Szenen und Geschichten

Ich kann über das Tool Nuzzel sehen, welche Links in meinen Timelines am häufigsten geteilt werden. Im Moment dreht sich alles um den seltsamen Fälschungsfall beim Spiegel und nicht wenige haben angemerkt, dass der Tonfall, in dem im Spiegel über diese Fälschungen berichtet wird, mit ziemlicher Sicherheit Teil des Problems ist, mit Pathos gegen Pathos, also bitte. Wenn man ab und zu über das Schreiben und über Geschichten nachdenkt, dann sind viele der Wortmeldungen zu Thema gar nicht uninteressant, ich lege mal kurz etwas zu meinem Schreiben an.

Wenn ich aus dem Haus gehe und gut aufpasse, sehe ich in aller Regel etwas, über das ich schreiben kann, das ist nicht schwer. Wenn ich mein Revier verlasse, sehe ich sogar mit enorm hoher Wahrscheinlichkeit etwas, über das ich schreiben kann, denn außerhalb des Reviers ist natürlich alles viel interessanter. Was ich da sehe, das sind Szenen, im Journalismus wäre das die ganz kleine Form, so etwas passt höchstens in Glossen und Kolumnen. Manchmal sind das Ansätze zu Geschichten, manchmal sind es Ausschnitte aus Geschichten, es werden aber eher keine ganzen Geschichten. Schon weil ich tendenziell eher soziophob bin und also sicher nicht mit fremden Leuten rede, noch weniger als es der nordddeutsche Normalfall ist. Ich spreche niemanden an, ich frage nichts nach. Ich gucke nur so herum. Würde ich nachfragen und ermitteln, recherchieren etc. (wovon ich gar nichts verstehe), ich würde vermutlich auf viele kleine Geschichten kommen, auf Geschichtchen. Auf Geschichten, die vielleicht als Kurzgeschichten tauglich wären, weil mit dem richtigen Blick einfach alles als literarische Kurzgeschichte brauchbar ist, auf Geschichten, die Alltägliches erhellen, Undramatisches, Gewöhnliches oder immer wieder und wieder das Zwischenmenschliche, er liebt sie, sie liebt ihn nicht, das bleibt ja spannend. Woran auch nichts schlecht ist, denn das Gewöhnliche ist das, was wir leben und ich halte es für eine anständige Aufgabe, das zu beschreiben.

Selten hätte ich mal einen Knaller dabei. Eine Hammergeschichte oder auch nur eine mit Pointe, mit einer super Wendung, mit Wow-Effekt und starken Figuren. Ich habe zufällig gerade vor ein paar Tagen mit Isa über das Auffinden von Geschichten gesprochen, weil mir in diesem Jahr auffiel, dass mir aus dem Alltag heraus keine begegnet ist, keine einzige, ich habe nicht einmal eine erzählt bekommen. Also keine starke Geschichte jedenfalls. Keine spektakuläre Trennung, kein wildes Liebesdrama, kein Kriminalfall, kein Plot als Gottesgeschenk, nada. Keine einzige Begebenheit, die eine wirkliche Story gewesen wäre. Das macht auch nichts, das war nur eine für mich spannenden Feststellung, denn es gab auch mal Zeiten, da hätte ich mir das anders vorgestellt und mehr Erzählungen im Alltag erwartet. Aber das, was ich sehe, es sind Szenen, keine Geschichten. Es ist nun mit etwas Fantasie nicht schwer, aus Szenen Geschichten zu drehen, Geschichtenansätze, die man so verwenden könnte, die sehe ich quasi ohne Ende. Literarisch ist das Verwenden in dieser Art der Normalfall und einwandfrei, es ist zu begrüßen und notwendig und gerne gelesen und alles, gar kein Thema. Journalistisch ist das aber vermutlich der Anfang vom Untergang, wenn etwas am Ende Geschichte sein muss, weil der Stil des Hauses es so verlangt, und das ist auch der Teil, den ich nicht verstehe. Wo doch die Abfolge von Szenen reicht, um zu sagen, was ist.

Und das wiederum trifft einen Gedanken, den ich häufiger habe, dass nämlich in Artikeln und Meldungen oft nicht gesagt wird, was meiner Wahrnehmung entspricht. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Wirklichkeit grundsätzlich wesentlich öder und gewöhnlicher ist als das Aufregungsniveau in den Redaktionen, das würde mich jedenfalls nicht überraschen. Den Exkurs über Clickbait kann sich jeder an dieser Stelle zwanglos selbst denken, das leuchtet ja unmittelbar ein. Die in unaufhörlicher Szenenfolge abgespulte Wirklichkeit, die kommt mir oft zu kurz. Das meine ich nicht als allgemeine Medienkritik, das klingt nur so. Ich verstehe gar nicht genug von Medien, ich meine es eher als persönliche Geschmackssache. Ich lebe in der Mitte einer Großstadt, das Leben hier ist nennenswert friedlicher, beschaulicher, normaler als es in den Medien dieser Stadt dargestellt wird, da fängt es schon an, und so geht es immer weiter. Wann immer in Artikeln pauschalisierend über die Stimmung im Land und ähnliche vermeintliche Seelenregungen einer mehr oder weniger unklar umschriebenen Bevölkerungsmenge geschrieben wird, ich sehe mich oft ratlos um und denke ”Was? Wo denn?”

Die Normalität fällt hier vor meinen Fenstern nach wie vor ziemlich normal aus und ändert sich geradezu nervtötend langsam. Da draußen findet eben keine Verkehrswende statt, da steht nur plötzlich eine Ladesäule für E-Autos, die ist über Nacht einfach da und mehr passiert dann nicht, an der hält zunächst nicht einmal ein Auto. Und nach sechs Monaten steht da dann eine zweite Säule und das ist es, finde ich. Das ist, was passiert. Wenn man nun neben der neuen Ladesäule stehen bleibt und die Reaktionen der Leute beobachtet, dann hat man nach nur zwanzig Minuten einen Text, und je länger ich blogge, desto spannender finde ich genau so etwas. Das ist so ziemlich das Gegenteil der Pathos- und Scoop-Welt einiger großer Medien, und mich bestärkt diese ganze Angelegenheit darin, die kleine oder ganz kleine Form noch viel größer und interessanter und spannender zu finden, das wollte ich nur eben sagen.

Noch besser aufpassen, noch mehr beschreiben. Da hat man doch wieder was vor. Auch gut.

Update: Siehe auch bei Anke.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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8 Kommentare

  1. Treffend analysiert – und sicher auch ein Grund wieso ich und viele Andere hier gerne mitlesen.
    Die feinen Beobachtungen der Nuancen in der Alltäglichkeit sind die Spezialität des Hauses für die die Stammgäste immer wieder komme.

  2. Arno Schmidt äußerte dauernd Verachtung für die „Handlungsreisenden“, und das paßt mir gut: Alltag, Unspektakuläres ist spannend genug – allerdings muß man dazu eben schreiben können. Und die Realität hält sich glücklicherweise nicht an Hollywood-Storykonventionen: die Handlungsstränge fasern aus, Figuren tauchen ebenso unmotiviert auf wie ab, warum etwas geschieht ist eher selten jemandem klar.

  3. „Ich gucke nur so herum. Würde ich nachfragen und ermitteln, recherchieren etc. (wovon ich gar nichts verstehe),….“
    Bitte nicht tief stapeln 🙂 Das „Was machen die da“ Projekt war sehr, sehr fein. Und das hat doch nicht ALLES Frau Isa ganz alleine auf die Beine gestellt, oder?
    …könnte man auch gern mal wieder was zu schreiben *mitdenwimpernplinker*

    Ansonsten aber zur Sache an sich volle Zustimmung!

  4. Bei diversen Stimmungsbildern, die für die Bevölkerung gelten sollen, muß man sich nur jedesmal die Anzahl der Befragten anschauen. Da steht dann gerne mal sowas wie „596“ oder „1.066“. Und diese Zahlen sollen dann 82 Millionen Bundesbürger repräsentieren. Stimmung macht man wenn, dann mit genau solchen Statistiken.
    Na gut, die Mitarbeiter vom Statistischen Bundesamt müssen auch etwas zu tun haben…

  5. Widerspruch @Franziska: Das Statistische Bundesamt erhebt die Zahlen. Es ist nicht verantwortlich für das, was Andere daraus machen und wie sie damit wen beeinflussen. Aber Statistiken richtig lesen ist auch manchmal tricky.

    Herr Buddenbohm, habe ich mich beim Zählen der Verneinungen vergaloppiert oder ist mein Sinn für Ironie mir abhanden gekommen?
    „Schon weil ich tendenziell eher soziophob bin und also sicher nicht mit fremden Leuten rede, noch weniger, als es Norddeutsche ohnehin schon nicht tun.“ Zu Hülf!

    Journalismus ist keine Literatur, Journalismus soll berichten. Und Berichterstattung gibt idealerweise wieder, was sichtbar / hörbar / fühlbar / messbar / wiegbar / zählbar ist. Alles Andere hat im Konjunktiv zu stehen.

    Berichte schreiben über Wohnheimalltag und Bewohnerverhalten ist übrigens eine sehr feine Übung dafür, alltäglich. Objektivität ist unerreichbar, muss aber dennoch mit aller Kraft angestrebt werden.

    Mein Wort zum Spiegel und zu Anke Gröners Gedanken darüber.

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