

Gehört: Die Sonderfolge der „Lage der Nation“ zur Spaltung der Gesellschaft, das Interview mit dem Soziologen Steffen Mau, der zu diesem Thema forscht und ein Buch geschrieben hat (Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft). Die Laune steigt beim Hören sicher nicht, aber man kann noch etwas lernen über die Methoden der populistischen Strategieteams.

Und ein paar kurze Sätze, die man konstruktiv verstehen kann, gibt es am Ende auch noch. Immerhin.

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.