Gemeinsamkeiten an der Elbe

Im Vorübergehen gehört: Eine Frau, die in einer osteuropäischen Sprache telefonierte, die viel sprach, alles in dieser Sprache, bei der ich mir nicht sicher bin, welche es wohl genau war, Russisch war es eher nicht. Es gab jedenfalls nur einen einzigen deutschen Satz in ihrem Redestrom, der war plötzlich gut zu verstehen. Vielleicht gab es keine Entsprechung dafür in der anderen Sprache, das kann ja sein, vielleicht ist dieser Satz aber auch einfach sehr deutsch, ich weiß es nicht: “Die Realität sieht anders aus.”

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Am Nachmittag hingen die Herzdame und ich mit einem Sohn längere Zeit über dem Stammbaum der griechischen Götter, die Welt dieser Mythen ist in der Schule gerade Projektthema. Und während ich sonst bei vielen Schulthemen erstaunt bin, wie viel ich längst vergessen habe, bei den griechischen Göttern – man muss sich auch mal loben können! – kenne ich mich nach wie vor geradezu hervorragend aus. Zuständigkeiten, Verwandtschaften, Abstammungen, Geschichten, römische Entsprechungen, das habe ich mir als Kind anscheinend alles für die Ewigkeit eingeprägt, warum auch immer. Und mein ganzes Leben lang konnte ich mit diesem Wissen rein gar nichts anfangen, jetzt endlich kann ich einmal damit glänzen. Was wieder bestätigt, dass man manchmal nur ein paar Jahrzehnte warten muss, schon weiß man, wozu etwas gut war.

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Noch einmal zu dieser Veranstaltung vom Auschwitz-Komitee. Ich habe bei der Vorstellungsrunde einen Namen nicht mitbekommen, den Namen des Moderators, ich nehme aber an, es war Detlef Garbe, der Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Was mich wieder daran erinnert, dass ich da seit Ewigkeiten schon einmal hinwollte, das werde ich jetzt dieses Jahr endlich machen. Anwesend war auch Ruben Herzberg, ein ehemaliger Hamburger Schulleiter. An seiner letzten Schule, sie ist nicht weit von hier, hängt eine Gedenkplakette für die Kinder vom Bullenhuser Damm, der ist nämlich auch nicht weit von hier. Eine vollkommen unerträgliche Geschichte, die vom Bullenhuser Damm, wenn man sich einmal damit befasst hat. Es gibt da diesen Satz (steht nicht im Wikipedia-Artikel) des SS-Mannes, der die Kinder erhängt hat, diesen grauenvollen Satz, in dem er den Mord schildert und sagt, er habe die Kinder wie Bilder an die Wand gehängt, dieser Satz verfolgt mich seit Jahren.

Ruben Herzberg wurde in Israel geboren. Seine Eltern waren im Dritten Reich aus Deutschland geflüchtet und sind später zurückgekehrt, und dieser Ruben Herzberg war es, der da auf dem Podium das Adorno-Zitat von der Erziehung brachte, ich zitiere es hier etwas länger als er es tat: “Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, dass man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.” Geschrieben 1966, das ist so alt wie ich. Das Zitat ist bekannt, aber man kann es wohl nicht oft genug wiederholen und sich gelegentlich auch fragen, was man selbst als Erziehender eigentlich dazu beiträgt.

Ruben Herzberg: “Die Aufgabe ist immens und sie wächst.”

Als jene sehr rechte Partei im letzten Jahr ihr Denunziationsportal gestartet hat, bei dem man Lehrerinnen und Lehrer anschwärzen sollte, die aus Sicht dieser Partei im Dienst eventuell etwas zu gute Menschen sind, hat das Lehrerkollegium seiner ehemaligen Schule einen offenen Brief dagegen geschrieben, ich habe den auch gesehen und mich sehr darüber gefreut. David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus in Magdeburg wies dann darauf hin, dass dies allerdings eine Reaktion war, die in einigen Landesteilen schon gar nicht mehr möglich ist, weil dort zu viele Menschen zu viel Angst haben, und zwar nicht einfach so, sondern aus nachvollziehbaren Gründen. Wie auch diese Podiumsdiskussion in einigen anderen Städten nicht ohne erhebliche Sicherheitsvorkehrungen hätte stattfinden können, die Veranstalter wären dort mit dem Vorhaben eventuell sehr alleine gewesen.

Dieser Diskussionsteil endete mit dem Satz: “Hamburg liegt an der Elbe, Magdeburg auch, da enden dann schon die Gemeinsamkeiten.

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Bei dieser Sache mit den Vorsätzen für 2019 wurde mir u.a. vorgeschlagen, ich solle mehr rausgehen, nicht nur aus der Komfortzone, sondern auch sonst. Ich solle mich auch mal um andere Themen und Menschen kümmern, so in der Richtung. Das läuft an. Der Terminkalender füllt sich und ich will sehen, wie mir das mit den Berichten gelingen kann. Ich mache das jedenfalls gerne, wollte ich sagen, und ich danke noch einmal für all die Vorschläge.

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Noch etwas Musik. Josh Rouse mit Julie.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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11 Kommentare

  1. Bei der Überschrift fiel mir spontan eine Geschichte ein: Vor Jahren arbeitete ich ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge in Magdeburg. In einer der langen Nächte rief ein Mann aus Hamburg an, den die Trauer um seinen unerklärlich verschwundenen Sohn nicht schlafen ließ. Nach einigen eher hilflosen Trostversuchen von mir schien ihm die Tatsache, dass wir beide in dieser Nacht am gleichen Strom wachten, so etwas wie Zuversicht zu geben…

  2. Ich habe den Artikel zum „Bullenhuser Damm“ nun gelesen. Mir ist übel.

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    “Hamburg liegt an der Elbe, Magdeburg auch, da enden dann schon die Gemeinsamkeiten.”

    Mich macht dieser Graben rasend, der da offenbar durch die Gesellschaft geht – nämlich zwischen den Menschen mit der richtigen Meinung und denen mit der falschen.

    Wenn wir in unserer Blase bleiben:“Das sind doch alles Idioten, mit denen kann man nicht sinnvoll reden!“ (und ich nehme mich da gar nicht aus!) dann ist das selbstgerecht.

    Das macht mir Angst.

    Keiner von denen ist schließlich morgens aufgewacht und hatte plötzlich braune Kacke im Gehirn. Das soll keine Entschuldigung sein und Verstehen ist nicht dasselbe wie Verständnis zu haben.

    Das wir im Gespräch bleiben – oder womöglich überhaupt erst mal da hinein kommen müssen? – heißt ja nicht, von unserer Position abzugehen.

    Die eigene für die absolute Wahrheit zu halten ist auch anmaßend. In Betracht zu ziehen, dass sie relativ ist, muss ja nicht bedeuten, außer acht zu lassen, was richtig ist.

    Ich stelle fest, dass ich soeben sehr vorsichtig formuliere. Damit bloß keiner denkt, ich habe eine „Ja, aber … „-Position.

    Ganz schön vertrackt!

  3. Auch mich macht der „Graben“, der mit Aussagen wie „Da enden schon die Gemeinsamkeiten“ noch richtig vertieft wird, rasend. Glaubt denn wirklich jemand, dass in Magedeburg (oder wo immer in den östlichen Landesteilen, wobei in Bayern eine MILLION AfD gewählt hat, vergessen?) 100% Neu-Alt-Nazis leben? Weiß jemand, wie das ist, wenn nach Himmelsrichtung Gesinnungen zugeschrieben werden? Merkt man denn nach 30 Jahren immer noch nicht, was dann passiert? Das schmälert nichts andere Fakten, Aussagen und Feststellungen, aber hier würde sich das intensive Nachdenken lohnen. Wenigstens jetzt! Es macht mich rasend, tut mir leid und es kränkt mich zutiefst, obwohl ich nicht in Magedburg wohne! Und ich versuche trotzdem sehr vorsichtig zu formulieren, genau wie Alexandra.

  4. Es ist ja nicht nur die Tatsache, dass „nach Himmelsrichtungen Gesinnungen zugeschrieben werden“ – DAS ist eher nur das „i-Tüpfelchen“.

    Viel gravierender ist, dass „die“ auf der anderen Seite des tatsächlich nach Denkweisen („Gesinnung“ ist auch noch so ein weiter und tiefer trennenden Wort – meine ich) separierenden Grabens angewiedert und nur aus der Ferne angeguckt werden, als seien sie befallen von einer hoch ansteckenden Krankheit.

    Egal, wo sie wohnen und welche Gemeinsamkeiten neben denen geographischer oder historischer Natur wir „ihnen“ noch zuschreiben.

    Auf diese vermeintlich Aussätzigen zugehen und sie respektieren in wertschätzendem, interessiertem Gespräch (und sie sind überall unter uns) – das ist übrigens, was für mich ein „aus der Komfortzone rausgehen“ heißt; völlig egal, wie donquichottig sich das anfühlt. Alles andere ist in meinen Augen auch selbstgefällig – wovon ich mich mal wieder nicht ausnehme, indeed.

    Mit „denen“ (auch so ein grabenvertiefendes Wort) reden. Einfach mal akzeptieren , dass das einzelne Gespräch nicht sofort ultimativ bekehren soll.

    Ergebnisoffen im Gespräch sein und darauf vertrauen, dass es, oft genug und von genug Menschen praktiziert, über eine Änderung der Energien schon laufen wird, irgendwie. Irgendwas bleibt nämlich immer hängen und wirkt vor sich hin.

    Es kann nur über die Köpfe funktionieren, Vorurteile haben noch nie zu Annäherung beigetragen und Entfremdung sorgt für Zuspitzung.

    Sorry, dass es so lang geworden ist – ich bin gerade erst aufgewacht und habe jetzt keine Zeit, es zu kürzen.

  5. Wenn das gerade Thema in der Schule ist, würde ich dem Sohn die Percy Jackson-Bücher empfehlen, die griechischen Götter-ururururenkel im modernen Amerika. Schräg, skurril aber mega-spannend. Geht dann auch mit römischen und nordischen Göttern weiter… Gute Unterhaltung, ein wenig gruselig, mein Sohn hat sie geliebt.

  6. Ich empfehle Orpheus im Thalia Theater. Musikalische Bastardkomödie als Ratespiel. Wer ist Wer oder so :)- sehr sehenswert und das man alle Götter kennt iswt hilfreich.

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