Ohne Wuchs, ohne Weg

Ich liege im Strandkorb und lese (Felix Hartlaub, Kriegsaufzeichnungen aus Paris). Zwischendurch sehe ich hoch und auf eine Eberesche, die sich attraktiv im Wind wiegt. Nachdem ich sie eine Weile angesehen habe, kommen mir allmählich Zweifel. Ist das wirklich eine Eberesche, was weiß ich eigentlich über Ebereschen, passt das. Warum denke ich eigentlich das Wort bei dem Baum, wo ist der Bezug, was macht mein Hirn da genau. Eine Frage, die man sich sowieso öfter stellen sollte. Vogelbeeren. Schmalblättrig. Schmalwüchsig, das war ich auch einmal. Es ist eine Weile her.

In der Schule, es fällt mir beim Betrachten des Baumes ein, hat ein Biolehrer immer wieder „Eiche, Espe, Esche, Linde, Ulme“ gesagt. Siebte Klasse Gymnasium etwa. Das seien die Bäume im deutschen Urwald gewesen, und nur die, sagte er, mit Ausrufezeichen. Alle anderen – Zugezogene. Neophyten. Eiche, Espe, Esche, Linde, Ulme, die waren hier, die sind echt. Noch einmal. Nachsprechen. Im Chor, wenn ich bitten darf. Dann die Träumer einzeln aufrufen, wie hießen die Bäume? Die fünf Bäume, über die wir hier die ganze Zeit parlieren? Sie sind wohl nur körperlich anwesend? Diese schwer zu beschreibende Erleichterung, wenn man nicht aufgerufen wurde. Dabei hätte ich die sogar gewusst, die Bäume. Das war der Lehrer, der in den Pausen, in denen er Innenaufsicht hatte, durch die alten Gänge strich, die Hände auf dem Rücken, an allen Missetaten der Schülerschaft entschlossen vorbeisehend und dabei mit beeindruckender Bassstimme „Es stand ein Soldat am Wolgastrand“ singend. Es hallte da so schön, zwischen den Backsteinmauern. Ich erwähne es alle paar Jahr einmal, das war in der Schule, in der auch die Schulszenen der Thomas Mannschen Buddenbrooks spielen, und die Ähnlichkeiten der Erlebnisse sind trotz der Jahrzehnte zwischen der Zeit von Hanno Buddenbrook und mir nicht von der Hand zu weisen. Der Bruch kam erst nach mir. Erst meine Kinder erleben in einer anderen Stadt eine im Grundsatz andere Schulzeit, wobei ich selbst da noch die Spuren leicht, allzu leicht zurückverfolgen kann. Aber ich, soviel steht für mich fest, war schulisch gesehen näher am 19. Jahrhundert als an der Gegenwart, und zwar bedeutend näher. Das können viele Menschen meiner Generation so bestätigen, das ist keine Einzelerfahrung. Meinen Söhnen kann ich das kaum erklären, wie es war. Es ist viel zu weit weg für sie, es war Opa erzählt vom Krieg, es war damals in den Ardennen.

Eiche, Espe, Esche, Linde, Ulme jedenfalls. Auch für Sie, junger Mann! In der nächsten Stunde dann unweigerlich: Welche Bäume standen im deutschen Urwald, sagen Sie mal schnell, das haben wir ja unlängst hinlänglich besprochen? Das war ihm nämlich wichtig, dem Herrn Doktor Lehrer, dass mit dem deutschen Urwald. Sonst nichts behalten von ihm, außer dass der ihm nachfolgende Lehrer im nächsten Halbjahr Rodewald hieß. Und es fällt mir erst jetzt auf, dass der Name eine Pointe war, zig Jahre später fällt es mir auf. Ob das mit den Bäumen im deutschen Urwald aber überhaupt stimmte – keine Ahnung. Vermutlich wurde das längst widerlegt, wie alles.

Die Ulme könnte ich heute noch am Laub erkennen. Ich weiß, wie es sich von dem ähnlichen Laub der Buche unterscheidet, die allerdings im deutschen Urwald gar nicht vorkam, wie wir gelernt haben. Es gibt hier keine Ulmen mehr, das ist alles nutzloses Wissen. Das haben wir damals nicht gelernt, dass die Ulmen gerade pilzbedingt alle wegstarben. Das war zu einer Zeit, als Umwelt noch Gegend hieß und reichlich vorhanden war, da fiel eine Art weniger noch überhaupt nicht auf.

Felix Hartlaub übrigens (der hier) macht etwas, das mich interessiert, der macht Urban Sketching in Schriftform. Steht also irgendwo in Paris und beschreibt, was er sieht. Es ist eine Übung, es ist ein Journal, es ist Literatur. Da ist eine Kirche, wie sieht die Kirche aus? Schwer ist das. Ob nun mit Worten oder mit dem Zeichenstift, immer die unendliche Faszination, dass da gerade ein Bild entsteht. Ein Bild, das zum Gesehenen passt oder nicht, wer will das wissen oder messen. Ein Bild, ein Bild.

Zeichnungen von ihm sind da auch drin. Hingeworfene Zeichnungen, unvollendet, skizzenhaft. Die sehe ich mir lange an.

„Blick aus dem Hotelfenster: Der Himmel unerreichbar weit weg, ein verschleierter behauchter Opal, bedeckt oder lose übersponnen. Im Westen, wo man nur mit verdrehtem Hals und an die Scheibe gepresstem Gesicht hinsehen kann, ein feuervergoldetes Rot, das sich von Minute zu Minute verstärkt. Ganz weit weg im Süden treten breithingelagerte Tafelgebirge hervor, beginnen gedämpft zu glühen. Windstille über den Dächern, doch die Wolkenzone ist noch durcheinandergerührt. Ein wenig Kaminhauch hängt kraftlos im Luftraum, ohne Wuchs, ohne Weg ins Alloffene. Die Dächer eines weitläufigen alten Hotels mit mehreren Höfen, niederen Anbauten. Teils mit Zink belegt, der in regelmässigen Abständen dicke weissliche Wülste-Rippen vorantreibt. Oder matter grauer Schiefer ohne jeden Reflex des Sonnenuntergangs“

(Felix Hartlaub, Dächer – Quartier Saint Germain)

Das ist was, das mit dem Kaminhauch, nicht wahr, haben Sie es gemerkt. Ohne Wuchs, ohne Weg ins Alloffene. Da braucht man an dem Tag kein Gedicht mehr zu lesen, da kann man gleich sagen: Danke, ich hatte schon. So eine schöne Stelle.

Ulmen kommen bei Felix Hartlaub nicht vor, aber die Pariser Platanen natürlich. Mit ihren unendlichen Schattierungen von Schwarz und Gelb, mit ihrer Rindenstruktur, die nach Versteinerungen aussieht. Platanen kann ich auch erkennen. Immerhin.

Ich könnte passagenlang den Hartlaub zitieren, merke ich gerade. Aber egal, die Sonne sinkt im Buch, ganz tief das rote Licht über den abendlichen Dächern. Schluss damit also:

„Sogar auf den Grund der Straße ergiesst sich eine Bronzezunge. Ein Abbé, der sie gerade durchquert, hat goldene Schuhe.“

Felix Hartlaub, meine Damen und Herren, Da ruhig einmal hineinsehen.

An einem der letzten Kriegstage 45 ist er in Berlin spurlos verschollen.

Und manchmal dann so Zufälle – ich schlage das nächste Buch auf. Georg Hermann, November Achtzehn. Georg Hermann ist nicht verschollen, er wurde in Auschwitz umgebracht. Und dieser Roman von ihm geht so los: „Man muss feststellen, daß die Ulmen am Wasser auch keine Blätter mehr hatten. Das heißt, das stimmt nicht ganz. Sie hatten schon noch Blätter. Jeder Ast so drei bis fünf. Jeder hohe Baum mindestens vierzig bis sechzig. Aber sie waren eben von einem toten Grün und verschrumpelt schon. Oder sie waren braun und zitterten da hoch oben an den dünnen Zweigspitzen über dem Wasser, wie Kinder auf dem Turmbrett in der Badeanstalt, die sich fürchten ins Nasse, Kalte hinunterzuspringen.“

***

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Ein Kommentar

  1. Es dürfte ja ohnehin klar sein, dass es _den_ „deutschen Urwald“ nie gegeben hat. Auf dem Gebiet des heutigen Deutschland gab es nach der letzten Eiszeit anhand der Pollenbefunde zunächst so etwas wie eine Tundra …aus Haselnuss und Birken. Der „typische“ Laubmischwald in Mitteleuropa ist je nach Standort durch unterschiedliche „Charakterarten“ geprägt …und benannt. Die Ulme, die Espe etc findet sich da schon mal nicht 🙂
    Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Waldgesellschaften_Mitteleuropas#Buchenmischw%C3%A4lder,_Fagetalia

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