Es bleiben Rätsel übrig

Ich sitze am Schreibtisch meines in der letzten Woche verstorbenen Schwiegervaters und schreibe, mir geht die Tinte aus. Ich sehe in den Schubladen nach, weil ich aufgrund gewisser Ähnlichkeiten annehme, dass auch er irgendwo Patronen bereitliegen hatte. Und dem ist auch tatsächlich so. Südseeblau finde ich, etliche Schachteln, und es ist typisch, dass es Südseeblau ist, nicht etwa Königsblau. Immer knapp an der Normalität vorbei, so war er, denke ich und werde es gleich noch etwas weiter ausführen. Sechs, acht Schachteln Südseeblau. Ich mache eine auf, ich mache zwei auf, es ist in allen Schachteln das gleiche Bild, die Patronen sind sämtlich leer. Er wird sie alle nach dem Verbrauch zurückgesteckt haben, aber warum bloß? Das erfährt man dann nicht mehr. Wenn jemand stirbt, bleiben Rätsel übrig.

Willi Buddenbohm

Buddenbohms Willi. So sagt man hier, erst der Nachname, dann der Vorname. Buddenbohms Willi ist damals nach der Schulzeit und der Maurerlehre Bau-Ingenieur geworden, Architekt auch. Das war ein vorgezeichneter Weg, denn seine Eltern und Großeltern kamen aus der Baubranche, Hoch- und Tiefbau, er musste das Unternehmen weiterführen. Da war von Anfang an klar, was er zu werden hatte, zu sein hatte. Aber andere Wege wären doch besser für ihn gewesen, das meinten viele zu wissen, die ihn kannten. Etwas mit Musik wäre es vielleicht gewesen, mit seiner großen Leidenschaft.

Denn damit kannte er sich aus, mit Tonqualität, Sound, mit Rockgeschichte, mit Klassik auch, mit Hifi, mit nahezu allem, was mit Musik zu tun hatte, technisch und auch künstlerisch. Damit hat er unendliche Stunden seiner Freizeit zugebracht, dafür hat er ein Vermögen ausgegeben, für den besten Sound, für die ultimativen Aufnahmen und die bestmöglichen Verstärker, die feinsten Kopfhörer und immer so weiter, ein Enthusiast besonderer Ausprägung. Noch im Krankenhaus in der letzten Zeit hatte er sein Equipment dabei, und nicht zu knapp. Seine Kenntnisse der Musikgeschichte, ich erwähnte es neulich schon, waren umfassend, bis an die Gegenwart heranreichend, seine Musiksammlung war absurd vielfältig. Man kann mit etwas Mühe einen Schwerpunkt in den Sechzigern ausmachen, aber das war längst nicht alles, er ist da nicht stehengeblieben. Er war anderen, mir etwa, teils deutlich voraus. Neben ihm war ich stockkonservativ. „Er hat für die Musik gebrannt“, sagt die Herzdame, und das ist ein wenig witzig, weil er Unmengen CDs gebrannt hat, Tausende.

Keine leichte Kindheit gehabt, ich springe etwas hin und her, pardon. Ich glaube, dass man oft vergisst, wie schwer Kindheiten damals waren, bei vielen von denen, die mir nur wenige Jahrzehnte voraus waren, welche unfassbare Härte damals noch in der Welt und in den Eltern war. Er hat manchmal darüber geredet, es war nicht gut auszuhalten und man mochte es sich alles lieber nicht vorstellen. Kinder wurden auf Spur gebracht, so nannte man es, und was für Abgründe liegen in diesem Satz.

Dennoch blieb er, wie es bei Ringelnatz ähnlich hieß, etwas schräg ins Leben gebaut. Er war nie vollständig angepasst, im Benehmen nicht, in der Haltung nicht, in den Ansichten nicht. Immer ansatzweise Hippie gewesen, Rocker auch, Exot, Sonderling, Exzentriker, bunter Vogel. Immer soweit es ging, und manchmal ging es recht weit. Freiheit war sein Lebensthema, immer gesucht, nie wirklich gefunden.

Die Musik und das Dorfleben hat er zusammengebracht, hat im Posaunenchor in der Kirche gespielt, ist nebenbei Dorf-DJ gewesen. Einer, der jede Party retten konnte, ankurbeln konnte, laufen lassen konnte. Er hat Stimmungen gemacht und gedreht, er war für Feste mitverantwortlich, die in dieser Gegend heute noch Legende sind, in einer Weise vielleicht, wie man sie sonst nur aus der irischen Literatur kennt. Solche spektakulären Feste, von denen es kein vollständiges Bild gibt, weil sich alle Beteiligten dermaßen dem Alkohol und der guten Stimmung hingegeben haben, dass hinterher nur Erinnerungstrümmer mühsam zusammenzufegen sind, immer unzureichend, immer fern der Wahrheit, aber man weiß jedenfalls – das waren noch Nächte, meine Güte, was waren das für Nächte. Die Älteren im Dorf sortieren heute noch, wer wann wo dabei war und was gemacht hat. Weißt du noch, dieser Abend.

„Er hat Musik gemacht, und es hat gepasst. Und dann hat er es gedreht, die Stimmung und alles.“ So habe ich es hier gestern gehört, als sich jemand daran erinnerte, und auch das ist natürlich eine Kunst, immer die genau richtige Musik zu finden für den Moment und für die Stimmung der Feier, für die Gesellschaft, sei es nun Schlager, sei es Hendrix oder Blues oder Blaskapelle oder sonst etwas, er hat es einfach gewusst, was es jetzt sein musste, ganz genau hat er es gewusst, immer ein Treffer nach dem anderen.

Die Party bei dem Tierarzt damals, viele, viele Jahre ist es her, irgendwann spät nachts noch die Partykracher, und bei dem Lied „Da steht ein Pferd auf dem Flur“ stand da dann wirklich eines, es ist im Grunde ein Wunder, dass nicht alle Beteiligten vor Lachen gestorben sind. Solche Abende. Längst sind sie nicht mehr wahr, diese Geschichten, und doch war es so. Es gibt Fotos von diesen Feiern, es gibt auch einige Filme, die gewisse Anwesende schwer belasten, ich kenne sie. Und ich bin mir daher sicher, es wurde hier auf eine Art gefeiert, die in Großstädten eher unbekannt ist. Und er immer mittendrin, an den Schalthebeln des Ganzen. Er hatte einen Ruf, er hat ihn bis heute. Damals die Feiern mit Willi, anerkennendes Nicken, seliges Erinnern. Und meine Güte, was ging es den Leuten schlecht danach. So musste das.

Er hat sich etwas bunter als andere angezogen, er hat auch andere Bücher gelesen, er hat etwas anders gekocht. Er hat sich früh für ausländische Küchen interessiert, als das hier noch kein Trendthema war, noch lange nicht. Chinesische Küche, bevor es in jedem Dorf ein Restaurant dieser Art gab, er ist sogar nach China gereist. Indische Küche. Auch Ayurveda und so etwas, irre abgelegenes Zeug aus damaliger Sicht. Makrobiotik, sehr spezielle Fachgebiete, keines davon mehrheitsfähig. Er hat sich immer in diese Themen gekniet, er hat jedes Spezialgebiet voll mitgenommen, bis hin zum Expertentum, sich dann überall ausgekannt. In der Garage stehen noch unbenutzte Pinsel und Acrylfarben und Malereilehrbücher, das mit der Kunst hat er nicht mehr so geschafft, wie er wollte. Aber er hätte sicher, wenn es ihm noch möglich gewesen wäre.

In der Kleinkindzeit der Söhne war er ein grandioser Großvater. So einer, der den Kindern alles durchgehen ließ, der ihnen alles erlaubt hat, auch die Sachen, bei denen man als Eltern Augenzucken bekam, sich mühsam beherrschen musste und von Sicherheitsregeln sprach, als sei man selbst der Ältere, und ich nehme an, das war manchmal eine vollkommen adäquate Rollenverteilung. Mit ihm ging manches, was mit uns nicht ging. Auch die absurden, die zu großen Geschenke hat er gemacht, ganz selbstverständlich. Das erzählt die Herzdame ähnlich auch aus ihrer eigenen Kindheit, er war ziemlich anders als andere Väter, nicht nur, weil er mit ihr gemeinsam stundenlang Musik aus dem Radio aufgenommen hat. Und ich weiß auch, dass er mit schwierigen Jugendlichen aller Art, die ihm im Beruf und anderswo begegneten, gut umgehen konnte. Das passte so zusammen, er hat geholfen, wenn er konnte, und er hat sie alle mal machen lassen. Denn das war oft das, was andere nicht so gut konnten – die mit den Problemen einfach mal machen lassen.

Wir hatten in Hamburg einmal einen Hausmeister, der beim Blick auf unser Namenschild sagte: „Ich kannte mal einen Buddenbohm.“ Das hören wir nicht eben oft, das hören wir eigentlich nie. Wir kamen dann darauf, dass dieser Hausmeister bei Projekten dabei gewesen ist, die der Vater der Herzdame geleitet hatte, aufwändige Kaufhausumbauten waren das, aberwitzig komplizierte und eilige Großvorhaben. Wir fügten die Teile im Gespräch zusammen und irgendwann fragte er die Herzdame endlich: „Echt jetzt, der Verrückte ist also ihr Vater?!“

Es war keine Beleidigung, es lag viel begeisterte Anerkennung in dieser Frage. Denn der war mal ein Typ, dieser Bauleiter.

Er hat bei unserer Hochzeit eine Rede gehalten, von der heute noch, nach all den Jahren, Gäste von damals beeindruckt sind, obwohl sie vermutlich überhaupt kein Wort verstanden haben von dem Friedewalder Platt, in dem er gesprochen hat. Er hat sich den Leuten eingeprägt, er hat etwas ausgestrahlt, aber er hat sich kaum dafür interessiert, was andere von ihm gehalten haben.

Es war nicht einfach, die passende Musik für seine Beerdigung auszusuchen. Wir haben da länger dran gesessen, ich erwähnte es neulich schon. Wir dachten uns, zum Schluss muss etwas kommen, das passt, muss noch einmal, ein letztes Mal etwas kommen, das die Stimmung dreht. Und ich glaube, wir haben es gefunden. Der leere Schaukelstuhl im Video, der an Roy Orbison erinnert, macht es noch besser.

Aber natürlich, man weiß nicht, was er für sich ausgesucht hätte, man kann es nicht wissen. Es gab keinen hinterlassenen Plan für diese Gelegenheit. Er hätte es sicher viel besser als wir gewusst.

Aber wenn jemand stirbt, bleiben Rätsel übrig.

Well, it’s alright, ridin‘ around in the breezeWell, it’s alright, if you live the life you pleaseWell, it’s alright, doin‘ the best you canWell, it’s alright, as long as you lend a hand

***

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24 Kommentare

  1. Was für ein schönes Portrait. Was für ein bemerkenswerter Mensch. Ich hätte ihn gern gekannt.

  2. Danke, dass wir diesen großartigen Menschen noch durch Ihre Augen und Worte kennenlernen durften.

  3. Ein Song, den ich erst spät zu schätzen lernte. Vermutlich, als ich das erste Mal das Video mit dem leeren Stuhl von Roy Orbison dazu sah.
    Ein schönes Ende eines lebendigen Nachrufs.

  4. Lieber Herr Buddenbohm, Ihr Nachruf ist von der Art, dass sich selbst Ungläubige wie ich wünschen, der verstorbene Mensch sollte sich von „oben“ daran erfreuen können.

    Die Hinterbliebenen tun es sicher

  5. Was für ein wunderbares Portrait! Man hat Tränen in den Augen für jemanden, den man nicht gekannt aber gerne kennengelernt hätte!

  6. Wie von Ihnen nicht anders zu erwarten war, ein wunderbarer Nachruf auf einen offenbar besonderen Mensch.

    Farewell, Buddenbohms Willi.

  7. Ich kann mich den Vorkommentierenden nur anschließen. Ein herzerwärmender Nachruf auf einen besonderen Menschen, den gekannt zu haben ein Geschenk sein muss. Vielen Dank, dass Sie uns daran teilhaben lassen.

  8. was für ein Text, was für ein Mann.
    Danke fürs Teilen.
    Und ich habe schon Schwierigkeiten die richtigen anteilnehmenden Worte zu finden. Herzlichstes Beileid Euch allen.

  9. Vielen Dank für den wirklich bewegenden Nachruf auf einen Menschen, den ich gerne kennengelernt hätte

  10. Was für ein toller Nachruf, so schön geschrieben!
    Auch wenn man ihn nicht gekannt hat, hat man eine gute Vorstellung bekommen, was für ein Verlust für Ihre Familie, für das Dorf, für alle da ist.
    Ihnen, Ihrer Familie und vor allem der Herzdame alles, alles Gute!

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