Mann mit Koffer

Im Hamburger Hautbahnhof gibt es eine Kunstinstallation von Christel und Laura Lechner, hier einige Bilder und Erläuterungen dazu (leider eventuell längere Ladezeit), und hier noch die Seite der Künstlerinnen.

Der Mann mit Koffer, Sie sehen ihn auf der erstverlinkten Seite, das zweite Bild von oben in der rechten Randspalte, steht neben einer Rolltreppe im endlosen Strom der Reisenden und irritiert die Menschen, die an ihm vorbeigehen. Weil er so normal aussieht, nehme ich an, weil er auch nicht erklärt wird. Neben ihm steht kein Schild, wie man es in einer Ausstellung erwartet.

Weil man also nicht sofort weiß, was der da nun soll. Was macht der da, warum steht der da. Machen wir ein Selfie mit ihm, ist das cool oder nicht. Immer eine besonders wichtige Frage, in diesen Zeiten. Ist er am Ende Werbung für irgendwas? Dann wäre man darauf hereingefallen, das möchte man nicht. Dann wäre das Selfie am Ende noch peinlich.

Ist er Kunst, also richtige Kunst, ist er Kunstkunst? Ist er Werbung für Kunst? Hier ist doch die Kunsthalle irgendwo in der Nähe, das könnte passen, vielleicht ist da gerade eine Ausstellung mit solchen Skulpturen.

Und ist der gut, der Mann mit dem Koffer, also gut als Kunst? Der ist schon gut, oder? Der ist doch gut gemacht? Ist der auch von dem Dings mit den anderen Figuren, dem Balkenhol? Hieß der so? Da kennt sich jemand aus.

Und auch die vorbeikommenden Kinder fragen: „Mama, was ist das?“ „Das ist, äh, na, so eine Figur.“

Ich lungere manchmal neben diesem Mann mit dem Koffer herum. Alles, was im Bahnhof besonders ist, füllt mein Notizbuch. Ich sehe den Menschen zu, die ihn ansehen. Ich höre mir ihre Gesprächsfetzen an und ich sehe, wie Kunst wirkt, wie dieses Objekt wirkt. Nur wenigen Passanten fallen die anderen Figuren auf, die in der Höhe auf dem Geländer über dem Mann mit dem Koffer sitzen, von Tauben umflogen und entspannt wie Touristen auf der Promenade eines Kurortes in den Bahnhof sehend.

Dafür müsste man erst nach oben sehen, um über diese Figuren auch noch zu staunen. Sie sind durch ihre Platzierung eher beiläufige Kunst, die man leicht übersehen kann. Aber die, die sie entdecken, die freuen sich dann doch und zeigen sie vielleicht auch anderen: „Gucken Sie mal! Da oben!“ Und dann aber schnell die Handys raus und Bilder gemacht und gleich verschickt. Dass die anderen sich mitwundern sollen.

Dann kommt da einer durch die Wandelhalle, der sieht aus wie der Mann mit dem Koffer, aber er lebt, er ist echt. Er hat fast genau diesen leichten Mantel an, er hat auch diese blaue Hose an. Die Kombination ist nicht selten, das ist klar, so laufen viele herum. Er hat aber dazu noch diese Statur, er hat auch diese Frisur, und er hat einen Koffer in der richtigen Farbe. Der sieht etwas moderner aus als der Koffer neben der Figur, und er wird natürlich gerollt. Kein Mensch hat mehr Koffer, die nur einen Tragegriff haben.

Er ist also kein Zwilling der Kunstfigur, er hat aber doch Ähnlichkeit auf den ersten Blick. Gerade so viel Ähnlichkeit hat er, dass man es ein wenig verblüffend finden kann. Mehr dann nicht, beim dritten Blick verliert es sich wieder etwas.

Der steht das jetzt also vor mir und staunt ebenfalls über diese Figur, er nimmt die Ähnlichkeit sicher wahr. Er steht davor und lacht. Dann legt er dem Standbild einen Arm über die Schulter. Er hält seinen Kopf an den Kopf des anderen, eine merkwürdig innige Geste. Nicht für ein Selfie macht er das, und nicht für ein Foto. Er bittet niemanden darum, sie beide so aufzunehmen. Er macht es nur für diesen Moment mit seinem Kunstbruder, so wirkt es. Und kurz sehen die beiden tatsächlich verwandt aus. Wie Geschwister, die sich lange nicht gesehen haben, die sich im Bahnhof treffen, nach längeren Reisen, vielleicht nach Jahren. Die sich dabei einmal drücken. Wortlos, aber intensiv.

Dann löst sich der Mann wieder von der Figur und geht breit grinsend weiter. Wenn ich es richtig sehe, geht er nicht ganz gerade. Er schlingert dezent, er ist vielleicht ein wenig betrunken. Nicht zu sehr, er schafft seinen Weg sicher noch. Aber er hatte womöglich doch schon zwei, drei Bier oder etwas in der Art. In einem Ausschank in der Wandelhalle vielleicht, wo manche nach Feierabend schnell etwas herunterstürzen, „weil das Leben ist ja hart genug“, um noch eben auch in diesem Text eine Songzeile anzubringen.

Es ist warm heute, da wirken drei Bier zügig und die Wirklichkeit verschiebt sich vielleicht ein wenig. Das kann sein, und wir kennen das auch. Sie verschiebt sich ein kleines Stück weit, bis man seinen Kunstbruder, von dessen Existenz man bis eben noch nichts wusste, leibhaftig vor sich sieht. Da steht er auf einmal neben der Rolltreppe, guck an, ist es zu glauben.

Da kann man einmal kurz innehalten und die Köpfe zusammenstecken, ich verstehe das gut. Ich kann das auch nachvollziehen. Und die zwei, drei Menschen neben mir, die dieses seltsame Paar gerade heimlich fotografiert haben, die verstehen das vielleicht auf die gleiche Weise wie ich, das mag sein.

Ich gehe nach Hause und lese jetzt doch einmal nach, was es mit diesen Figuren im Bahnhof auf sich hat. Das hatte ich bis eben noch nicht gemacht, das habe ich immer wieder vergessen.

Okay. Wissen wir das jetzt auch.

***

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4 Kommentare

  1. Die Figur an der Rolltreppe (und auch oben drüber) hatte ich jetzt beim Lesen ganz genau vor Augen!
    Die „Alltagsmenschen“ im Hamburger Hauptbahnhof habe ich neulich wiedererkannt, nachdem ich ihnen schon mal im Friedgarten Osmünde begegnet bin (Ein Urnenbeisetzungsgarten rund um ein Krematorium in einem Dorf zwischen Halle und Leipzig; mit den Geschäftsführern hatte ich mehrfach beruflichen Kontakt). Dort sollen sie dazu beitragen, dass der Garten ein lebendiger Ort ist. Eine Figur mit Schwimmreifen schwimmt auch gemütlich im Teich beim Restaurant, das zur Anlage gehört.

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