We’ll have to muddle through somehow

Jemand spielt Klavier im Haus, ich höre es beim Tippen. Es ist etwas dezenter als sonst. Ich weiß daher nicht recht, ob der gleiche Nachbar wie immer spielt oder ob die Musik nicht doch von weiter unten kommt. Ob es am Ende ein neues Klavier im Haus gibt, denn nach dem übenden Kind klingt es auch nicht. Die Melodie kommt nur dünn und dezent durch die Wand. Sie bleibt auch teilweise im Mauerwerk stecken, es fehlen einige Verbindungen im Auf und Ab der Melodie. Ich brauche eine Weile, um das Stück zu erkennen. Es wird das gleich folgende Lied sein, ja, ich bin mir fast sicher.

Ich zeige Ihnen die nicht eben aufheiternde Originalversion mit weinendem Kind, vielleicht ist sie nicht so bekannt:

Wie jemand auf Youtube in den Kommentaren schreibt, erschien der Film mit dieser Szene darin 1944, im Jahr 1943 wurde gedreht. Man muss also wieder den historischen Kontext mitdenken, bevor man im üblichen, routiniert gegenwärtigen Zynismus auf die Textzeile: „Next year all our troubles will be out of sight“ mit einem abfällig gezischten „Ja, von wegen!“ reagiert. Es passt dann nicht mehr recht, so zu reagieren, wenn man das Entstehungsjahr bedenkt. Das Publikum hatte damals noch ganz andere Probleme als wir.

Es kommt allerdings schlimmer. In der ersten Textversion des Liedes hieß es in der ersten Version der Verse noch, halten Sie sich fest:

Have Yourself a Merry Little Christmas
It may be your Last.
Next Year we may all be living in the past”

So rabenschwarz und geradezu erschütternd war es zunächst gedacht. Fast wirkt es wie eine Parodie, obwohl es die eigentliche Idee ist. Judy Garland hat beim Dreh auf Änderungen bestanden, der Text kam ihr zu furchtbar vor, sie wollte diese Zeilen so nicht singen. Und Frank Sinatra forderte Jahre später für seine so berühmt gewordene Aufnahme noch einige weitere Anpassungen. Der Text wurde also in Etappen aus der depressiven, verzweifelten Stimmungslage gehoben, in die er einmal gehört hat.

Weswegen wir auch das in der Originalversion so bemüht tapfere und tränendrückende „From now on, we’ll have to muddle through somehow” eher nicht mehr als Textzeile kennen. Auch diese Zeile wurde durchgetauscht, sie wurde sicherheitshalber ausgewechselt gegen das aufmunternde, allerdings auch etwas lau und konventionell anmutende „So hang a shining star upon the highest bough.“

Aber man könnte an dieser Stelle des Liedes, man könnte gerade in diesem Jahr zumindest in Gedanken doch kurz in der Originalversion des Textes mitsingen, nicht wahr. Sie wirkt dermaßen aktuell.

“From now on, we‘ll have to muddle through somehow.”

Falls Ihnen das aber zu flach vorkommt, berufen Sie sich einfach auf Charles E. Lindblom, der das Konzept des Mudddling Through in der Organisationsheorie dargestellt hat. Es kommt immer gut, wenn man etwas mit Namen und Quellen versehen kann.

Und falls Ihnen der Begriff zunächst allzu negativ vorkommt, ich habe sicherheitshalber noch einmal nachgeschlagen. Die englischen Wörterbücher deuten den Ausdruck allesamt eher positiv. Er wird auf ein erreichbares Ergebnis und auch auf ein Gelingen bezogen.

To muddle through meint in diesem Sinne kein Scheitern in Zeitlupe, sondern vielmehr einen Erfolg, der langsam und auf Nebenstrecken, auf verschlungenen Pfaden und ohne definierte Etappen oder Zeitplan erreicht wird.

Und das ist zumindest für mich vielleicht nicht der schlechteste Plan für das kommende Jahr.

***

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4 Kommentare

  1. Pragmatisch zurechtpfuschen heißt das bei mir. Aber ein anerkanntes Konzept macht gleich viel mehr her, danke dafür!

  2. Winzigkleine Korrektur: Es heißt in der Originalversion, „Until then, we’ll have to muddle through somehow“, nicht „From now on,…“.

    Tatsächlich kannte ich das Lied auch nur mit dieser Muddle-Through-Zeile, gar nicht in der später aufgeheiterten Variante.

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