Liebe Gemeinde

Ich habe geträumt, ich sei zu einer Lesung eingeladen gewesen, also als Autor, und ich habe dann beim Vortrag erst gemerkt, dass es sich beim Datum um den 24.12. handelte und beim Lesungsort um eine entsprechend dekorierte Kirche, dass also das Publikum mit großer Sicherheit eine bestimmte Erwartungshaltung an einen Vortrag hatte, was mir entschieden unheimlich war, denn was verstehe ich schon von Weihnachtspredigten, ich bin ja nicht einmal gläubig, weswegen ich als Übersprungshandlung erst einmal lange meine Papiere sortierte, die allerdings verstörenderweise teils auf Polnisch verfasst waren. Ein mir persönlich bekannter Pastor im Ruhestand trat schließlich zu mir und raunte von hinten mehrfach beruhigend in mein Ohr, die Hand fest auf meiner Schulter: „Lass einfach alles bei Bismarck enden. Das wird schon.“

Beim Aufwachen hätte ich dann gerne mein Hirn irgendwo zur Betreuung abgegeben. Mir sind meine Tage eigentlich anstrengend genug, ich brauche so etwas nachts nicht.

Was gibt es zu berichten, ich war mit der Familie beim Schwarzlichtminigolf, nein, die Familie war mit mir dort. Ich wollte gar nicht, ich war eher bei der Bartleby-Nummer, der ich ohnehin mit jedem Lebensjahr mehr zuneige.

Ich habe dann auch nichts am Schwarzlichtminigolf gemocht (aber natürlich gewonnen, denn man muss, Sie wissen es, stets bemüht bleiben), was für eine absurde Freizeitverschwendung ist das denn. Aber bitte, wenn Ihnen das gefällt, ich bin da liberal und es wird auch seine Fans haben, es ist oft ausgebucht. In einem früheren Kolumnistenleben hätte ich mich darüber lustig gemacht, über den Ort und die Menschen, die es dort mögen, da bin ich mittlerweile rausgewachsen. Das ist billig und falsch, so zu spotten, und ich bereue einige Texte in dieser Richtung. Man wird älter, man lernt, oder man bildet es sich zumindest ein. Gehen Sie ruhig Schwarzlichtminigolfen, es ist okay. Also für Sie zumindest.

Es war jedenfalls eng und stickig dort drin und ich stehe definitiv nicht mehr gerne zwischen bemaltem Plastik, das Holz oder Blumen oder Tierchen oder Landschaften darstellen soll. Ich möchte auch das bitte als eine Phase betrachten, die jetzt gerne vorbei sein darf und ich brauche dann eine lange, lange Pause bis zu etwaigen Enkelinnen, mit denen das dann vielleicht wieder Spaß machen wird, was weiß ich. Aber vorerst gerne ohne mich.

Es war jedenfalls eng und stickig dort drin und in der großen Gruppe vor uns gab es Streit, was daran lag, dass dort kleine Mädchen mitspielten. Also es lag an „klein“, nicht an “Mädchen“, versteht sich. Kleine Menschen können Minigolf noch nicht so gut, einige große allerdings auch nicht und es flog daher mehrmals ein Ball unangenehm dicht an mir vorbei. Wenn man etwas nicht kann, macht das manchmal wütend. Es gibt dort Bälle, die ein Auge darstellen sollen, so eine Art Halloween-Schwarzlicht-Gruselspaß-Golfball und ich dachte jedenfalls, wenn Dir hier eine komplett eskalierende Fünfjährige einen leuchtenden Ball mit einem aufgemalten blutenden Augapfel in einem neuerlichen Wutfanfall dergestalt in cholerischer Manier als drittes Auge an die Stirn zimmert, dass es das dann final war – was für ein überaus apartes Ende wäre das denn.

Aber gut, man half ihr dann, beruhigte, förderte, redete. Wie es sich gehört.

Und sonst? Am Nachmittag stand ich am Küchenfenster und sah runter auf den Spielplatz. Ein Kind hatte sich mit einem Dreirad in der Sandkiste festgefahren. Das Vorderrad war halb eingesunken, so konnte es nicht mehr vorwärts kommen und das Kind trat und trat und es brüllweinte dabei, das sollte gehen! Fahren! Los! Wut und Verzweiflung waren nicht zu überhören. Drüben im Pastorat stand auch jemand am Fenster und sah runter, aber ich hatte das Thema zuerst gesehen. Die Prediger und die Autoren sind auch nur wie die Möwen bei „Findet Nemo“, wir öffneten die Fenster, zeigten auf die Szene und riefen „Meins! Meins!“ Also gedacht haben wir es zumindest beide, nehme ich an.

Das Kind strampelte währenddessen heulend immer weiter, eine Mutter rief beruhigende Worte von einer Bank, ein Vater ging schließlich los, dem Kind gutmütig zu helfen, diese Metaphernquelle zu beseitigen, das Gleichnisgoldgrab, denn was hätten wir nicht alles daraus machen können, aus diesem Kind und der Szene, schon der Bezug vom festgefahrenen Dreirad zum toten Pferd aus dem angeblich indianischen Sprichwort – herrlich.

Der Vater drückte die Schiebestange, die hinten am Dreirad angebracht war, herunter, so dass das Vorderrad freikam. Er drückte dann aus Spaß aber noch etwas mehr, so dass es jetzt weit in die Luft ragte, wobei die Hinterräder natürlich einsanken, weswegen das Kind jetzt wieder nicht vorankam, was es überhaupt nicht witzig fand, wie man deutlich und weit hören konnte und der Vater war mit seiner sicher nett gemeinten Lösung, mit seinen pädagogischen Bemühungen wieder einmal gründlich gescheitert, alle Eltern kennen das.

Na, aber er hat immerhin etwas versucht. Er hat sich etwas ausgedacht, er war willig, er war da, das muss man wohl alles gelten lassen, auch ohne jeden Erfolg, er hat einfach mal etwas gemacht, wenn es auch scheiterte: „Alles Menschliche ist an sich nur provisorisch.“

Bismarck hat das gesagt. Wer sonst. Ich wünsche einen schönen Sonntag.

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So macht man das jetzt

Wir waren im Garten und haben das Trampolin abgebaut, wie immer vor der in Kürze anbrechenden Orkan-Saison. Das ist Pflicht in der Kleingartenanlage, aber man sollte es ohnehin tun. Ein ordentlicher Sturm betrachtet große Gartentrampoline gerne als willkommene Schleuderware und ich habe schon gesehen, wie so eines über Hecken und Zäune marodierte, es richtet dann ziemlich viel Schaden an und ist nicht eben leicht einzufangen.

Der kinderbunte Schaumstoff, mit dem die Stangen zum Schutz vor Verletzungen dick umhüllt waren, ist mittlerweile verwittert und zerbröselt bei geringster Berührung in aufwölkenden Mikroplastikstaub, der verteilt sich dann leuchtend im modergrünen Rasen und in den herbstbraunen Beeten, toxisches Konfetti.

Ich habe das Trampolin nie gemocht, es war abgrundtief hässlich, wie alle seiner Art, und es war mir viel zu groß, im Grunde eine Zumutung. Es war aber während der Corona-Hauptzeit besonders einem Sohn doch eine große Hilfe, irgendwo musste seine altersgerecht überbordende Energie ja hin. Er lernte dann auch erstaunliche Kunststücke darauf, lauter absurde Übungen, bei denen wir Eltern beim Zusehen dachten: Ach guck, das konnten wir nie. Aber es gab in unserer Kindheit auch keine Sportgeräte in den Gärten, wir hatten ja nichts. Wir machten damals noch simple Rollen und Überschläge auf dem Rasen vor den Häusern, wie der Nachwuchs der Primaten auf Urwaldlichtungen.

Das Unding hat also doch seinen Sinn gehabt, aber wir bauen es jetzt zum letzten Mal ab. Es kann weg, die Söhne sind am Hüpfen nicht mehr interessiert, es ist alles nur eine Phase. Auch das nur noch abhaken, wegstellen, verkaufen, als Erinnerung speichern, notieren und verbloggen.

Ich gehe vom Garten zu Fuß nach Hause, die U-Bahnen fahren nicht. Gefühlt fährt gerade in ganz Hamburg nichts, es ist alles gesperrt, wird neu gebaut, abgerissen, repariert oder geändert. Man kommt mit keinem Verkehrsmittel noch irgendwo so durch wie gedacht. Man geht am besten immer zu Fuß, im Grunde kommt mir das entgegen. In den Nachrichten die Meldungen zum neuen 49-Euro-Ticket. Es wird sich für mich wohl nicht lohnen, aus dem eher positiv zu bewertenden Grund, dass ich zu viel zu Fuß gut erreiche. Ich würde es nett finden, so ein Ticket zu haben, wegen des sich vermutlich einstellenden Freiheitsgefühls und einer gewissen Lässigkeit in der Planung der Wege, aber es wäre in etlichen Monaten kein gutes Geschäft für mich. Und auf gute Geschäfte muss man achten in diesen Zeiten.

Ich gehe durch einen Park und habe dabei sogar einen dieser goldenen Oktobermomente, von denen alle immer reden. Für ein paar Minuten passt alles, die Sonne steht richtig und im Gegenlicht leuchtet das Laub glühend rot auf, Indian Summer in Hamburg-Borgfelde. Auf einer leeren Bank vor einem verblühten Beet steht mit Edding geschrieben: „Antifa Area“. Ich setze mich einen Augenblick. Schon aus Prinzip.

An einer Altpapiertonne im kleinen Bahnhofsviertel steht einer und stopft Plastikmüll in den Eingabeschlitz, sieht mich an und nickt freundlich, als wolle er sagen: „So macht man das jetzt.“ Mich wundert ohnehin nichts mehr.

Später und schon im Bett lese ich den gerade verstorbenen Wolfgang Kohlhaase, weil auf Twitter jemand (wer war es noch) erwähnt hat, dass „Erfindung einer Sprache“ eine sehr, sehr gute Kurzgeschichte sei. Das ist es tatsächlich, wenn es auch, das liegt aber nur an mir, dafür kann der Herr Kohlhaase nichts, etwas unangenehme Anmutungen von Schulaufsatzthema hat. Ich lese das dennoch gerne, und Twitter taugt auch mal als Feuilleton.

Danach Dörte Hansen, Zur See, es fängt gut an. Aber das lesen ja eh alle gerade.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 13.10.2022

Eine im Privaten verbleibende Ausgabe, fast jedenfalls.

Something good

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Mann mit Tretroller in Wohnhose.

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Drei Bahnfahrten und ein Todesfall – enthält Tröstliches, das ist ja viel wert in diesen Zeiten.

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Ich habe das nicht gekocht, aber es liest sich gut und ich habe mir gerne kurz vorgestellt, ich hätte Zeit für so etwas: „Wildsuppe mit dunkler Einbrenne nach Art von Omas Ochsenschwanzsuppe.

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Und ich habe für das Goethe-Institut etwas über eine Demo geschrieben: „1,5 Grad Abstand

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Der Oktober ist sonnig und soll schön sein

Die Herzdame und ich machen einen Mittagsspaziergang, das ist bei uns unüblich. Aber der Oktober ist sonnig und soll schön sein, so liest man, vielleicht kann man das irgendwo sehen. Wir gehen einen Weg, eine Richtung, die wir sonst eher nicht gehen. Mal etwas anderes sehen, ungewohnt abbiegen, wir leben wild und gefährlich. Vor allem aber sehen wir Baustellen und Kreuzungen, es war nicht die beste Wahl, wie sich schnell herausstellt. Und überall der Lärm, die Lastwagen, die Busse. Die Baumaschinen, die Kehrmaschinen, and the jackhammer’s diggin‘ up the sidewalks again and there’s always construction work bothering you, das wusste auch Tom Waits und sang davon, and the goddam delivery trucks they make too much noise, das kann man wohl laut sagen, muss es auch laut sagen, man versteht es ja sonst nicht. Ich bin nicht paranoid, aber ist es wirklich Zufall, dass die Männer mit den Presslufthämmern immer dann mit der Arbeit beginnen, wenn ich an ihnen vorbeigehe, wie unabsichtlich kann das sein, nach der vierten oder fünften Wiederholung kommen mir doch langsam Zweifel.

Ich gehe durch Hamburg und durch den Oktober und finde nichts schön, meine Stimmung ist gegenläufig zum Wetter, hat mit golden nichts zu tun und sinkt und sinkt, es gibt Tage, wer erinnert sich noch an den Satz, da tuste bei.

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Am Abend gehe ich noch einmal los, bloß nicht zu schnell aufgeben. Die Stadt um mich herum geht immerhin nicht weg, diese Stadt, die mir gerade nicht gefällt und die ich gerne gegen irgendeine Nordseeinsel tauschen würde, je kleiner desto besser. Ich muss mich mit der Stadt arrangieren, man muss sich überhaupt dauernd mit allem arrangieren, es ist quasi die Hauptbeschäftigung.

Ich sehe mir die Läden und Schaufenster in der Fußgängerzone an, ich gucke nach Krisenzeitensignalen und Auffälligkeiten. Da vorne in dem Bekleidungsgeschäft kostet ein Mantel für Männer 500 Euro, guck an. Es ist ein Mittelklassegeschäft, dachte ich, so mittig, wie ein Geschäft nur ausgerichtet sein kann. Oberhalb von H&M, unterhalb der feineren Herrenausstatter. Und es ist ein normaler Mantel, kein Designstück, keine Edelmarke, auch kein nachhaltig erzeugtes Ökolabelprodukt, kein Kunsthandwerk. Ich habe lange keinen Mantel mehr gekauft und wohl den Punkt verpasst, ab dem dieser Preis normal geworden ist. „500 Euro“ murmele ich anerkennend vor dem Schaufenster und denke, dass meine Outdoorjacke gut noch einen Winter getragen werden kann. Ich kann mich an ihren Preis längst nicht mehr erinnern, die ist noch von Helgoland, und ich bin seelisch schon wieder bei und auf Inseln. Schlimm.

Ansonsten sind trotz intensiver Suche wenig Marker der Zeit zu sehen, wenn man von der Unzahl der Bettlerinnen und Bettler absieht, von all den Schlafsäcken und Isomatten in den Hauseingängen – wenn Sie auf dem Land leben und lange nicht in einer Großstadt waren, glauben Sie mir, Sie können es sich nicht vorstellen.

An einer Parfümerie hängt ein Zettel an der Tür, darauf steht, dass der Laden geöffnet sei, auch bei geschlossener Tür, denn sie sei nur zum Schutze des Klimas zu, nicht aber zur Abwehr der Kunden, also man könne wirklich gern hereinkommen … der Laden ist aber zu und der Zettel lügt also. Dieser Zettel müsste sprachpolizeilich geahndet werden oder zumindest regelmäßig nach Ende der Öffnungszeit entfernt werden. Es ist alles sehr kompliziert geworden, sogar geschlossene Türen sind jetzt kompliziert, man muss alles erst nachlesen.

Ich gehe nach Hause, wo sehr entspannte Söhne Herbstferien haben und ich nicht. Das ist womöglich der Kern der Probleme, zumindest an diesem Tag. Gründliche Selbstanalyse, so wichtig.

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Ich lese am Abend das Buch von Hillary Mantel durch, Von Geist und Geistern, ich lerne viel über Endometriose und die Leidenswege. Ich bleibe dabei, das Buch ist empfehlenswert. Vielleicht doch mal mehr von ihr lesen.

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Einsetzender Regen in 26 Minuten

Ich sitze morgens am Schreibtisch, ich sehe aus dem Fenster, vor dem es zögerlich hell wird. Im Haus gegenüber ist ein Fenster erleuchtet, eines nur. Gelbes Licht, warm wirkt das, und das Fenster geht auf. Eine Frau mit Handtuchturban und in etwas lose Übergeworfenem, das sie vorne mit einer Hand zusammenhält. Sie zündet sich eine Zigarette an und sieht nach oben, in den eisenzaunfarbenen Frühhimmel, durch den Möwen elbwärts ziehen. Dann sieht sie zu mir, winkt kurz und selbstverständlich, ein Gruß in die Nachbarschaft. Ein Rauchwölkchen steigt ein Stockwerk höher, verweht. Auf meinem Smartphone der Wetterbericht, einsetzender Regen in 26 Minuten. Ich wechsele zu französischer Musik. Stets bemüht, Stimmungen zu halten, dranzubleiben. Ich höre Songs von Bastien Lallemant, den kannte ich nicht. Ich schreibe etwas.

Nach ein paar Songs sehe ich wieder aus dem Fenster, es regnet nicht, es sieht auch überhaupt nicht nach Regen aus. Ich sehe aufs Handy, der Regen kommt in 26 Minuten. Ich hänge fest oder die App hängt fest, vielleicht lange schon, wer kann das so schnell beurteilen. Jedenfalls wird alles langsamer und verharrt. Der nächste Song heißt Ralentissons, das kommt von ralentir, ich muss das nachschlagen, es heißt verlangsamen. Der Beispielsatz auf der Französischseite lautet: Je suis la seule à pouvoir ralentir Internet – ich bin die Einzige, die das Internet verlangsamen kann. Was für ein merkwürdiges Anwendungsbeispiel. Ich aber bin der Einzige, der die Wetter-App verlangsamen kann.

Ich schlage ein Buch auf, Mirko Bonné. Ich war doch wieder in der Bücherei, so ist das mit der Sucht. Gedichte sind es, der Band heißt „Wimpern und Asche“.

„Auf dem Parkplatz drüben, in der Mitte

Der frühen Stunde, lehnt sich eine Frau

Mit Wintersonnenbrille an ihren Wagen.

Sie raucht hastig, sie scheint zu warten.“

Ruhig auch mal Gedichte schreiben, denke ich, oder gleich ein Chanson, und ich halte mich dann nicht daran, selbstverständlich nicht.

Gegenüber klappt das Fenster zu und der Tag fängt an.

Später lese ich Hillary Mantel, ihre Erinnerungen: Von Geist und Geistern, Deutsch von Werner Löcher-Lawrence. Ein bemerkenswertes Buch, es beschäftigt mich intensiv und ich bin fasziniert davon, wie ernst sie ihr Kindheits-Ich nimmt und wie sehr sie ihm glaubt, auf eine eher unübliche Art, ich finde das sympathisch. Einfach mal überlegen, ob das Kindheits-Ich am Ende schlicht Recht gehabt hat. In allem. Und ja, die Geister gab es wirklich, natürlich gab es die.

Hier schreibt sie über die Schule:

Die Schule bedeutete eine ständige Einschnürung, das systematische Unterdrücken jedweder Spontaneität. Sie arbeitete mit Regeln, die nie artikuliert worden waren und die sich änderten, sobald man glaubte, sie begriffen zu haben. Vom ersten Tag in der ersten Klasse an war mir bewusst, dass ich dem, was ich dort vorfand, widerstehen musste. Wenn ich meine Klassenkameraden sah und sie ihr jodelndes „Guten Morgen Missis Simpson“ rufen hörte, fühlte ich mich wie unter Geistesgestörten, und die Lehrer, bösartig und dumm, waren ihre Wärter. Ich wusste, ich durfte ihnen nicht nachgeben. Ich durfte keine Fragen beantworten, auf die es offensichtlich keine Antwort gab oder die von den Wärtern nur zu ihrem eigenen Amüsement und als Zeitvertreib gestellt wurden. Ich durfte nicht akzeptieren, dass Dinge über meinen Verstand hinausgingen, nur weil sie es mir sagten: ich musste versuchen, diese Dinge zu verstehen. So kam es zu einem inneren Kampf, und es kostete mich Unmengen von Energie, die eigenen Gedanken intakt zu halten. Aber wenn ich diese Anstrengung nicht unternahm, würde ich ausgelöscht werden.“

Was für ein bewegender Absatz, nicht wahr, man fühlt die Verzweiflung, und wie man sie fühlt. Auch die Irritation über die jodelnden Geistesgestörten. Zu sehr fühlt man das vielleicht.

***

Ich bringe meiner Mutter ein Buch vorbei. Sie hat sich die Haare schneiden lassen, es fiel erheblich kürzer als sonst, wofür es eine besondere Erklärung gibt. Die Friseuse hat ihr eindringlich dazu geraten, damit es etwas länger hält: „Nächste Woche wird bei uns der Preis verdoppelt.“

Ich überlege noch – gehe ich jetzt auch schnell zu meinem Friseur oder laufe ich aus Sparsamkeit demnächst einfach wieder im Lockdownlook herum, also in etwa wie der Mann aus den Bergen? Immer diese Entscheidungen. Na, so lange Haare wärmen ja auch etwas in kalten Zeiten. Aber dann immer die Angst, dass es jemand für einen Precht- oder Martensteinlook hält. Schlimm.

Ein Sohn holt sich ein Gebäckstück vom Portugiesen und ist irritiert: Der Preis ist zum dritten Mal in etwa sechs Wochen gestiegen. Anpassungen in 20-Cent-Schritten. Wir sehen nächste Woche wieder nach.

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Reiß dich doch einfach mal zusammen

ADHD Awareness Month October

Ein Text von Maret Buddenbohm

Der Oktober ist der „ADHS-Awareness-Monat“ und ich möchte das gerne zum Anlass nehmen, die Aufmerksamkeit auf diese Aufmerksamkeits-Störung sowie auf das weitere neurodiverse Spektrum zu richten.

Auch wenn die Themen ADHS, Autismusspektrumsstörung (ASS) und Neurodiversität in unserer Gesellschaft immer bewusster und präsenter werden, gibt es noch viel Unwissenheit und Unsicherheit darüber und ganz besonders, was den eigenen Freundeskreis, die Familie oder einen selbst betrifft.

In meinem Bekanntenkreis kenne ich nur ein bis zwei Erwachsene und ein paar Kinder mit ADHS und nicht eine Person aus dem Autismus-Spektrum. Vermutlich geht es vielen so und man könnte annehmen, dass es neurodiverse Menschen nur woanders gibt, nicht aber im eigenen Umfeld. Ich halte das allerdings für eine Fehlinterpretation und bin mir sicher: sie sind unter uns. Und zwar viele.

Sie wissen es nur selbst noch nicht oder trauen sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht, es öffentlich zu machen. Sie haben gelernt, zu maskieren und sich irgendwie anzupassen. Bloß nicht auffallen! Sie haben (meist unbewusst) Strategien entwickelt, um ihr Anderssein zu verbergen und sind manchmal so erfolgreich damit, dass sie dem genauen Gegenteil eines neurodiversen Menschen entsprechen. So gibt es bspw. perfekte Organisationstalente mit ADHS oder Autist:innen mit einem großen Freundeskreis und sensationellen Smalltalk-Fähigkeiten. Deshalb kommen die meisten Betroffenen nicht mal ansatzweise auf die Idee, sie könnten selbst neurodivers sein. Und wenn doch, dann in der Regel erst spät durch die Diagnosen ihrer Kinder.

Viele Betroffene, die einen ersten Verdacht haben und sich ihrem Umfeld öffnen wollen, machen dann oft die Erfahrung, nicht ernstgenommen zu werden. Da fallen Sätze wie:

„Das gibt es doch nur bei Kindern!“

„Ach, das ist doch nur eine Modeerscheinung, das vergeht wieder…“

oder der Favorit:

„DU? NEIN! Du doch nicht! Nie im Leben! Du bist doch immer so gut organisiert, so sozial, gar nicht hyperaktiv, hast so viele Freunde, hast gar keine Inselbegabung, bist ganz anders als Rain Man…!“

Vielleicht verwerfen die Betroffenen dann den Gedanken wieder oder schweigen weiterhin aus Scham, auch wenn sie sich eigentlich schon sicher waren.

Viele Menschen mit ADHS, ASS etc. scheitern aber auch an dem Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. Eigentlich sind sie sich sicher, dass sie betroffen sind. Sie bekommen aber keine richtige Diagnose, weil die Wartelisten nicht nur unendlich lang, sondern meist auch komplett geschlossen sind. Viele werden auch falsch oder gar nicht diagnostiziert, weil Psychologen, Diagnostiker etc. selbst zu wenig Ahnung haben. Da wird oft fehlinterpretiert oder an anderen Stellen geschaut, bspw. in der verkorksten Kindheit. Es sind auch schon Menschen im ersten Anlauf „gescheitert“, weil sie noch nie ihre Brille verlegt haben (bei Halbblinden, die ohne Brille gar nichts sehen… nun ja…), nie ihre Termine vergessen (… das Wunder der digitalen Erinnerungsfunktionen… aber egal…) oder den Blickkontakt halten können (…jahrelanges Training…). Für viele ist es ein langwieriger Prozess, es gibt wenig Hilfen, dafür werden einem aber viele Steine in den Weg gelegt.

Viele neurodiverse Menschen mussten sich auch schon oft folgende Mantren anhören, vor allem in der Kindheit:

„Reiß dich doch einfach mal zusammen!“

„Du musst dich nur ein bisschen mehr anstrengen!“

„Das kann doch nicht so schwer sein!“

Und wer das schon früh tief verinnerlicht hat, erlaubt es sich vielleicht auch nicht, einfach mal ein bisschen „gestört“ sein zu dürfen und es nach außen hin zu zeigen.

All diese Erfahrungen sind für viele Betroffene die reinste Odyssee, demütigend und entmutigend. Viele haben Angst vor Stigmatisierung oder Ausgrenzung. Es ist oft einfacher auch weiterhin zu maskieren und zu schweigen. Darüber hinaus kosten das bloße Funktionieren und die tägliche Anpassungsleistung so viel Kraft, dass viele neurodiverse Menschen gar nicht in der Lage sind, für sich und ihre speziellen Bedürfnisse einzutreten und aktiv zu werden.

Alles in allem gibt es viele Gründe, weshalb trotz Aufklärung und zunehmender Medienpräsenz die viele Menschen im neurodiversen Spektrum noch immer unsichtbar sind. Und der ADHD Awareness Month ist da die beste Gelegenheit die Sichtbarkeit zu erhören.

Ich bin mir sicher, dass jede:r von euch mindestens eine Person im neurodiversen Spektrum kennt, ggf. ohne es zu wissen. Und jetzt kennt ihr noch eine Person mehr: nämlich mich.

Autistin mit ADHS. Organisationstalent. Noch nie den Haustürschlüssel vergessen oder die Brille verlegt. Immer hochkonzentriert beim Bomben entschärfen. Meist alles im Blick. Große Liebe für Post-its und Checklisten. Kann Blickkontakt halten, wenn es sein muss. Keine Hoch- oder Inselbegabung. Mag ihren großen Freundeskreis und kann auf Partys bis zum Schluss bleiben. Verzeichnet die größten beruflichen Erfolge im sozialen Bereich mit ihren Babykursen. Kann aber tatsächlich nicht gut smalltalken.

Ich habe keine Ahnung, welche Konsequenzen dieses Sichtbarwerden für mich hat. Ob es eine völlig bescheuerte Idee war und es für mich besser gewesen wäre, unsichtbar zu bleiben, wie die anderen? Aber andererseits werden wir beim Thema Neurodiversität einfach nicht weiterkommen, wenn niemand einen Schritt macht.

Über meine Neurodiversität Bescheid zu wissen, hat mein ganzes Selbstbild noch einmal umgekrempelt. Ich habe mich die meiste Zeit meines Lebens als Alien gefühlt. Ich habe das Verhalten der Menschen um mich herum studiert und immer versucht, so zu sein wie sie und bloß nicht aufzufallen. Aber egal wie sehr ich mich auch „angestrengt“ und „zusammengerissen“ habe, das Gefühl anders zu sein, ist immer geblieben. Trotz der vielen Selbstreflexion hat mir immer das letzte Puzzle-Teil zur Erkenntnis gefehlt. Ich musste erst über 40 werden, bis sich alles gefügt hat und ich endlich kapiert habe, was eigentlich mit mir los ist.

Seitdem kann ich etwas gnädiger mit mir sein und darf mich meinen Schrullen auch mal hingeben, was ich mir sonst nie erlaubt hätte. Ich sehe nicht mehr nur das, was ich im Leben nicht geschafft habe. Sondern auch das, was ich trotz meines ADHS und ASS erreicht habe. Ich sehe nicht nur meine Schwächen, sondern kann auch meine besonderen Stärken endlich annehmen und entfalten. Ich weiß jetzt, dass es für mich normal und in Ordnung ist, nach einem 2tägigen Seminar völlig platt und verbraucht zu sein. Oder dass ich einfach nur noch Jobs machen möchte, die meiner Natur entsprechen. Wenn ich Feuer löschen und Bomben entschärfen kann blühe ich richtig auf oder auch wenn ich aus meiner Sicht völlig unlogische Abläufe und Systeme optimieren darf. Ich verstehe jetzt auch, warum ich mal so und dann komplett anders bin, mal wie ein Wasserfall rede und dann wieder die Zähne nicht auseinander kriege. Mal kommt die ADHSlerin und mal die Autistin in mir durch.

Deshalb sind beide Diagnosen wie eine Erlösung für mich, auf die ich viel zu lange gewartet habe und für die ich sehr dankbar bin. Sie machen keinen Psycho aus mir, sondern stärken mich. Und letztendlich ändern sie eh nichts daran, dass ich seit über 40 Jahren bin, wie ich bin, nur jetzt etwas entspannter.

 

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Nach Erwerb eines Raffscheins

Um mich herum ein erheblicher Krankenstand, hoch wie lange nicht, teils mit positiven Testergebnissen, teils mit eher traditionellen grippalen Infekten. Man liegt jedenfalls reihenweise flach, leidet und schwächelt. Wenn man Leuten aus dem Gesundheitswesen in den sozialen Medien folgt – ich bin für jeden Tag dankbar, an dem ich nicht dringend auf das System angewiesen bin, es scheint gerade wegzuklappen.

Auf Twitter stirbt mir schon wieder einer aus der Timeline weg und man kann sich, wie deep ist das denn, dann auch fragen, ob man den Toten weiterhin folgt, wohl wissend, dass sie einem bis in alle Ewigkeit folgen werden, wenn niemand ihren Account endgültig löscht – aber das gehört wohl schon in den November, das greift doch vor. Noch ist der Oktober um uns herum golden und festivalartig, jedenfalls solange man nur intensiv genug auf Bäume im Sonnenschein sieht.

Ich habe auf arte die Super-8-Tagebücher von Annie Ernaux gesehen, aber ich habe eventuell nicht durchgehend aufgepasst. Ich bin in etwa im Alter ihrer Söhne, die Kindheit, die dort gezeigt wird, hat Aspekte, die ich wiedererkenne. Tapeten, die wir auch hatten, Weihnachtsgeschenke, die ich auch damals ausgepackt habe, dergleichen. Man kommt ins autobiografische Nachdenken, wenn man Autobiografisches sieht, man treibt erinnerungsbeladen schnell ab, auch wenn man es gerade gar nicht möchte. Davon abgesehen fand ich es sehenswert.

Nebenbei ein Dank für sehr freundliche Kommentare hier und anderswo, die in die Richtung gehen, ich solle mal (wieder) ein Buch schreiben – ich habe kein Thema, pardon. Oder nein, ich habe vielmehr nur Themen, über die ich sicher nicht schreiben möchte. Und ich schaffe pro Tag auch nicht mehr, als man hier und in den Kolumnen lesen kann, mehr Zeit ist gar nicht verfügbar. Ich müsste also, wenn ich ein Buch schreiben sollte, weniger bloggen, wie herausfordernd wäre das denn?

Aber, wie gesagt, ich wüsste auch gar nicht, worüber. Für Fiktives fehlt mir die Zeit und die Besinnlichkeit, von der ich mir einbilde, sie zu brauchen, um überhaupt auf Ideen zu kommen. Später vielleicht einmal. Viel später. Bis dahin suche ich mir weiter nur Blogbares zusammen wie die alten Leute in den Märchen einst den Reisig im Wald, ich schleppe die Bündel nach Hause und werde berichten.

Reisig, ich habe das gerade auf der Wikipedia nachgelesen, wird auch Leseholz genannt, ein überaus anziehender Begriff. Schön: „Im Land Berlin ist der Erwerb eines „Raff- und Leseholzscheines“ erforderlich.“ Als schreibender Mensch braucht man also, so kann man schließen, erst einmal einen gedanklichen Raffschein, den man sich selbst ausstellen muss.

Ich kann meinen jederzeit vorweisen.

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Mittwochmorgen

Am Morgen ist es seltsam warm und die Vögel singen, der Tag fällt aus der Jahreszeit oder er ist eine eigene, was weiß ich. Wir haben den Frühling im Oktober und den Wintersport in Arabien, es ist jetzt alles, wie die Söhne sagen würden, vollkommen random. Die Nachrichtenseiten aufmachen und sich schon vornehmen, sich über gar nichts mehr zu wundern, fröhlicher Fatalismus. Die Hauptschlagzeile auf der Seite der Tagesschau ist, ich scherze nicht: „Alles unklar.“ Ich nicke kenntnisreich.

Ich mache mein Bett und freue mich schon darauf, mich am Abend wieder hinzulegen. Der Mensch braucht kleine Freuden: Ich denke am Morgen gerne daran, wieder ins Bett zu gehen und ich denke am Abend gerne daran, wieder aufzustehen. Ich mag die frühen Morgenstunden und das Einschlafen, ich liebe beides. Ins Bett ist schön, aus dem Bett ist schön, ich habe ein dermaßen schlichtes Gemüt. In den Nachrufen dann später die zusammenfassende Würdigung: Er stand gerne auf und er legte sich gerne hin.

Der Rest des Tages allerdings, der Rest ist doch regelmäßig eher schwierig für mich.

Ich lehne mich mit dem ersten Kaffee in der Hand aus dem Dachfenster ins Dunkel. Auf dem Hotel gegenüber wehen die Fahnen, Deutschland und Hamburg, etwas gespenstisch werden sie von unten beleuchtet. Das weiße Tor auf der Flagge der Stadt blitzt immer wieder auf und verformt sich aufbauschend, südwestliche Böen zerren am Stoff. Unten an der Alster der aufbrandende Morgenverkehr, einen Block weiter die lärmende Müllabfuhr. Ich lasse den Twin-Peaks-Soundtrack laufen, passende Musik ist stets wichtig.

Zwei Kaffeetassen weiter sehe ich, dass in der Birke drüben am Kirchenbüro lange Goldgirlanden hängen, als hätte man sie wie Lametta daran drapiert. Oktoberlaublocken. Ich trete aus dem Haus und ein älterer Nachbar fragt mich: „Und, stehst du noch in Lohn und Brot?“ Er fragt mich das immer, wenn er mich sieht, es ist eine Frage, die für ihn sicher wichtig war. Ich nehme an, er fragt das alle, die er kennt.

Dann der Arbeitsweg, ich stehe tatsächlich in Lohn und Brot. Runter nach Hammerbrook.

An den Hauswänden Plakate, die zu einer Demo aufrufen: „Miet- und Energiekosten deckeln!“ An einem Briefkasten zwei Aufkleber; „The system is evil“ und „Help the rich!“ Dann weitere Plakate, mit schwarzem Rand diesmal, es wird auf das Ladensterben im kleinen Bahnhofsviertel hingewiesen, es soll einen Trauermarsch für tote Geschäfte geben.

Über den Bürohäusern von Hammerbrook früher Vogelzug, keilförmig dem Wind entgegen, mehrere Geschwader. An einer spektakulär hässlichen Kreuzung wird alles von Bauarbeitern aufgerissen, jetzt ist es da noch schlimmer, ein Unort, das Grauen. Männer mit gelben Helmen sehen in ein riesiges Loch und schütteln den Kopf. „Heilige Scheiße“, sagt einer und nimmt dem Helm ab, „Heilige Scheiße.“ Ein Baggerfahrer beugt sich aus seiner Maschine und ruft; „Ja, was jetzt?“

Mir kommt eine Frau entgegen, die schiebt jemanden, der im Rollstuhl sitzt, und der sieht schrecklich aus. Mit dem stimmt etwas grundsätzlich nicht, er ist ein alarmierender Anblick, da ist etwas grundfalsch, und sie müssen mir erst näherkommen, die Frau und der im Rollstuhl, bevor ich erkennen kann, dass der gar nicht echt ist. Eine menschengroße Puppe sitzt da, bandagiert und mit Kissen gestützt, ein Vorführobjekt für Erste-Hilfe-Kurse vielleicht. Die Puppe hat Klappaugen und als sie neben mir über ein Stück Kopfsteinpflaster geschoben wird, wackelt ein Augenlid hektisch auf und ab, die Puppe zwinkert mir in irrem Stakkato zu, einäugig, das andere klemmt wohl. Dann ein Kantstein und da geht auch noch ein Arm halb hoch, die Puppe zwinkert und winkt mir dabei passiv zu, so wie der tote Ahab damals vom Wal winkte. Was sind das für Tage, die so anfangen, was sind das denn für Tage. „Heilige Scheiße“, murmele ich und gehe in mein Büro.

(Es war dann ein ganz normaler Tag. So ist es ja immer.)

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Figuren in Fenstern

Ein Terminhinweis, Tanja Maljartschuk liest am 19.10. in der Hamburger Zentralbibliothek aus „Blauwal der Erinnerung“. Ich habe das Buch gerne gelesen und werde nach Möglichkeit hingehen.

Apropos Lesen, ich lese abends Drei Geschichten von Flaubert, in der Übersetzung von Elisabeth Edl. Irgendwann vor Jahren habe ich das schon einmal angefangen, vermutlich in älterer Übersetzung, dann weggelegt, jahrelang vergessen, jetzt aber doch wieder vorgenommen. Und wie gut das ist. Flaubert hat Ewigkeiten daran gearbeitet, an diesen drei eher kurzen Geschichten, es war sein letztes Buch und wenn ich den Briefwechsel richtig erinnere, hat er erheblich darunter gelitten, dass er nicht fertig wurde – aber man merkt des den Texten auch an, das Schleifen, das schier endlose Feilen, das Polieren, es sind Sätze und Konstrukte in Perfektion. Das Ende der Geschichte vom Heiligen Julian ist fürchterlich gut, beeindruckend, nachhallend, es ist vielleicht eines der besten Enden, die ich jemals bei Geschichten gelesen habe. Nicht schön, das gar nicht, aber gut.

Ich höre auf den Wegen durch den Alltag und zum Discounter und ins Büro Effie Briest vom ollen Fontane und finde es immer noch gut. Ich habe es damals in der Schule schon gemocht und war damit verhaltensauffällig und ich weiß gut, dass es der Schrecken vieler Schülerinnen war. Gerade neulich wurde das wieder ausführlich auf Twitter diskutiert, das Buch sei so unfassbar langweilig, eine elende Schwarte. Keine Ahnung, warum ich da so anders ticke, aber es gab da neulich einen Dialog mit einem Sohn, der es vielleicht ausreichend erklärt:

Ich: „Was war bei dir jetzt mit Friseur?“

Sohn: „Papa. Du lebst geistig im neunzehnten Jahrhundert. Ich möchte mit dir nicht über Frisuren sprechen.“

Okay.

Es ist ansonsten, Sie haben es vielleicht bemerkt, Oktober geworden. Ich finde das erstaunlich, es kam plötzlich und unerwartet. Das Wetter passt, das sehe ich ein, das Zeitgefühl passt gar nicht und ich denke mittlerweile, es wurde im März 2020 dermaßen gründlich beschädigt, es wird vielleicht nie wieder etwas passen. Das gehört wohl zur Geschichte der Pandemie dazu, dass wir uns seelisch ein für alle Mal vom Kalender getrennt haben und für den Rest unseres Lebens entfremdet auf Monatsnamen und Jahreszahlen sehen. Diese Zeit ist nicht mehr unsere, diese Zeit ist nicht von hier. Morgen ist Mittwoch. Auch komisch.

Das Wetter war heute gut, was ich leider nur daran gemerkt habe, dass ich beim Herumrennen zwischen zwei Verpflichtungen ganz fürchterlich ins Schwitzen geriet. Es war also warm. Auf dem Boden, ich sah es, als ich an einer Ecke kurz etwas auf dem Smartphone checkte, zertretene Haselnüsse, Eicheln und Kastanien, was hier so als urbaner Herbstschmuck durchgeht.

Als ich mir endlich erschlossen hatte, dass heute vermutlich einer dieser goldenen Oktobertage war, sah ich aus dem Fenster, schließlich doch noch gewillt, die Pracht der Natur wenigstens kurz zur Kenntnis zu nehmen. Da war es allerdings schon dunkel geworden. Im Nachbarhaus, das immerhin, übte ein Elternpaar mit den Töchtern, beide etwa im Alter der Söhne, gerade das Tanzen, Figuren in Fenstern. Paartanz, good old Discofox, es wurde viel gedreht, nach jeweils einem Satz Grundschritt, und es sah gut aus, so ohne Musik, nur die Silhouetten am Fenster, das Wiegen, das Drehen, das Hin und Her. Die wehenden Haare, ich glaube, sie hatten Spaß da.

Weil du dem Leben trotzt, tanzt du den Discofox.“ Olli Schulz hat das einmal gesungen (Dann schlägt Dein Herz). Ich kann den Lindy-Hop-Grundschritt noch, ich habe es dann in der Küche probiert, während die Nudeln kochten. Immerhin, dachte ich, immerhin.

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Späte Tracht

Ich hänge im Schreiben hinterher. Es gibt auch Dinge, Begebenheiten, über die schreibt es sich nicht so leicht. Natürlich muss ich über so etwas gar nichts schreiben, das ist das Schöne an Blogs, es ist und bleibt alles freiwillig, aber andererseits – wenn ich nichts schreibe, weiß ich womöglich gar nicht, was ich denke.

Es gab also die bewegende Trauerfeier für Elena, Journelle. Es waren etliche Menschen aus dem Freundeskreis Internet da, darunter viele, die sich in etwa aus dem Jahr 2005 kennen, lange also schon, jahrzehntelang, so können wir es jetzt sagen. Es war nicht die Art von Bloggerinnentreffen, die wir uns damals vorgestellt hatten und der oft geäußerte Satz beim Wiedersehen, dass man sich einen besseren Anlass hätte vorstellen können, er will wohl weiter bedacht werden und wird es auch.

Die Herzdame hat etwas recherchiert, wie wir die Spende „Statt Blumen“ möglichst sinnreich unterbringen konnten, sie fand diesen Verein, bei dem es ums Schwimmen und um Integration geht, wir nehmen an und hoffen, das wäre im Sinne von Journelle gewesen.

Die Feier fand auf dem Ohlsdorfer Friedhof statt, wo ich lange nicht war. Gott sei Dank, möchte man da einerseits sagen, andererseits – es ist dermaßen schön da. Selbst im strömenden Regen ist es schön, selbst an einem ungewöhnlich kalten, nassen Oktobermorgen. Doch mal die Anlagen dort zum Spazierengehen besuchen, doch mal staunend herumgehen, diese unfassbar herrlichen alten Bäume und riesigen Büsche, diese einladenden Wege, trostreich und beruhigend fand ich die. Ich habe, das fiel mir auf, lange keinen schönen Park mehr gesehen, oder doch nur im Vorbeigehen, ich sollte das wohl ändern. Ich sehe überhaupt zu wenig Natur, das ist alles falsch eingerichtet.

Vor unserer Haustür blüht der Efeu. Spättracht sagen da einige reflexmäßig und zeigen auf die Insekten, die leicht übersehene, unscheinbare Blüten in allzu dezentem Grüngelb ansteuern. Ich stehe morgens im ersten Dämmer am Fenster und sehe runter zum üppigen Efeugeranke am Spielplatzrand, es wird schon im ersten Tageslicht gut besucht. Allerdings nicht nur von Insekten, sondern auch von Junkies, die sich dort kleine Päckchen aus den Zweigen pflücken, von anderen vermutlich in der Nacht für sie sinnig deponiert. Die Wohnlage wird mir gerade nicht sympathischer. Es ist etwas anstrengend hier, zumal ich überhaupt nur wach bin, weil eine volltrunkene Frau auf der Straße um 03:45 randaliert hat, das war sogar mir zu früh. Ein gelalltes Lamento in erheblicher Lautstärke, zuklappende Fenster ringsum, in der Ferne Polizeisirenen, ich möchte das alles gar nicht. Oder nicht mehr.

Etwas später das Eichhörnchen unter der Eiche auf dem Spielplatz, possierlich aber immer hektisch, gestresst, getrieben und gehetzt, ein entspannender Anblick geht anders. Es rennt von Eichel zu Eichel wie andere von To-Do zu To-Do, schön ist das im Grunde nicht.

Noch später ein frühes Elternpaar mit einem Kleinkind und Koffern dabei, die haben sicher eine Stunde Überbrückungszeit, bis ihr Zug vom Hauptbahnhof fährt. Niemand sonst ist zu dieser Zeit auf dem Spielplatz, es ist noch zu früh für alles, ringsum sehe ich kaum beleuchtete Fenster. Das Kind will in den nassen Sand und es will vor allem keine Klamotten anhaben, blöde Stiefel, blöde Regenhose, was soll das. Die Eltern lassen es alles ausziehen, helfen auch noch und das Kind schmeißt sich jauchzend in den Sand, strampelt mit den nackten Füßen im Oktobermorgenmatsch. Natürlich wird ihm schnell kalt, und wie ihm kalt wird, bitterkalt. Die Eltern, die in großer Ruhe ein Handtuch aus dem Koffer holen, eine andere Hose. Die das Kind auf dem Schoß abtrocknen, beruhigen, wärmen, es weint jetzt, es ist doch sehr kalt. Die es wieder anziehen, drücken und herzen, die Essen anbieten. Alles langsam und liebevoll, wie schön es ist, wenn das so gelingt.

Apropos Gelingen, apropos Trost: Es gab gebackene Zimtbirnen, nach diesem Rezept. Simpel und gut, das gibt es in der Saison öfter. Langsam und liebevoll habe ich sie gemacht und serviert, also für meine Verhältnisse jedenfalls. Irgendwo anfangen.

Man kann im Winter nicht immer nur Holunderbirnen essen.

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