Notizen aus dem Hotspot

Nach wir vor ist das Warten auf die erste Infektion in der Familie ein seltsam blödes Gefühl, es wird immer unplausibler, dass es hier noch keiner hatte. Also wir wollen es auch nicht haben, versteht sich, aber es ist so dermaßen unwahrscheinlich, dauerhaft daran vorbeizukommen … Man hat es dann nicht abgehakt, schon klar. Ich habe mittlerweile Fälle von Drittinfektionen im Umfeld, bei einigen scheinen regelrechte Abos zu laufen. Ich sollte vielleicht direkt nach diesen Zeilen einen Test machen, auch dem Leben einmal die Pointe zubilligen.

Hamburg ist jetzt ein Hotspot, die Regeln gelten weiter. Viele Regeln jedenfalls, wohl mehr als bei Ihnen, wenn Sie in einem anderen Bundesland wohnen. An den Hamburger Schulen gibt es an den Plätzen ab nächste Woche nur keine Maskenpflicht mehr, lediglich auf den Fluren bleibt sie bestehen. Im Bundestag, so lese ich, beschließen sie dagegen die Fortführung der Maskenpflicht. Vermutlich müssen Bundestagsabgeordnete dringender geschützt werden als Kinder, was weiß ich. „Die Sinnfrage stellt sich nicht“, ich muss immer wieder den Kollegen zitieren, der nach diesem Satz stoisch weiterarbeitete, es ist lange her und blieb mir doch so nachhaltig im Gedächtnis.

Beim Musikunterricht, das hatte ich im Blog noch nicht erwähnt, glaube ich, wurde von der Schulbehörde gebeten, dass alle in die gleiche Richtung musizieren, ich scherze nicht. Wenn man in die gleiche Richtung musiziert, dann kreisen die Viren nicht. Oder so, bitte achten Sie besonders auf die Position der Querflöten. Wenn man in Richtung Fenster musiziert, dann treibt es den Virus vermutlich sogar hinaus, wir hätten die Pandemie also längst durch Chorgesang und Orchesterwerke erledigen können, das liegt auf der Hand. Aber das ist alles nicht einmal mehr satirefähig, das ist deutlich drunter.

Und ja, ich fühle mich veralbert.

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Wir fahren in den Garten, wir kümmern uns um die Hecke, wir heben einen Graben für die Pflanzung aus. Wir finden Knochen im Beet, viele Knochen, und groß sind sie. Aber es ist kein menschlicher Schädel dabei, also keine Polizei und keine bildungsbürgerlichen Poor-Yorick-Improvisationen. Vielleicht haben die Vorpächter vor Jahren oder Jahrzehnten ein ganzes Schwein gegrillt, ein Kalb oder ein Lamm, vielleicht haben sie einen Bernhardiner begraben, eine Dogge. Die alten Gärtnerinnen und Gärtner auf der Insel erzählen, dass schon ganze Autos in den Beeten gefunden wurden. Was man alles vergraben kann. Neben den Knochen eine Flasche Kakao-Likör. Unsere ganze Parzelle ist mit leeren Spirituosenflaschen unterfüttert, die auf das letzte Jahrhundert verweisen. Viele Liköre sind dabei, etwa frühe Achtziger, man sieht es an den Etiketten.

Nachbarn laden uns ein, es gibt Kaffee und Kuchen in der Arbeitspause, sie bauen gerade ein Hochbeet aus Palettenrahmen. Schrebergärtner sind per definitionem fleißig. Wir sitzen draußen, sie reichen uns warme Decken und heiße Becher. Ich wärme mir mühsam die Hände daran, ich verkrieche mich in der Decke. Ich denke, das ist doch kein Frühling, wenn, man im Garten so friert, das ist nicht einmal Vorfrühling. Dann sehe ich, dass die weißen Blüten, die uns so zauberhaft umwehen, gar keine Blüten sind. Es schneit.

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Ich höre „Sie kam aus Mariupol“, von Natascha Wodin, gelesen von Dagmar Manzel. Die Gegenwärtigkeit der titelgebenden Stadt in den aktuellen Nachrichten ist dabei schwer zu ertragen; ich höre von historischen Zerstörungen und sehe, wie sie erneut passieren, ich sehe es fast live. Warum sollte man es sich leicht machen, ich höre weiter. Es ist ein gutes Buch.

Eine ukrainische Flagge an einem Kiosk auf der Langen Reibe

Ich las „Die schöne Frau Seidenman“ von Andrzej Sczcyporski, ein Buch, das vor längerer Zeit schon ein Beststeller war und das also alle längst gelesen haben, nur ich wieder nicht. Und jetzt ist es gut, es auch gelesen zu haben. Die Ukraine wird darin beiläufig zwei-, dreimal erwähnt, es wäre mir früher vermutlich nicht aufgefallen. Jetzt verstehe ich sogar den Zusammenhang, ich habe immerhin etwas gelernt.

Was nichts nützt, aber egal. Auch das ist ein gutes Buch. Wenn ich beim Lesen hochsehe, sehe ich die blaugelbe Flagge der Ukraine am Kirchturm gegenüber wehen und merke, wie sich mein Europa- und mein Geschichtsbild noch einmal neu zusammensetzen.

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Man darf sich nicht arrangieren.“ Ein Interview mit Herta Müller, es geht um Diktaturen, um Russland, um Sprache.

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Ich habe neulich das Wort „Overthinking“ hier im Blog verwendet und beim Schreiben kurz einen Ton im Ohr gehabt, ein Liedzeilentrümmerchen, und dann kam ich eine Weile nicht darauf, wo es bloß herkam. Jetzt ist es mir wieder eingefallen, es war aus einem Song von John Grant mit grandiosen Lyrics:

You could probably say I’m difficult
I probably talk too much
I over-analyze and over-think things
Yes it’s a nasty crutch.

I’m usually only waiting for you to stop talking
So that I can
Concerning two-way streets I have to say
That I am not a fan.

Schönes Video auch.

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