Bilder. Auch wichtig.

Am Straßenrand hat jemand am Abend einen Stapel Spiele abgestellt. Da wurde wieder ein Kinderzimmer ausgemistet oder eine ganze Kindheit beendet, eine Phase vielleicht nur, wer weiß. Am nächsten Morgen sind die meisten Spiel schon weg, haben vielleicht dankbare Abnehmer gefunden, im besten Fall sogar begeisterte Kinder. Nur ein Puzzle liegt da noch, das hat jemand auf dem Boden verstreut. Vielleicht war es keine böse Absicht, auch mal positiv denken. Vielleicht hat jemand nur versehentlich dagegengetreten. Oder es war ein schnüffelnder Hund, der den Karton mit der Nase geöffnet hat. Die bunten Pappteilchen weichen in Pfützen auf, dieses Puzzle setzt niemand mehr zusammen. Etwas weiter steht eine dieser schwarzen Tafeln, in die man weiße Plastikbuchstaben stecken kann, die meisten sind schon abgefallen. Man erkennt aber noch: Missu, love, wish here. Diese Satzfetzen wurden auch irgendwo nicht mehr gebraucht oder gemocht. Für das melodramatische Ende von Kurzgeschichten wären die eher nicht brauchbar, die kleinen Restbuchstaben und die verstreuten Puzzleteilchen, aber hier am Straßenrand an einem regnerischen, diesigen Hamburger Morgen, da machen sie sich ganz gut.

Das Wetter hat sich geändert, es ist nicht mehr kalt, es ist jetzt nasskalt. Der Großteil der Familie bezweifelt ernsthaft, dass man bei diesem Wetter rausgehen kann. Nur ich gehe raus, ich lebe wild und gefährlich. Die Weihnachtsmärkte in der Innenstadt sind verschwunden, eine letzte große Tanne steht noch kugelgeschmückt in der Fußgängerzone. Vor den Blumenläden stehen palettenweise kleine Töpfchen mit Klee. Plastikschweinchen oder Schornsteinfegerfiguren stecken darin, manchmal auch die Jahreszahl 2022. Die Stadt ist bestenfalls mäßig voll, die Läden sind eher leer, es gibt kaum Schlangen vor den Türen. Ein Tourist fragt mich vor dem Rathaus nach dem nächsten Haltepunkt der Doppeldeckerbusse, mit denen man hier Stadtrundfahrten machen kann. Was nützt denn heute eine Stadtrundfahrt, denke ich, die Stadt sieht doch überall gleich grau und trist und hässlich aus.

Die Herzdame backt währenddessen zuhause einen Limettenkuchen. Ich sage später beim Kaffee immer wieder „Das ist ein verdammt guter Kuchen“, in der Betonung von Dale Cooper, und ich meine es so ehrlich wie er damals.

Am Nachmittag hänge ich ein neues Bild von Gerd Brunzema auf, den Herrn hatte ich neulich schon hier im Blog erwähnt. Affordable Art, da gibt es doch auch eine Messe oder so etwas. Oder gab es damals, als es noch Messen gab, was weiß ich. Die Herzdame hat in der letzten Woche viele Bilder an unsere Wände gehängt und damit unseren wohnungsinternen Umzug endlich beendet. Vielleicht schreibt sie darüber noch etwas, bei Instagram hat sie bereits Bilder gepostet. Wir schaffen es damit in kein Wohnmagazin, aber wir sind so weit bemüht. Ich habe dabei gemerkt, dass ich gerne mehr Kunstwerke hätte, zu denen es einen besonderen Bezug gibt. Da mal dran arbeiten.

Wir haben ein ganz kleines Bild von Katja Kelm, wir haben eines von Friederike von Criegern, eines von Rasmus Hirthe, von Menschen, die wir kennen. Ein Kiki Thaerigen fehlt noch, ich bestelle gleich mal die Bärenbibliothek, die passt sicher sehr gut neben das Regal. Zack, erledigt. Jahrelang ignoriert man leere Wände, eines Morgens aber wacht man auf und denkt: „Bilder. Auch wichtig.“ Es ist doch seltsam, wie es so in einem zugeht.

Ich sehe am Abend mit der Herzdame und einem Sohn eine französische Corona-Komödie auf Netflix. Ich finde sie schlecht, sie hat aber immerhin ein paar zuverlässige slapstickhafte Lacher und auch bekannte Menschen im Ensemble, die ich aus anderen Filmen kenne und gerne wiedersehe, man muss auch nicht immer hohe Ansprüche haben. Ich habe schon lange nicht mehr bei einem Film gelacht, fällt mir auf. Und ich finde es interessant, wie die Coronazeit in Filmen ankommt. Es ist der erste Film zu dem Thema, den ich sehe, glaube ich. Also der erste erzählende Film, dokumentarisch gab es schon mehrere, auch gute. Flache Maskenwitze gibt es selbstverständlich in dieser Komödie, banale Scherze über den Mindestabstand, die werden sicher auch einmal gut im Theater wirken. Scherze über hysterische oder auch allzu nachlässsige Vorsichtsmaßnahmen, über ausbleibende oder stattfindende Solidarität, über das Home-Office und die Home-School, über die Videocalls und über verbotene Grill-Partys im Innenhof. Das ist also das, was bleibt, das wird dann allmählich zur Pandemie-Folklore. Das Klatschen vom Balkon, die Ausgangssperren, die Lücken im Supermarktregal. Ein kitschiges Ende hat der Film, in etwa auf dem Niveau von Puzzleteilchen im Regen vielleicht. Es gibt eine moralische Botschaft und einen Dank an alle, die sich eingesetzt haben. Na gut, dagegen ist nichts einzuwenden. Hier eine Rezension, sie endet betont versöhnlich, und warum auch nicht. Alles versöhnlich beenden, die Texte, die Tage, das Jahr.

Ich habe bisher noch keinen Roman mit Coronabezug gelesen, auch keine Kurzgeschichte und kein Gedicht. Sicher sind längst welche in Arbeit, im Druck, vielleicht sogar schon im Handel erhältlich und ich weiß es nur nicht. Die Musiker waren im Jahr 2020 die schnellsten. Songs zur Pandemie gab es zuerst, im Sommer schon. So wie den hier, musikalisch gefällig, lyrisch eher noch ausbaufähig:

„Paper masks hide our faces
But the love in our eyes remains.“

Na ja, sagte er und guckte streng. Übrigens haben wir gerade gemerkt, dass Sohn II eine einzelne Augenbraue heben und dabei so spockmäßig kritisch gucken kann. Nur er kann das, niemand sonst hier, deswegen muss er das jetzt dauernd machen, weil wir das so toll finden. Eine Begabung, jemand von uns hat eine Begabung.

Kann ich das bloggen, frage ich ihn. Er hebt eine Augenbraue.

***

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6 Kommentare

  1. Ach, die einzelne Augenbraue heben – sehr cool. Mein Mann kan das auch, ebenso sein Halbbruder. Und bei Insta habe ich ein Foto von Alexander Klaws gesehen, der kann das auch. Der ist ja halbwegs Schauspieler und ich habe mich gefragt, ob man das trainieren kann.

  2. Juli Zeh, Über Menschen – spielt im Jahre 2020 und Corona ist ein Thema. Auch wenn viele Rezensionen „verhalten“ sind: empfehlenswert – wenn man den Stil der Autorin mag.

  3. Juli Zeh – über Menschen
    Hat Frau Zeh scheinbar in Windeseile
    geschrieben, Corona ist von Beginn an Thema und wird mit ganz klugem Blick verwendet im Roman…

  4. Ich habe vor Juli Zeh noch „Im Grunde gut“ von Rutger Bregman gelesen. Passte beides wunderbar zusammen und in diese Zeit.

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