Kleine Gelage von Zeit zu Zeit

Mittwoch, der 26. Juli, Meran. Der Überblick über die Nachrichtenlage am Morgen, die Meerestemperaturen vor Florida ähneln mittlerweile einem Whirlpool, lese ich, wie entsetzlich ist das. Aber man sieht auch schon, dass Meldungen dieser Art auf den Startseiten jetzt teils weit nach hinten oder unten rücken, denn die Lage bleibt ja dummerweise dauerhaft so und wird daher zügig immer weniger berichtenswert. Der Mechanismus ist dermaßen simpel.

Andere Meldungen rücken entsprechend vor, Innenpolitisches etwa, Wirtschaftsmeldungen, Promimeldungen, auch die Eröffnung in Bayreuth, so etwas. Ich sehe mir vergleichend die Seiten großer Medien weltweit an, dank Übersetzungstools kann man alles lesen, aber es ist überall gleich, in England, in den USA, in Italien, Frankreich, Spanien, Österreich ….

Ich sehe außerdem in einigen deutschen Berichten über den Tourismus, der mich situationsbedingt gerade besonders interessiert, den Begriff Revenge-Travel, der war mir noch nicht begegnet. Gemeint sind damit die Reisen, mit denen die Einschränkungen der Corona-Jahre aufgeholt werden sollen, die also spektakulärer, weiter, teurer ausfallen. Vermutlich werden Fernreisen im nächsten Jahr noch mehr gebucht werden, zu all den vermeintlich schönen Zielen, die jetzt gerade keine Schlagzeilen verursachen, wo es in diesem Sommer nicht oder noch nicht brennt, wo es nicht wochenlang über vierzig Grad sind usw.

Das Wetter klart währenddessen über Meran weiter auf, Sonne über den Bergen und nur noch einige dekorative, drollig-pummelige Wolken darüber, wandernde Schatten ziehen unter ihnen über die bewaldeten Hänge.

Wir fahren zum Gardasee, ein Sohn wollte ihn unbedingt einmal sehen. Riva del Garda, die nördlichste Station. Erwartungsgemäß pittoresk und erwartungsgemäß überlaufen. Ich denke lange über den Massentourismus nach und mache dabei mit, enthalte mich also aller Werturteile. Es gibt zwei Sichtweisen, ich habe beide schon schlüssig dargelegt gelesen und ich weiß nicht sicher, welche stimmiger ist. Man kann es so sehen, dass man an solche Orte wie die überrannten Städte am Gardasee auf keinen Fall mehr fahren sollte, um es dort nicht noch weiter zu verschlimmern; man kann es aber auch so sehen, dass man nur noch an solche Orte fahren sollte, um den Rest der Welt um Gottes willen in Ruhe zu lassen. Und man kann, versteht sich, auch zu dem sogar naheliegenden Schluss kommen, gar nicht mehr zu verreisen.

Ich weiß es nicht, was richtig ist und was am schlüssigsten durchdacht, aber die Masse an Menschen um mich herum legt zumindest mir die dritte Option an solchen Tagen nahe.

Die Altstadt von Riva del Garda am Hafen

Passend dazu zwei kurze Radiosendungen über Over-Tourism, einmal zu Barcelona, einmal zu Norderney.

Ich höre Seneca auf der Fahrt: Über die Kürze des Lebens. Es kommt das schöne Wort „Habsucht“ im Text vor, das ist leider aus der Mode gekommen, aber eigentlich ist es doch noch gut, man könnte es deutlich häufiger verwenden. Den Begriff „Gelage“ finde ich auch sympathisch. Seneca hat nichts gegen ein kleines Gelage von Zeit zu Zeit, er hat nichts gegen Gelage in Maßen.

Er kommt ansonsten zu dem Schluss, dass man sein Leben der Weisheit weihen sollte, dass nur das Streben danach keine verschwendete Zeit sei. Und ich habe es als eher unaufmerksamer Zuhörer vielleicht nicht mitbekommen, aber mir fehlte zum Schluss die Ableitung, warum denn diese Weisheit ein Wert in sich sein sollte. Was hat man denn von ihr? Wer weiser stirbt, ist durchdachter tot?

Aber wer bin ich, Seneca zu kritisieren. Vielleicht muss ich es bei Gelegenheit noch einmal hören, das gilt sicher auch für einige andere Hörbücher. Und man soll ohnehin, so sagt es Seneca, all den großen Weisen viel Zeit widmen, die uns vorausgegangen sind. Okay.

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Auf der Rückfahrt überrascht uns der Mietwagen mit unklaren Fehlermeldungen. Dabei nehmen wir doch extra einen Mietwagen, um einen fehlerfreien, topaktuellen Wagen zu fahren und unserem nun schon etwas gebrechlichen Auto keine Langstrecke zuzumuten. Der Plan ging also diesmal nicht auf, wir fluchen erheblich, lesen im Handbuch nach und fahren in wüster Stimmung besonders vorsichtig.

Mein Autohass wächst weiter vor sich hin, ich möchte mich definitiv um so etwas nicht kümmern müssen, das ist für mich alles komplett verkehrt so. Wir haben aber nur noch wenige Kilometer bis zur Pension, wir verschieben die Klärung der ominösen Vorkommnisse und Meldungen daher erst einmal auf den nächsten Tag. Ich sehe während der Fahrt dezent angespannt auf das Armaturenbrett, auf die Anzeige der Zeit bis zum Ziel und auf die Fehlermeldungen: Und noch 12 Minuten bis Buffalo.

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Kurz nachdem ich damals nach dem Abitur von Lübeck nach Hamburg gezogen bin, wohnte ich über zwei Frauen, Mutter und Tochter. Die Mutter hatte eine Ausstrahlung wie die Frau von Al Bundy, treffender kann ich es kaum schildern, die Tochter war ihr bemerkenswert ähnlich und eiferte ihr auch modisch nach, sie trugen beide viel Knappes und Glitzerndes. Sie feierten gemeinsam viele und vehemente Partys in ihrer kleinen Wohnung. An den Abenden, an denen nichts bei ihnen los war, keine Feier, kein Besuch, kein kleines Gelage, legten sie auch Musik auf und sangen die Songs dann zu später Stunde gemeinsam mit.

Besonders ein Lied, das sie, es waren leider nicht die begabtesten Sängerinnen, eher jaulten als sangen, lief damals in Endlosschleife. Es war als Nachbar einigermaßen schwer zu ertragen, obwohl es eigentlich ein gutes Lied war: Nothing compares 2 u. Ich habe es heute noch in der verheulten Version dieser oft angetrunkenen Nachbarinnen im Kopf, das ist ein wenig schade und wird der Sängerin der Originalversion sicher nicht gerecht.

Sie ist mir zuletzt auf Youtube zufällig begegnet, erinnere ich mich, als Backgroundsängerin, gemeinsam mit ihrer Tochter ist sie da aufgetreten. Sie sangen für den großen John Grant, bei einem seiner besten Songs: GMF, ich hatte schon einmal das Originalvideo im Blog. Einen hervorragenden Text hat das Lied, aber das nur nebenbei.


Und Kris Kristofferson, das denkt man wohl auch nicht sofort, hat ihr damals einen Song gewidmet, noch zu den heftigen Skandalzeiten: And maybe she‘s crazy and maybe she ain‘t, but so was Picasso and so were the saints.

Sie starb an diesem Mittwoch, sie war in meinem Alter.

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4 Kommentare

  1. vielen Dank immer wieder fürs Bloggen, die Gedanken, das Mitnehmen.
    Und heute auch für den Kris Kristofferson Link, schon letzte Woche beim Urzeittier sehr gefreut darüber

  2. >Und ich habe es als eher unaufmerksamer Zuhörer vielleicht nicht mitbekommen, aber mir fehlte zum Schluss die Ableitung, warum denn diese Weisheit ein Wert in sich sein sollte. Was hat man denn von ihr? Wer weiser stirbt, ist durchdachter tot?

    Ich weiß nicht, ob Seneca dazu etwas sagt, glaube aber, letzten Endes (im Wortsinn) gibt es keine Ableitung, die mich überzeugen würde. Weisheit, gesammeltes Spielzeug, gelesene Bücher, durchzechte Nächte; am Ende ist man tot. Ich bin sicher Team „Gutes tun“, aber begründen kann ich das nicht, habe auch für mich keinen Bedarf.

  3. Der Tourisms-Gedanke begleitet mich seit meinem Studium, in dem ich mal einen Essay über Tourismus auf Kuba geschrieben habe. Vielleicht ist es wirklich eine Lösung, eine Art von Disney-Land -Arealen auszuloben, da sollen dann alle hin und Fotos machen,und die Buchten, Dörfer, Gipfel oder was auch immer nebendran werden so in Ruhe gelassen. Also geben wir Barcelona , Norderney, Venedig und die üblichen Verdächtigen auf und pendeln rein und raus wie in Freizeitparks. Der Lonely Planet -Tourismus hat schon auch dafür gesorgt, dass sich der Charme-Entzug durch Tourismus in vielen Regionen irre ausgebreitet hat. Aber all das habe ich ja auch nur beobachtet, weil ich so viel gereist bin und damit auch ein Teil des Wahnsinns geworden bin.
    Es bleibt kompliziert. Vielleicht haben ja auch Orte wie Las Vegas recht, die bauen Dinge nach und entlasten dadurch ja auch irgendwie den Planeten.
    Danke für die Gedanken dazu und die Inspiration, wieder einmal darüber nachzudenken.

  4. Ich übersetze die „Weisheit“ Senecas für mich einfach mit „Lebenserfahrung“. Und schon macht es Sinn.

    Bei – Gott hab sie selig – der geschätzten Fanny Müller in den Geschichten von Frau K. hört es sich dann ungefähr so an: „Sie haben wohl viel erlebt?“ Frau K: „Zweimal!“

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