Sein Leben lang nur ein Wort rufen

Wir versuchen am Morgen, per App den Regenradar zu checken, das klappt nicht recht. Kein Netz, obwohl es die letzten Tage doch erstaunlich gut ging, also für nordfriesische Verhältnisse. Es geht nur dann nicht, wenn man es braucht. Die Regenradarlandkarte auf dem Handy ist nur ein pixeliges Rechteck, in dem ein gelber Punkt blinkt, das ist vielleicht unser Standort. Die Karte ist nicht zu erkennen, es könnte jedes Land der Welt sein, am ehesten wohl eines mit viel Wüste, so gleichmäßig beige wie das alles aussieht. Unten ist etwas Schwarzblaues, das wird das Unwetter sein, von dem in den sozialen Medien alle reden, aber das bewegt sich nicht, das hängt für immer fest im Süden der Karte, im Regenland. Vermutlich da, wo Hamburg in etwa ist. Egal, wir sehen einfach zum echten Himmel.

Ein lichtes Blaugrau, hier und da an den Rändern wurde es etwas nachschattiert. In der Mitte des Bildes heller und heller werdend, kurz vor Sonnenschein sogar, aber so bleibt es dann lange und ändert sich nicht weiter. Das Dunkelgrau kommt näher oder auch nicht, wer hat Zeit und Lust, solange nach oben zu sehen und woher weht hier eigentlich der Wind. Ich hätte Lust dazu, denke ich, aber die Herzdame möchte Bewegung und die Herzdame hat immer Recht und wir fahren also zum Deich und gehen spazieren.

Ebbe. Irgendwo dahinten, wo das Grau sacht in ein etwas anderes Grau übergeht, Nuancen für Langehingucker, die Nordsee. Noch weiter weg einige Inselumrisse, Ahnungen sind das nur, hingetupft. Davor Salzwiesen und Schafe, überaus gutgelaunte Lämmer. Denen fällt plötzlich ein, dass sie Hunger haben, ein alarmiertes Mäh, durchdringend und etwas panisch, sie könnten in wenigen Minuten schon verhungert sein. Ein routiniert und tiefruhig antwortendes Mutterschaf, das guckt nicht einmal hoch dabei und grast gelassen weiter. Und dann das Lamm im gestreckten Galopp, es rast zur Mutter und dotzt gegen sie als würde man zwei außerordentlich gemütliche Kissen gegeneinanderschlagen, es prallt wollig und gut abgefedert ab, es knickt vorne kurz ein, rappelt sich wieder hoch und sucht hektisch die Zitze, es trinkt und trinkt und trinkt, was war das wieder knapp.

Einzelne Regentropfen, dann ein paar mehr, gerade genug, dass alles aufduftet. Das Heu auf den Weiden ringsum, die Schafkacke, die Wolle, der Schlick, das Kraut am Wegesrand und das Meer und es ist eine Luft, dass man immer sagen muss, was das für eine Luft ist, so eine Luft ist das, und man steht da und atmet und atmet, als würde man das sonst nicht tun. Geht weiter wie seelisch weichgespült. Wir gehen parallel zum Horizont hin und her und sagen nichts und atmen nur, und als wir wieder ins Auto steigen, sind es exakt 10.000 Schritte, keiner mehr oder weniger. Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.

Zurück auf dem Hof spielen zwei Mädchen über die Wäscheleine hinweg ungelenk Federball. Nie spielt man Federball, nur im Urlaub denkt man auf einmal, ach, lass doch mal Federball spielen. Und dann geht das gar nicht, die beiden lachen und machen dermaßen tapsige Ausfallschritte, dass einem schon vom Zusehen die Knie wehtun.

Ein Kuckuck ruft, wie lange habe ich das nicht mehr gehört. Etliche Jahre ist es her. Lange ruft er. Sein Leben lang nur ein Wort rufen, das ist auch so ein Schicksal. Aber als Autor hat man am Ende auch nur eine einzige Botschaft, wer weiß. Zwei Austernfischer streiten sich lärmend zwischen den Pferden, die irritiert zu ihnen hinsehen und dann doch lieber weitergrasen. Schwalben geben im Vorbeijagen große Mengen Text in atemloser Geschwindigkeit von sich, hoch oben auf dem Dach noch die Amsel. Und das da im Gras, wenn das mal kein Kiebitz ist. Kann das ein Kiebitz sein? Das kann ein Kiebitz sein.

Ich sitze am Nachmittag in einem Wintergarten mit Glasdach, der Regen nimmt jetzt doch etwas zu. Der Mann am Schlagzeug spielt den Regen heute wieder mit einer Dezenz und einem solchen Fingerspitzengefühl, es ist unglaublich und man möchte dringend einen Drink dazu, bei dem etwas im Glas klirrt. Ich trinke so etwas gar nicht, aber jetzt würde ich. Die Herzdame sitzt seltsam eingekringelt draußen in einem Strandkorb, dass kein Tropfen sie an keinem Körperteil erwischen kann. Sie hat die Beine auf eine Art gebogen, dass es schon sportlich aussieht. Sie liest ein Buch über Agiles Arbeiten, das passt schon.

Lucia Berlin erzählt, so lese ich bei ihr, dass eine ihrer Ehemänner sie angewiesen hat, mit dem Gesicht nach unten im Kissen zu schlafen, um ihre Stupsnase zu korrigieren, ihren größten Makel, so hat er tatsächlich gesagt. Er war Künstler, er meinte sicher, einen Bick für menschliche Makel zu haben. In dem Buch sind Bilder von ihr, ich finde sie darauf ganz außerordentlich gutaussehend. Ich habe abstehende Ohren und schlafe seit Jahrzehnten darauf, das nützt nämlich gar nichts, das mit dem Kissen, denke ich. Die Ehe hatte dann auch keinen Bestand, also die von Lucia Berlin.

Lucia Berlin erzählt auch von dem Mann, der eine einsame Hütte in den Bergen bewohnte und sich die Wände darin zum Winteranfang mit Zeitungspapier tapeziert hat, mit dem Papier aus unsortierten Zeitungen. Wenn ihm langweilig war, hat er Teile der Wand gelesen, und wenn die Stelle, die er da las, der Anfang eines Artikels war, dann hat er sich das passende Ende dazu ausgedacht, und wenn es das Ende war, den passenden Anfang. Auf diese Art haben die Zeitungen länger gehalten. Das ist eine schöne Geschichte, auch wenn sie vermutlich noch nie jemand geglaubt hat. Zu schön, um sie nicht zu erzählen.

Ich habe als Kind manchmal Bücher beim Lesen über Kopf gehalten, dann hielten sich auch länger. Die Bücherei bei uns um die Ecke war nicht eben groß, der Vorrat kam mir gefährlich endlich vor.

Wir sitzen und lesen, es regnet, es regnet nicht. Wind kommt auf und duftet und tut gut und streichelt und ebbt wieder ab. Blätterrauschen und hinten die Kühe, ab und zu muht eine. Das klingt etwas gelangweilt und vielleicht so, als müsse man eben ab und zu mal muhen.

Gelegentlich kommt ein erwachsener Mensch aus einer der Ferienwohnungen, geht mit suchendem Blick über den Hof, hört in den Wind, wo die Kinder gerade spielen oder reden oder was auch immer machen. Ruft etwas von Essen oder vom Duschen oder vom Zähneputzen, ruft etwas vom richtigen Leben, geht dann kopfschüttelnd und abwinkend wieder rein.

Die Herzdame liest, ich lese, ich schreibe. Zwischen uns ein Hund, der für diese Woche beschlossen hat, dass es zwischen uns beiden entspannt und richtig ist. Er streckt sich im Schlaf und stöhnt etwas. Er sieht sehr gemütlich aus, ich kann ihn streicheln und ich muss mich nicht um ihn kümmern. Es ist ein idealer Hund.

Es ist ein idealer Tag.

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2 Kommentare

  1. Ich weiß, ich wiederhole mich.

    Sei’s drum.

    Danke fürs „Herr-Buddenbohm-Sein“.

  2. In diesen so feinen Beobachtungen, diese launig eingestreuten Ableitungen…so wunderbar grossartig. Chapeau!

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