Das Kreisen der Themen und Schatten

Greta Thunberg wird die Klimakonferenz nicht besuchen, lese ich am Morgen, weil sie das dort zur Schau gestellte Greenwashing der Damen und Herren aus der hohen Politik nicht als Komparsin dekorieren möchte. Das ist das eine. Das klingt löblich, finde ich, es klingt wie eine Frage der Haltung, und Haltung, das gibt es ja heute kaum noch, man hat ja mittlerweile eher Interessen.

Das andere ist meine Unentschlossenheit am frühen Morgen. Ich weiß nicht, was ich mit mir oder diesem freien Tag anfangen soll. Ich lese Twitter nach, ich lese Mastodon nach, ich denke über die Unterschiede zwischen den Plattformen usw. nach, aber dann denke ich, weder noch, mir ist heute nach etwas ganz anderem, aber wonach bloß.

Ich lege mich noch einmal aufs Bett. Ich mache klassische Musik an und sehe zu, wie es draußen hell wird, wie die Möwen hell aus dem Dunkel auftauchen. Auch einmal konzentriert irgendwo zuhören, warum nicht. Ich überlasse die Auswahl der Stücke dem Algorithmus, mir fehlt eh jede Kompetenz, wenn es um klassische Musik geht. Ich höre etwas aus Dido und Äneas, Purcell. Und Äneas, da dämmert etwas, was war denn noch einmal mit dem. Der kam im Lateinunterricht damals vor, sechste Klasse etwa, um Alba Longa ging es, eine Stadt war das. Glaube ich. Das ist längst brachliegendes Wissen, kurz habe ich ein Schulbuch undeutlich vor Augen, eine halbe Sekunde nur, dann ist es wieder weg, Schatten aus der Vergangenheit, vorbeiflackernd, abtauchend. Dann gab es noch ein Jugendbuch von Auguste Lechner, die heute auch nicht mehr unumstritten ist, wie ich lese. Ich habe in einem gewissen Alter (etwa 12?) ihr Gesamtwerk eingeatmet, das galt zu der Zeit als sehr gute und pädagogisch ungemein wertvolle Jugendliteratur. Und gab es nicht auch noch eine Fernsehserie im Vorabendprogramm? Ich ahne so etwas, ganz dunkle Bilder, sehr fern, Männer mit Schwertern, was sonst. Abenteuer eben.

Ich lese alles in der Wikipedia nach. Wobei das nicht ungefährlich für mich ist. Mythologie ist ein Abgrund, das kann schnell Tage und Wochen kosten. Ich war da einmal sehr kundig, bei den Griechen, den Römern etc., ich habe daher überall so ein leise verlockendes Restgeklingel im Kopf, wenn ich die Stichworte, die Namen, die Orte wieder lese, ich muss aufpassen, dass es nicht zu reizvoll wird.

Äneas jedenfalls, der Dido liebt, die ihn liebt, die er dennoch verlassen muss, versteht sich, wir sind im Altertum, da gibt es keine Gnade, da schlägt das Schicksal zu, und mit welcher Macht. Sie bringt sich dann folgerichtig um, nachdem er weg ist. Später, viel später, begibt sich Äneas als Lebender in die Unterwelt, das hat mit seinem Vater zu tun, eigentlich nicht mit Frauen, aber er trifft doch Dido dabei und spricht sie an – sie wendet sich ab. Was mich aus irgendeinem Grund, den ich nicht zu fassen bekomme, auf einmal sehr rührt, diese Szene, dieses Abwenden, Moment, wir sehen eben bei Vergil nach, wie es genau war. Äneas erkennt sie in den Schatten, so wie einer den ersten Anschein des wieder zunehmenden Mondes durch die Wolken erkennt, das ist auch schon einmal ein gelungenes Bild, er spricht sie bebend an, ich vermische online auffindbare Übersetzungen:

„Unglückliche Dido, wahr war also die Nachricht, die mich erreichte, dass du gestorben und mit dem Schwert bis zum Äußersten gegangen bist. Ach, war ich der Grund für deinen Tod? Bei den Sternen schwöre ich, bei den Göttern […] gegen meinen Willen, o Königin, schied ich von deiner Küste. Aber die Befehle der Götter trieben mich mit jener Macht, die mich nun zwingt, durch Schatten zu gehen, durch eine Gegend starrend von Moder und durch finstere Nacht, und ich konnte damals nicht glauben, dass ich durch meinen Abschied dir diesen so großen Schmerz bereitete. Halte ein deinen Schritt und entziehe dich nicht meinem Anblick! Vor wem fliehst du? Das ist nach dem Willen des Schicksals das letzte Mal, dass ich zu dir spreche.“

 Mit solchen Worten versuchte Äneas die ergrimmt und finster blickende Seele zu besänftigen und seine Tränen zu Hilfe zu rufen. Jene aber, abgewandt, hielt ihre Augen auf den Boden gerichtet und ihr Antlitz zeigte keine Rührung, als wenn sie dastünde als harter Granit oder Marmor.“

 Es scheint, so lese ich, unter Übersetzerinnen umstritten zu sein, ob nun er weinte oder sie, das kennt man auch aus anderen Beziehungskonflikten. Schön aber auch, durch Schatten zu gehen, durch „eine Gegend starrend von Moder“ – diese Formulierung ruhig einmal im Sinn behalten, man kann das auf Großstadtspaziergängen hier und dort anwenden.

Vielleicht also doch auch einmal Vergil lesen? Noch so eine Bildungslücke von mir. Ich meine, das ist doch wunderschön. Ich weiß nicht, ich bin gerade in der Stimmung für so etwas und es passt ja auch durchaus vom Datum her, Halloween, Samhain, was auch immer, die Tore zur Unterwelt sind heute jedenfalls bestenfalls angelehnt, nicht aber fest verschlossen, es ist thematisch angebracht und saisonal alles richtig.

Ich lese dann auch über diese Oper nach, über Purcell. Ich mache Youtube auf, ich sehe mir die Sterbeszene der Dido an. Sie bringt sich aus Liebeskummer um, zwei Zofen (oder wie immer sie korrekt bezeichnet werden) sind bei ihr. Sie nimmt Gift, nicht das Schwert, man spart also Kunstblut und es singt sich vergiftet auch besser, nehme ich an.

Die Szene kommt mit jedenfalls sehr gut und gesungen gespielt vor, wobei ich aber tatsächlich ohne jede Kompetenz bin, ich lese also lieber noch die Kommentare nach. Die sind durchweg lobend und überaus nett, das ist wohl tatsächlich sehr gut gespielt, sehr gut gesungen, sehr gut inszeniert, liebevoll auch, und es steht noch das dort, womit dieser Text wieder zum Anfang zurückkreist, wie ja überhaupt alles kreist, die Jahreszeiten, die Themen, die Geister: Die Sängerin da ist Malena Ernman, die Mutter von Greta Thunberg. Guck an.

“When I am laid in earth

May my wrongs create

No trouble in thy breast;

Remember me, but ah, forget my fate.”

Ich weiß nach wie vor nicht, was ich mit mir oder mit diesem Tag anfangen soll, aber manchmal ist es auch nicht schlecht, ziellos herumzuwandern, in der Ober- oder Unterwelt, in den Zwischenzeiten.

***

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