Hefte raus, Klassenarbeit

Um das mit den Klischees aus dem letzten Eintrag noch etwas zu vertiefen, hier zwei Szenen aus der letzten Woche, sie passierten beide an einem Tag, ganz kurz hintereinander, keine dreißig Minuten dazwischen und keine fünfhundert Meter. In jedem Drehbuch würde man die rot anstreichen, viel zu platt. Aber was solls, das Leben scheint platt zu sein. Oft zumindest. Zwei Szenen zum Medienkonsum also, erschreckend lieb- und einfallslos zusammengestellt vom Leben selbst, vom Schicksal, wie auch immer.

In einem großen Supermarkt geht eine Mutter laut zeternd hinter ihrer stur aufs Handy starrenden jugendlichen Tochter her. Sie schimpft dabei so laut, dass sie auch noch ein paar Regale weiter gut zu verstehen ist, entsprechend unendlich genervt sieht der Gesichtsausdruck der Tochter aus. “Ich nicht mehr!”, ruft die Mutter, “ich jedenfalls nicht mehr! Ich passe jetzt nicht mehr auf, dass du nicht überall gegenrennst!” Und die Tochter sagt in diesem Tonfall, den alle aus eigener Erfahrung kennen, die schon einmal pubertiert haben: “Ja, ja.” Und mehr sagt sie nicht, natürlich nicht, was sollte sie auch sagen. Die Mutter bremst abrupt ab und biegt dann in den Gang mit den Nudeln ab. Die Tochter guckt nicht hoch, starrt weiter aufs Handy, wiederholt nur roboterhaft und unsäglich gelangweilt “Ja, ja” um drei Meter weiter dann ungebremst gegen eine verspiegelte Säule zu latschen, dass es ihr durch den Aufprall glatt die Brille zerlegt. Es spricht dabei übrigens sehr für die Mutter, dass sie sich keine Äußerungen des Triumphs zugestanden hat, es umspielte nur ein hauchfeines Lächeln ihre Lippen, als sie kurz darauf in helfender Absicht zu ihrer Tochter ging, die gerade ihre Brillenteile einsammelte, sehr rot im Gesicht.

In der Zentralbücherei geht dann eine Frau in meinem Alter, Typ Oberstudienrätin, womit Sie jetzt vermutlich ein Bild im Kopf haben, eher als bei “Typ Germanistin” jedenfalls, wobei man unter Umständen an Nora Tschirner mit Bleistift im Mund denkt, das ist hier aber nicht gemeint, außerdem gehen Germanistinnen wohl eher in die Staatsbibliothek, aber ich schweife ab und grammatikalisch geht dieser Satz auch nicht auf, don’t try this at home. Typ Oberstudienrätin also, was auch immer Sie sich jetzt dabei denken, so etwas meint ja auch die Begleitumstände, Szeneviertel, Altbau, Rotwein und der Mann ist Architekt, in Romanen kriselt die Beziehung dann schon auf Seite drei, ist klar, aber darum geht es auch nicht. Mit einem Stapel Bücher unterm Arm geht sie da durch die Regalreihen, die Oberstudienrätin mittleren Alters. Auf dem Stapel obendrauf ein aufgeschlagenes Buch, sie liest beim Gehen, und weil die Bücher einerseits rutschen, das obere Buch andererseits aber aufgeschlagen bleiben soll, hat sie eine etwas undamenhafte Körperhaltung, so gehen keine Intellektuellen, so gehen eher Clowns, denen die Jongliernummer programmgemäß misslingt. Aber wie die Bücher auch rutschen, sie guckt nicht hoch, sie liest und murmelt beim Gehen. Wenn die Form des Textes, den ich im Vorbeigehen nur ganz kurz sehe, nicht täuscht, dann hat sie da sogar Lyrik vor sich. Neben ihr geht ihre Tochter, so alt wie die andere Tochter im Supermarkt gerade eben, ihre Tochter also, die ab und zu routiniert und dirigierend am Ärmel der Mutter zieht, nämlich immer dann, wenn wieder eine Regalecke in den Weg ragt. “Mama”, höre ich sie mahnend murmeln, und es ist nur ein ganz leises “Mama”, es ist eigentlich gar kein “Mama”, das wirklich gehört werden möchte.

Und wenn man sich diesen beiden bisher nur zeitlich verknüpften Szenen jetzt interpretierend nähern müsste, würde sich das nicht total blöd nach einem Aufsatzthema aus der, na, sagen wir aus der zehnten Klasse anfühlen? Medien und die Wirkungen, Medien und Beziehungen, so etwas in der Art? Parallelen und Unterschiede im Verhalten usw., man möchte sich doch im Andenken an eigene Deutscharbeiten spontan erbrechen, wenn man nur daran denkt, nicht wahr. Aber so etwas passiert tatsächlich! Dauernd passiert so etwas. Die Welt da draußen ist im Grunde voller Aufsatzthemen, vielleicht ist sie auch deswegen oft so unerträglich.

Haben wir das auch geklärt, fein. Kein Tag ohne Lernfortschritt!

21 Kommentare

  1. Mein erstes Mal: Buddenbohm gelesen. Lustig! Aber die Abschweifungen, mögen sie auch als stilistisches Mittel dazu dienen, den Leser bei der Stange zu halten, sind verwirrend und irritierend. Wenn man das beim Gehen liest dann pa??????

  2. Mir ist das mit dem Brille (und Nasenbein kräftig anditschen) vor 28 Jahren ganz ohne Handy bei einer Glastür in der Mittagspause passiert. Mein Chef vermutete, ich wäre in eine Schlägerei geraten.
    Ich rätsele allerdings, wie man bei stark geneigtem Kopf sich die Brille zertrümmern kann – die hat sicher im letzten Moment DOCH NOCH hoch geguckt.

  3. Ich warte ständig darauf, dass mal jemand beim auf das Handystarren irgendwo gegenläuft. Unsere ganze kleine Einkaufstraße in der kleinen Stadt an der Elbe, nebenan von der großen Stadt an der Elbe, ist voll von Handystarrern jeden Alters. Leider konnte ich mich an so einem Missgeschick noch nicht erheitern.

  4. Mir kommen regelmäßig auf dem Bürgersteig Menschen entgegen, die beim Gehen Bücher lesen. Mit einem davon lebe ich sogar zusammen. Ich freue mich immer sehr, fühle umsorgende Gefühle für sie und sehe Handy-lesende Menschen im selben Licht.
    Dass Ihnen beide Formen so kurz hintereinander begegneten, gefällt mir.

  5. Made my day, too!
    Die Welt spielt offensichtlich immer dasselbe Theaterstück mit verteilten Rollen.
    Demnächst ich lesend auf der Straße, oder so.

  6. Ach Herr Buddenbohm, wie fein oh wie so fein haben Sie das mal wieder geschrieben, danke Ihnen. Könnten Sie sich im Übrigen vorstellen, dass die Aussicht, einen Blogpost werden schreiben zu wollen, uns eventuell genauer hinsehen lässt? Man so in vorauseilendem „Gehorsam“, Beobachtungen einsammelt? In diesem Sinne: Bitte, bitte sammeln Sie weiter, Sie machen uns allen eine Freude!

  7. Ich bin geneigt, Ihnen zu glauben, dass beide Gegebenheiten so passierten … auch wenn es noch so unwahrscheinlich klingt.
    Zudem bin ich bereits seit frühester Jugend gewöhnt, im Laufen zu lesen – früher vorwiegend Bücher und in der Regel nur in der Wohnung, aber auch auf Treppen; inzwischen gern auch mit Smartphone oder E-Book-Reader und auch außerhalb von Gebäuden. Bisher blieb ich unfallfrei … allerdings stieg ich schon mehrfach in die falsche Straßenbahn. ..

  8. Ich entschuldige mich im Voraus, sowas sage und schreibe ich sonst wirklich nie und werde es mit großer Wahrscheinlichkeit auch nie wieder schreiben, weil es ja auch irgendwie ein bißchen peinlich ist, aber nun ja…
    Lieber Herr Buddenbohm, genau für Texte wie diesen – und den Part mit der Oberstudienrätin im Besonderen – liebe ich Sie einfach. Also literarisch platonisch gesehen natürlich. Sie wissen schon… (hoffe ich). Jedenfalls: Danke! Für das hier und für das Lächeln, das für den Rest des Tages auf meinem Gesicht bleiben wird.

  9. Pingback: el flojo

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