Der Groove

Ich klicke routiniert, allzu routiniert und eher nebenbei bei den Impfterminen vorbei, um meiner Mutter einen solchen zu sichern. Nach einer Trillion sinnlosen Versuchen in den letzten Wochen sind auf einmal tatsächlich welche verfügbar, fast hätte ich sie wieder weggeklickt, weil ich schon nicht mehr mit ihnen gerechnet habe. Ich fülle die Kontaktdaten aus, ich will sichern, da ist der Termin weg, nicht mehr frei. Sie verschwinden, während man nach ihnen greift, das nennt man dann wohl bewegliche Ziele, Termine wie Seifenblasen. Oder man nennt es Digitalisierungsrückstand, denn wie schlecht ist das denn? Ich game mich auf diese Art hektisch durch zehn oder mehr verpuffende Terminmöglichkeiten, es klappt dann irgendwann noch, doch ich bin ziemlich sicher – meine Mutter hätte das nicht hinbekommen. Das ist schon alles ziemlich schlecht gemacht, da gibt es nichts. Siehe hierzu auch Lernplattformen, aber darüber schreibe ich nichts mehr, ich soll mich nicht aufregen.

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Mir ist das Lesen wieder komplett abhandengekommen, ich finde alles uninteressant. Ich nehme nicht an, dass es an den Büchern liegt, das Problem bin ich selbst. Ich lege das Buch weg, Hundert Jahre Einsamkeit, ich weiß nicht, was mir das sagen soll, was geht mich das an, warum ist das eigentlich so bekannt, keine Ahnung, alle verrückt. Das ist kein gültiges Urteil, ich weiß das.

Ich suche lieber Musik, ich klicke mich den ganzen Tag und den ganzen Abend wie ein Irrer durch Playlists. Ich spiele an, ich verschiebe in andere Playlists, ich überspringe, ich suche. Ich habe keine Ahnung, was ich genau suche, ich suche einen Groove. Irgendwas zwischen Funk und Groove und Jazzrap und Instrumental Hiphop, ich weiß im Grunde doch, was ich suche, ich weiß aber nicht, ob es das gibt. Treibend, aber dabei ruhig, nicht dumpf, aber doch dunkel, mit wenigen Lyrics, die mich bitte nicht interessieren müssen, raffiniert, aber nicht intellektuell, auf jeden Fall urban, aber nicht zu coffeehousemäßig, es ist wirklich kompliziert. Wenn ich diesen Sound jedenfalls finden würde, dann! Dann wäre ich auch kein Stück weiter, aber egal. Ich klickte beim Streaming so vor mich hin, und nichts zu finden, das war mein Sinn.

Aber wie überzeugend ich mir stundenlang vorgaukele, dass diese Suche wichtig sei, das ist schon faszinierend.

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Ich durchschaue mich in bescheidener Weisheit selbst, ich erkenne immerhin, dass das nur eine Übersprungshandlung ist. Es ist die Vermeidung der großen Leere. Ich beschließe, die Leere auszuhalten. Weg mit all den Suchtmitteln, die Bücher weg, die Musik weg, die Schokolade weg, die Nüsschen weg.

Ich setze mich entschlossen aufs Sofa, ich bin einfach nur, so geht das auch. Ich sitze und atme tief, ich schlafe sofort ein. Das ist nämlich die Wahrheit, denke ich mir danach, also nach dem extended Nickerchen, im Grunde ist diese unfassbare Müdigkeit die einzige Wahrheit im Moment und den Groove suche ich nur noch, um mich nach seinem Rhythmus durch den Tag zu treiben wie einen lahmen Gaul, der schon lange nicht mehr will.

Egal. Ich nenne die neue Playlist Jazzraphopgroove, ich weiß es doch auch nicht.

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12 Kommentare

  1. Hallo Herr Buddenbohm,
    seit Jahren lese ich schon still, mit Freude und mit Bewunderung mit. Sie können sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wieviel Sie Leuten wie mir mit Ihrem Blog gegeben haben. Diesen Kommentar schreibe ich, um Ihnen zu sagen, wie sehr Sie mir mit Ihren aktuell in Pandemiezeiten gerade das Herz erfreuen. Ist so. 1000x Danke dafür!

  2. Ach, Herr Buddenbohm, ich versteh Sie gerade so gut! Aber das alles so gut in Worte fassen zu können ist immer wieder eine Kunst. Danke dafür!

  3. genau so. Lesen ist anstrengend, ich kann eine Weile noch Häppchen lesen, so ganz kurze Sachen von höchstens 3 Seiten, Lexika sind toll.

    Der Groove: ich empfehle mal DJ Krush aus den 90ern, Instrumental Hip Hop, hier seit damals Favorit.

  4. Vielleicht sind auch Tom Caruana – Adaptatrap, Shitao – Aleph, Maple Syrup – Barca, SoulChief. – Gaussamer, Phanm Slug – Shadow Science, The French Touch Connection – Soul Machinist oder Lidly – Omega einen Versuch wert.

    Mit Lyrics mglw. Sonnyjim x Must Volkoff – Tailor Must Ostrich, Professor Elemental – Apequest (School Of Whimsey ist noch besser, dürfte aber gerade zu fröhlich sein) oder das herrlich beknackte DangerDoom – DangerDoom bzw. ernsthafter Madvillain – Madvillaney. Und bei besserer Laune alles von my best friend jippy.

    Und ansonsten ist der frühe DJ Krush eine super Empfehlung(, der späte DJ Krush hat etwas überraschend auf House umgesattelt.)

  5. Ein Album fiel mir noch ein, das auf viele der Anforderungen passen könnte: Kruder & Dorfmeister – The K&D Sessions. (Mein Unterbewusstsein arbeitet da jetzt dran, ich kann wenig dagegen tun… 😉 )

  6. Oh… und David Holmes – Let’s get killed könnte vom Soul- und Funk-Faktor und der nicht zu fröhlichen, aber treibenden Musik passen. (Wenn’s nervt, bitte Bescheid sagen, dann höre ich auf.)

  7. Ja, Kruder & Dorfmeister.
    The whitest boy alive.
    Manu Chao – Clandestine.
    Kings of convenience – Versus.

    Und als Einzelsong: George Michael – Fastlove.

    Ich habe jetzt erst entdeckt, dass ich mich wegen Last Christmas nie mit dem Werk von George MIchael auseinandergesetzt habe. Das könnte ein Irrtum gewesen sein.

  8. @hafensonne
    George Michael auf Last Christmas zu begrenzen ist ja wirklich sträflich! In meinem CD Regal (die Älteren erinnern sich) steht `Listen without prejudice`, wird regelmäßig gehört und da -lastchristmases- es nicht ein bisschen.
    Ach, Herr Buddenbohm `Hundert Jahre Einsamkeit` ist vielleicht, eventuell, ein wenig kontraproduktiv #inderaktuellensituatin, allein wegen dem Titel!
    Als Musik hilft hier gerade alles von Calexico sehr, alles wo schrammelige Gitarren vorkommen und, ich wage es kaum zu sagen, Klassik in jeder Form. Was bei mir konkret rbb-klassik ist, aber der hohe Norden sollte so was ja auch im öffentlich-rechtlichen Radio haben.
    Schönes Wochenende!

  9. @Frau irgendwas ist immer

    Danke für den Hinweis, Album ist bereits geordert, vermutlich werden bei der Frau die Augen rollen (sie erträgt schon sehr tapfer das Retro Radio Millenium).

    @Herr Buddenbohm: Neuerdings muss man hier ja mathematische Operationen bewältigen, um kommentieren zu können. Folge des Homeschoolings?

  10. Mal nicht zur Musik: erstaunlicherweise höre ich von allen, die online versuchten einen Termin für die Eltern zu ergattern, dem Wahnsinn nahe waren. Meine 88-jährige Mutter hat einfach angerufen (Auch wenn sie selbst davor Angst hatte.) um dann gut gelaunt zu berichten, dass der Herr am Telefon soo nett war und alles ganz einfach war.

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