Die im Nachhinein seltsame Alltäglichkeit des Nichtkennens

Ich bin zwischendurch genervt von meiner Antriebslosigkeit im Urlaub, vielleicht bin ich auch endlich ein wenig gelangweilt. Was ich gut finden würde, denn das war immerhin der Plan. Ich lese jedenfalls etwas in einem Buch von Rebecca Maria Salentin, Klub Drushba heißt es, darin geht es um ihre Wanderung auf dem Weg zwischen Eisenach und Budapest, das sind immerhin 2.700 Kilometer. So weit will ich gar nicht, ich will nur einmal die große Runde um den Hof gehen, das sind etwa 5 Kilometer, das wäre schon gut. Bescheidenheit und Maß! So wichtig.

Ich lese also nur die ersten Kapitel, bis bei mir Motivation eintritt, und das geschieht dann so prompt und der Bucheinsatz war so dermaßen zielgerichtet, ich sollte vielleicht auf Bibliotherapeut umschulen und fremden Leuten mitfühlend passende Bücher zureichen. Aber das nur am Rande.

Ich gehe, ich gucke. Nicht irgendwie gehen, auch hinsehen. Wie so ein Achtsamkeitsapostel, ich habe ja Zeit. Es sind Vögel in der Luft, die kann ich streberhaft alle sofort benennen: Rauchschwalbe, Lerche, Buchfink und Reiher. Ein landender Storch einen Acker weiter, gemächlich segelt er herab. Eine Stockente, die im Graben hektisch paddelnd einen verletzten Flügel vortäuscht und mich so vermutlich vom Nest weglocken will. Wie im Tierfilm, ich gehe durch eine Doku.

Der Wind hat deutlich nachgelassen, aber das Schilf bewegt er doch noch. Ich sehe die Wellen im Schilf, sie sehen aus, als würden die Wellen der Nordsee sich hinter dem Strand entlang der Gräben fortsetzen, bis weit ins Landesinnere hinein, wer weiß bis wohin.

Auch die Pflanzen benennen, genauer hinsehen. Über Ampfer gehen, an der Schafgarbe vorbei, am blühenden Klee. Dort die Wicken, dort die Winden. Geknickter Mohn und aufrechte Ackerkratzdisteln, schmetterlingsumflattert. Lilafarbene Weidenröschen, vielleicht ist die Farbe auch ein mildes Pink, jedenfalls viel davon. Die Farbe prägt den Weg, farblich abgesetzt mit Kornblumenblau, das hat sich alles geschmackvoll selbst ausgesät. Die Wiesenflockenblume. Das blassere Blau des Borretsch. Wie die Farben sich in Blühstreifen verweben, wie gut das aussieht, die Natur ist einfach unfassbar sicher und routiniert in solchen Fragen.

Benennungszauber. All die Namen wissen und murmeln, das ist auch mal schön. Dich nenne ich Glockenblume, dich nenne ich Stockrose. Es gibt, das habe ich mehrfach gelesen, einen Zusammenhang zwischen diesem Benennenkönnen und der Wahrnehmung, das ist auch gut vorstellbar. Was wir nicht mehr bezeichnen können, das fällt aus unserer Wahrnehmung – und damit auch aus der zugemessenen Wichtigkeit. Das ist dann eben nur noch Straßenbegleitgrün und dergleichen, und es ist uns eher egal.

Bei einigen Bäumen kann ich Benennungen schnell und sicher, bei einigen nicht. Birken kann vermutlich jeder, Kiefern vielleicht auch, Kastanien wohl noch. Aber bei Linden schon: Lieber erst einmal mal auf die Blattform gucken. So eine Linde steht nicht da hinten an der Biegung des Pfades und ich denke dann sofort: „Linde.“ So eine Linde will genauer angesehen werden. Man kann das ändern, man kann sie auch aus der Distanz erkennen, und es ist vielleicht lohnend. Man ist dann vielleicht noch mehr in der Landschaft, wenn man so etwas kann, das mag sein.

In meinem Stadtteil in Hamburg kann ich mittlerweile die meisten Bäume und Sträucher im Vorbeigehen benennen. Es ist eine Art Spiel, ich finde das gut. Pokémon ins richtige Leben geholt, es erscheint ein wildes Lindi.

Neben dem abgelegenen Reetdachhaus Büsche, die kann ich nicht erkennen, obwohl sie sicher auch eine typische Form haben. Weißdorn ist es, ich sehe es dann im Vorbeigehen auf kurze Distanz. Weißdorn ist eigentlich einfach. An einer Wildhecke vorbeigehen und alles zuordnen können, so schwer ist das nicht. Pfaffenhütchen, Holunder, Schlehe. Machbar ist das und man sucht sich doch sowieso immer Projekte.

Die Möwe dort ist nicht nur irgendeine Möwe: Eine Mantelmöwe wird es sein, ein großer Vogel mit enormen Flügeln. Kennen Sie das mit den Möwenflügeln und den Matrosenseelen? Hier in der schönen Version von Tim Fischer. Peer Raben hat das Stück geschrieben.

An einem langen Halm, der die anderen überragt, schon wieder ein Schilfrohrsänger, Wie laut der singt, man kann ihn eigentlich nicht überhören. Ein paar Meter weiter dann noch ein Schilfrohrsänger, und das geht so weiter. Die Böschung dieses Grabens ist ein prächtiges Revier. Das wird sicher auch nicht erst seit heute so sein, aber ich komme seit zehn Jahren hier her und ich habe noch nie vorher auch nur einen Schilfrohrsänger gesehen, noch nie.

Erst seit ich neulich den einen gesehen und erkannt habe, sehe ich auch die anderen. Es ist so einfach, sie zu sehen. Ich müsste jetzt schon absichtlich an ihnen vorbeisehen, um sie nicht … aber das geht ja gar nicht. Sie sind nun einmal da, und vermutlich waren sie auch all die Jahre vorher da, ich habe sie schlicht nicht beachtet.

Was mich zur Frage führt, wie deckungsgleich eigentlich das so passiv wirkende Unwissen und die so aktiv wirkende Ignoranz sind – und was das alles erklärt. Da auch mal drüber nachdenken.

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Das Wasser war in jenen Zeiten wärmer

In der ersten Schwimmphase damals stieg ich mit den noch kleinen Söhnen gemeinsam in die Planschzone und suhlte mich stundenlang herumrobbend darin herum. Ich blubberte sogar väterlich-walrosshaft lustig in dem körperwarmen Wasser, das vermutlich zu etwa 50% aus Kinderpipi bestand, was mir aber merkwürdigerweise in diesen Jahren nichts ausmachte, und es war alles schön, lustig und warm, sehr warm.

In der zweiten Schwimmphase konnten die Kinder schon verlässlich schwimmen und kamen also weitgehend alleine klar. Sie vergnügten sich ohne permanente elterliche Aufsicht,  sie erreichten Mindestaltermarken und machten absurde Sachen, sie sprangen also von 5ern oder 10ern und benutzten seltsam aussehende Express-Rutschen mit mehrseitigen Warnhinweisen am Rand und dergleichen, aber ich musste nicht mehr neben ihnen sein und nicht mitmachen, ich musste nur ab und zu mal hingucken und ehrlich beeindruckt „Toll!“ rufen und den Daumen hochrecken. Ich konnte mich währenddessen aber auch auf eine Liege legen und zwei Stunden hochkonzentriert lesen. Noch später konnte ich dabei auch so dermaßen tief schlafen wie zuletzt damals, als ich selbst noch Kind war, auf der Rückbank im Auto irgendwo zwischen Hamburg und Köln, und es war alles sehr entspannt, besinnlich und ich wurde gar nicht mehr nass dabei.

In der dritten Phase, ich habe sie gerade erst freudig erreicht, halte ich kurz vor der Schwimmhalle, drücke den Kindern ein wenig Geld in die Hand und komplimentiere sie dann mit den besten Wünschen für zwei, drei vergnügte Stunden aus dem Auto. Dann begebe ich mich mit der Herzdame direkt dorthin, wo es Lounge-Möbel, Latte Macchiato, Eierlikörtorte und Schatten gibt, wo wir ganze Sätze wechseln können, sogar mehrere nacheinander. Es ist alles sehr angenehm, komfortabel und nur leider auch etwas teurer als früher, als ich lediglich den Schwimmbadfamilienpreis und die Pommes bezahlen musste.

Alle drei Phasen haben zweifellos ihren Reiz.

In einer theoretisch möglichen vierten Phase gehe ich vielleicht wieder alleine in eine Schwimmhalle, um dort einfach mal zu schwimmen, wie son Mensch mit Freizeit und Interesse am eigenen Wohlbefinden. Ich lese ab und zu in Blogs, dass andere das so machen und finde das dann kurz interessant und denke: „Okay, später mal.“

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In einem der Schwimmbäder hier, in dem wir dann doch wieder gemeinsam waren, war, so stand es groß dran, die Temperatur des Wassers abgesenkt worden – die aktuellen Krisen etc., man kennt das, es ist vermutlich bundesweit so, die Gemeinden fangen an zu sparen.

Die Söhne fanden es viel zu kalt, das machte keinen Spaß, früher war alles besser und das Wasser war in jenen Zeiten wärmer, und das war, es sei doch kurz festgehalten, der vermutlich erste und noch sehr harmlose Einschlag von „Die fetten Jahre sind vorbei.“

Der erste von vielen, die wir wohl zu erwarten haben. Ich werde nach Möglichkeit berichten.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 20.7.2022

Die Kaltmamsell über autobiografisches Erzählen. Das mit dem Leseverbot kenne ich, weil es doch die Augen verdarb, wenn man zu lange las, und was ist Lesen, wenn man nicht zu lange liest. Lustigerweise sagt man heute den Kindern, dass zu viel Bildschirmzeit die Augen verdirbt, was vielleicht darauf hinweist, dass in jeder Generation die Lieblingsmedien der Kinder die Augen verderben, vielleicht verderben aber auch Podcasts auch schon die Ohren, das mag sein. Die Augen verderben, was für ein Ausdruck überhaupt. Im Kühlschrank die Joghurts und im Kind die Augen, sie sind verdorben.

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Das Heizen, die Hitze, das Private ist politisch, auch unsere Suche nach Schatten.

Einigermaßen dreist fand ich neulich diesen, was war er denn, CEO, Aufsichtsrat oder irgendwas, von einem deutschen Konzern, der in der Presse meinte, die Angestellten sollten im Winter doch lieber wieder Home-Office machen (was er vor Wochen vermutlich noch eher doof fand), denn dann könnte die Firma die Temperatur in den Büros absenken und Geld sparen, und die Leute könnten dann doch „zuhause normal heizen.“ Eine bemerkenswerte Formulierung, denn wenn ich normalerweise im Büro bin, heize ich normalerweise zuhause nicht eine leere Wohnung.

Man wird von diesem Thema noch hören, nehme ich an, wenn es so schlimm kommt, wie viele jetzt annehmen.

Ansonsten in Gesprächen mehrfach gehört, wie diese etwas tantenhaft anmutenden Spartipps zu Strom und Gas wiedergekäut werden, die gerade durch die Medien gehen, mit der Schlussfolgerung: Machen wir doch schon alles. Niemand in meinem Umfeld sagt: Okay, ich mache dies und das, dann spare ich mindestens 25%, super. Siehe dazu auch hier. Man beachte das Wort Pulloverpotential, wir lernen ja dazu und tunen den Wortschatz jetzt schon für den kalten, den bitterkalten Herbst und für den Winter unseres Missvergnügens, der es wohl werden wird.

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Hinter dem Gemüsestand verwirbelt ein Ventilator die Luft. Daneben ein Aufsteller für „Erbsensuppe mit Einlage“; eine Frau mir kräftigen Armen rührt in einer Gulaschkanone. Rentner schlurfen über den Platz, am Arm Einkaufsnetze mit Gemüse.“ Aufschreiben, was ist. Sehr schön ist das.

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The end is near.

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Maritime Möglichkeitsluken

Ich lese am Abend die Nachrichten nach, jemand sagt da gerade irgendwas von einem Möglichkeitsfenster. Ich sehe hoch und aus dem Fenster hier, ob das wohl so eines ist? Und gibt es auch Möglichkeitstüren oder -klappen, gibt es draußen auf der Nordsee, wo der Wind endlich nachlässt, maritime Möglichkeitsluken, die man tatendurstig aufstoßen kann?

Vor dem Fenster das üppige Grün, die Bäume, die Weiden und Äcker. Weiter hinten grast eine Reitmöglichkeit. Alles als Potential betrachten! Auch die unreifen Äpfel am Baum lassen, als Wette auf die Zukunft. Möglichkeitsobst. Alles langsam kommen lassen.

Ich mache Twitter auf, ich sehe Werbung für chinesische Industriegebiete. Vielleicht für den Fall, dass ich gerade eine Fabrik irgendwo hinstellen möchte, wie früher ein Haus oder Hotel bei Monopoly? Ach komm, eine geht noch, na gut, nach China. Und dann zurücklehnen, wieder würfeln und warten, was die anderen machen. Guck an, sie ziehen Ereigniskarten und treten an Möglichkeitsfenster, so geht das Spiel.

Ich schalte diese Werbung stumm, es kommt aber gleich die nächste, die wirbt für ein anderes chinesisches Industriegebiet. Nochmal nachdenken, immer alles ernst nehmen, was sich so aufdrängt. Neulich sah ich dort auch die Werbung eines Rüstungskonzerns. Vielleicht für den Fall, dass ich beim Themenbereich Artillerie ein Spontankäufer bin? Kann ja sein. Kann ja alles sein. Es wird sich doch bei allem jemand etwas gedacht haben. Was wäre das sonst für eine Welt.

Die Reitmöglichkeit geht währenddessen rechts aus dem Bild.

Ein schönes Fotoprojekt für diesen Sommer wären Desinfektionsmittelspender in allen Stadien des Verfalls gewesen. Wie die sämtlich leer, beschädigt, vergessen, vernachlässigt, ignoriert noch an den absurdesten Orten hängen, auch hier mitten im Stall. Ein Fotoalbum nur mit solchen Bildern, Desinfektions-Tristesse. Beim Discounter in der Nähe ist noch einer in Betrieb, heil und voll ist er, dicht neben ihm nimmt man sogar im Vorbeigehen den Duft des Desinfektionsmittels wahr, es riecht nach Herbst 21. Das ist sehr lange her.

Das Folgende können Sie ignorieren, wenn Sie mir auf Twitter ebenfalls folge, ich habe das dort auch schon gepostet. Eine kleine Begebenheit von gestern ist es nur.

Wir waren auf Sylt, mit der Bahn (der Zug war pünktlich). Wir sind mit dem Bus dann noch ganz in den Norden der Insel gefahren, nach List. Da war ich vor, was weiß ich, 27 Jahren oder so schon einmal, und ich wusste noch, ich fand es gut da. Das wollte ich noch einmal sehen. Wir gingen an den kleinen Strand neben dem Hafen.

Die Söhne sehen, wie vermutlich alle Teenager, permanent aufs Handy, wenn man nicht fortwährend interveniert. Die Söhne bekommen bei Ausflügen von Bahn- und Busfahrten nicht viel mit.

Wir saßen also in List am Meer. Es ging ein nur noch milder Wind, es war eine überaus angenehme Temperatur, während es im Rest des Landes heiß wurde. Es war ein sehr entspannter Tag, sehr friedlich, sehr weit weg von allem. Großartig war das.

Es war leer und schön dort. Ein rotweißer Leuchtturm in der Ferne, eine rotweiße Fähre, ein blaues Meer, weiße Möwen. Ein Sohn aber wirkte die ganze Zeit auffallend nachdenklich.

Schließlich fragte er, was ihm die ganze Zeit keine Ruhe ließ, den Kopf hat er sich zerbrochen, lange hat er darüber nachgedacht: „Papa. Ich weiß, wir sind Zug gefahren. Wie können wir jetzt auf einer Insel sein?“

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Eine etwas schmuddelige Veranstaltung

Ich lese Robert Louis Stevenson, Das Licht der Flüsse. Deutsch von Alexander Pechmann, hier eine Rezension dazu. Das ist Stevensons Erstling und vom Stil her etwas, das man heute zwischen Reiseblog und Kolumnenserie einsortieren würde. Dass er schreiben konnte, ist auch in diesem Buch schon nicht zu überlesen. Der hoffentlich große Freundeskreis Stevenson kann sich über zwei Stellen freuen, die auf spätere Werke verweisen, zum einen bei seiner Begeisterung für Landkarten (Die Schatzinsel) und bei einer bemerkenswert modern wirkenden Betrachtung über verschiedene Ich-Zustände (Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde).

Ich mochte besonders eine Umschreibung des Alltags, Stevenson spricht da von der „bärenhaften Umarmung der Gewohnheit“. Den Ausdruck mal merken.

Und dann noch eine kleine Passage für alle, die während einer Reise im E-Mail-Account ihrer Firma eingeloggt bleiben, wie es immer häufiger zu erleben ist, gerade jetzt, wo das Home-Office bis an die Strände und in die Berge und sogar bis zu fernen Inseln reicht. Stevenson hat schon in den späten Siebzigern des Neunzehnten Jahrhunderts, als der Individualtourismus gerade erst erfunden wurde, ganz richtig festgestellt:

„Niemand sollte auf einer Reise Korrespondenz führen. Es ist schlimm genug, dass man schreiben muss, aber Briefe zu erhalten ist der Tod jeglichen Urlaubsgefühls.“

Recht hat er gehabt, aber zu der Erkenntnis müssen viele wieder neu kommen.

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Wir waren ein paar Stunden am Strand von Sankt Peter-Ording. Ein paar Stunden reichen uns dort meistens, wir sind keine Strandfamilie. Das Wetter war aber auch nicht ganz danach, Reste der Oktoberfrische des letzten Sturmtiefs waren noch in der Luft.

Über dem Strand von Sankt Peter-Ording war so dermaßen viel weißblaues Oben, dass man trotz der unweigerlichen Wimmelfülle von Menschen um uns herum dennoch ein Gefühl von Weite und Leere hatte, ein immer wieder faszinierender Effekt.

Der Wind, der Wind, immer der kalte Wind, ohne Strandmuschel ging es nicht. Man brauchte einen Schutz, ohne konnte man dort unmöglich liegen, man brauchte irgendetwas, dass man aus dem Wind und mindestens halb in die Sonne drehen konnte. Natürlich brauchten diesen Schutz alle, was wieder dieses merkwürdig futuristisch wirkende Bild ergab, ein schier endloser Strand voller Plastikhalbkugeln in Neonfarben und allen Stadien der Buntheit, aus denen eingeölte Körperteile in den weißen Sand ragten. Tausendfach, unabsehbar, kilometerweit. Wie anders dieses Stranderlebnis im Vergleich zu den Strandtagen meiner Kindheit ist, das ist kaum noch zu erklären und wird für deutlich jüngere Menschen schwer vorstellbar sein. Wir damals in der aus heutiger Sicht seltsam unfrohen Bademode, die Frauen und Mädchen mehrheitlich oben ohne, die meisten Erwachsenen lässig rauchend und Kippen in die Gegend werfend, nicht eben wenig auch mit Alkohol dabei, und alle, alle waren wir durchweg dunkelbraun verschmort oder krebsrot – es ist doch mittlerweile verdammt lange her, auch kulturgeschichtlich. Aus heutiger Sicht waren wir eine vielleicht etwas schmuddelige Veranstaltung. Und nicht einmal der dick wabernde Geruch von Delial ist uns durch die Jahrzehnte erhalten geblieben. Delial bräunt ideal, an jedem Kiosk stand das damals auf einer gelben Werbefläche mit eingelassenem Thermometer, natürlich nach Süden ausgerichtet.

Heute sind all die kugeligen Windschutzdinger selbstverständlich grellbunt, die Badebekleidung ist es auch. Sogar die dunklen Pfähle im Sand haben Markierungen in leuchtendem Neon-Orange und oben, die vielen, vielen Lenkdrachen, sie knallen genauso. Wenn man über den Strand geht, gerät man leicht zwischen die Strippen der Drachen, überall lässt jemand gerade so ein Gerät steigen. Windschutzkugeln, , Neonfarben und Sportdrachen, ich liege auf dem Rücken in meiner Mupfel und lese und fremdele.

Die Söhne ziehen lieber einen Strandabschnitt weiter, wo sie andere Menschen vermuten, die sie für nennenswert interessanter als ihre Eltern halten, das ist gut und richtig und altersgerecht. Ich liege und lese, was soll man am Strand auch sonst machen. Ich schlafe ein, das ist die Erlösung. Erst am Abend, als wir längst wieder woanders sind, fällt mir auf: Ich habe das Meer gar nicht gesehen.

Ob es wohl da war?

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Von irgendwoher ruft ein Kuckuck

Das Wetter auf Eiderstedt ist streifig. In dem einen Moment ist es grau und von so ausgesprochen oktobriger Temperatur und Nässe, dass sich die zahlreichen Meldungen und Warnungen bezüglich Hitze und Dürre in sämtlichen Medien etwas absurd lesen, es muss da um einen anderen Kontinent gehen. Im nächsten Moment reißt es plötzlich auf, die Temperatur steigt in der Sonne sprunghaft, schultintenblauer Himmel präsentiert sich mit dezent weißem Flor, nur an den Rändern wird er weiterhin oder schon wieder dunkelgrau heranstürmend bedrängt, und wie gut das aussieht. Weil der Himmel hier immer gut aussieht, quasi Hauptvorteil dieser Gegend. Ich vertreibe mir die Zeit als Max-guck-in-die-Luft, und das ist sehr gut so.

Im Wohnzimmer neben dem Tisch mit dem Notebook ein Fenster, das ist von außen mit Weinlaubvignetten bewachsen, die in der immer wieder durchbrechenden Sonne frisch grün aufleuchten. Silbrige Spinnenfäden kreuz und quer davor und wenn man an die Scheibe herantritt, sieht man außen in den unteren Ecken, rechts und links, zwei genau gleich aussehende und ausgesprochen edel geformte Vogelnester auf den Ziegelumrandungen der Fenster, elegante Halbkugeln mit feinster Moos- und Flaumpolsterung, derzeit unbewohnt, obwohl in bester Lage. Aber diese Symmetrie der Gebilde, dieses intensive Grün, diese überaus lässigen Kurven der feinen Weingirlanden, diese funkelnden Glitzerfäden … Man könnte glatt noch einmal auf den Jugendstil kommen.

Ich lese, ich schreibe, ich sehe aus diesem Fenster, ich finde das überaus unterhaltsam. Oben nur ein kleines Stück Himmel, das Fenster ist wirklich fortgeschritten zugewachsen. In den alten Apfelbäumen davor schlagen aprikosengroße Äpfel im Wind wild aneinander und fallen früh. Ich sehe dezentes Rot auf den Äpfeln, ich sehe oben Blau, ich sehe Grün – und dann steht da auf einmal ein riesiger Greifvogel im Blau, genau in dem kleinen Stück, das ich sehen kann. Steht da oben wie angeschlagen, zur ausgiebigen Betrachtung freigegeben.

Aus einem anderen Fenster sehe ich Windkraftanlagen am Horizont und bin mir nicht sicher, ob ich die von hier aus immer schon sehen konnte. Vielleicht sind sie neu? Waren die im März denn wirklich auch schon da? Oder wurden sie schnell hochgezogen wegen der Weltlage, die Mühlen der anzustrebenden Unabhängigkeit? Na, das ist nur ein bemüht konstruktiver Gedanke, ich weiß. Aber besser als nix.

Ich gehe raus, ich gehe spazieren, ich sehe zum ersten Mal einen Schilfrohrsänger. Wie im Vogelbestimmungsbuch hängt er an einen langen und stark schwankenden Halm gekrallt und singt beeindruckend laut. Verstummt dann, als er mich sieht und taucht geräuschlos ab ins Schilfdickicht. Von irgendwoher ruft ein Kuckuck, der Wind trägt es mir zu. Ich habe seit Jahren keinen Kuckuck mehr gehört, ich bin zufrieden mit den Ereignissen des Tages.

Ein Lamm kommt vorbei, während ich im Strandkorb sitze. Es stupst mich fordernd an, es möchte gekrault werden. Das kann man als Mensch nicht, denke ich. Mal eben Fremde anstupsen, wenn man gekrault werden möchte, und dann nach drei Minuten einfach grußlos weitergehen, als sei es ein vollkommen unverbindlicher Vorgang gewesen. Sich nicht einmal den Menschen merken, nur weitermachen.

Das Buch neben mir ist von Edith Wharton, Das Riff, Deutsch von Renate Orth-Guttmann. Edith Wharton habe ich mir für Urlaube aufgespart, und das war eine gute Idee, denn ihre Bücher sind exzellent, meisterhaft, genau wie erwartet. So viel Feinheiten auf einer Seite. Ich komme nur langsam voran, aber das macht nichts.

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Ohne jeden Zusammenhang, ich fand diese Übersicht bei der Republik zu Long-Covid gut lesbar und interessant. Die Republik ist immer wieder empfehlenswert.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 16.7.2022

Eine neue Monatsnotiz von Nikola, dann ist wohl zwischendurch schon wieder ein Monat vergangen. Wer soll da noch mitkommen.

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Ein technischer Hinweis zum Datenschutz für Bloggerinnen und Blogger, es gibt eventuell etwas zu tun.

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Ich habe für das Goethe-Institut etwas über Gemeinschaften, Arbeit und Teams geschrieben.

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Es ziehen Schauer übers Land

„Es ziehen Schauer übers Land“, so steht es im Wetterbericht, und es klingt nach Lyrik oder wenigstens nach Volkslied:

Während ich die Liebe fand

zogen Schauer übers Land

Humtata, repeat zwo drei

Es wird doch gerade allgemein über Songtexte debattiert, nicht wahr? Ich habe die entsprechenden Artikel nicht gelesen, ich habe nur die Schlagzeilen gesehen, das reichte mir schon. Ich muss mich nicht für alles interessieren, schon gar nicht im Urlaub. Neulich habe ich, fällt mir dabei ein, auf Spotify einen Roman gehört, in dem es um russische Aussiedler in Deutschland ging, um ein eher sauberes und eindeutig feuilletontaugliches Thema also, aber die Autorin wurde, ich vermute eine schwere Fehlfunktion der Algorithmen, von Spotify in Richtung Porno klassifiziert, eine für sie sicher äußerst unangenehme Situation.

Unter „Ähnlich wie …“ bekomme ich jetzt jedenfalls Vorschläge, also man macht sich keinen Begriff. „Ein Sommer ohne Höschen“ ist noch harmlos. Oder das mich vom Titel her erheiternde „Sommersex – Mach‘s mir im Garten.“ Gib mir Unkrautnamen, denke ich und gehe bemüht kultiviert zu Maupassant über, Boule de suif, heute noch ein Meister- und Lehrstück über Stimmungsänderungen in Gruppen und soziale Ausgrenzung, geradezu gruselig gut ist es. Wie überhaupt der ganze Maupassant noch süffig les- oder hörbar und oft sogar noch gültig ist, siehe etwa auch Tschechow im Russischen, so etwas haben wir im Deutschen wohl nicht. Fontane, Storm oder Raabe jedenfalls haben nicht diese erhalten gebliebene Leichtigkeit des Tonfalls.

Draußen immer noch und immer wieder der stürmische Wind. Eine Schwalbe startet aus dem Nest und bleibt in einer Böe über dem Dach der Scheune kurz stehen, es geht nicht weiter, es kommt ihr einfach zu viel Luft entgegen. Dann kehrt sie um und fliegt schimpfend zurück zum Nest, keine Schwalbe möchte man vor die Tür jagen in diesen Stunden. Ein Schmetterling wird quer über den Hof katapultiert. Es ist mir ein Rätsel, wie Schmetterlinge es bei ihrer Körperkonstruktion schaffen, bei starkem Wind noch zu fliegen. Wieso werden sie nicht Sekunden nach dem Start gegen irgendwas geklatscht und zermatscht, wie steuern sie die wilde Fahrt?

Die Herzdame geht über den Hof, bückt sich und streichelt das Lamm, das dort unverzagt grast. Dem Lamm ist der Wind vollkommen egal, auch die heute eher spätherbstliche Temperatur, es trägt ordentliches Outdoorzeug. In der üppigen Wolle des Schafes aber haben sich Dornen verfangen und die kraulende Herzdame schreit auf, zuckt zurück und besieht sich einen ihrer Finger, von dem Blutstropfen märchenhaft rot ins Gras herabfallen. Sie hat sich an einem kuscheligen Lamm gestochen, das muss man auch erst einmal schaffen. Ich nehme es selbstverständlich als erneuten Beleg ihrer Prinzessinnenhaftigkeit, so viel Märchenland muss sein.

Ein paar Meter weiter ringt ein kleiner Junge mit seiner etwas größeren Schwester um einen leeren Eimer, den eines der Kinder zuerst hatte und unbedingt behalten will, was wohl nur mit Gewalt zu klären ist. Sie schlägt ihn, er tritt sie schließlich, sie fällt hin, in einiger Entfernung zu ihrem Kopf liegt ein großer Stein als Wegmarkierung. Sie zeigt empört darauf: „Davon kann man sterben!“ Der Junge besieht sich die Entfernung, schüttelt energisch den Kopf und sagt: „Davon sterbst du nicht.“

Das hätte ich zur Herzdame mit dem blutenden Finger selbstverständlich auch sagen können. Aber es ist jetzt zu spät und ich möchte ohnehin Freundlichkeit vorziehen, wann immer es mir möglich ist.

Das Lamm kackt, der Hund kommt und frisst auf, was da dann liegt. Kreislaufwirtschaft, denke ich kenntnisreich, das ist auch schön und wichtig.

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Beaufort sieben bis acht

Der Kies knirschte unter den Reifen als wir auf den Hof mit den Ferienwohnungen einbogen und parkten. „So“, sagte ich, und „Oh, schon da“, sagte ein Sohn, sah überrascht von seinem Handy hoch und irritiert nach draußen, eben war da doch noch Hamburg. Man hätte unseren Gesichtern vermutlich ansehen können, dass wir nicht zum ersten Mal hier hielten. Es fehlte uns diese gewisse Unsicherheit, Neugier, Skepsis und Vorsicht, die man bei ersten Malen hat. Es fehlte dieses minutenlange Stehen und Gucken, mit dem Touristen in aller Welt Einheimische in den Wahnsinn treiben. Es lief alles eher routiniert ab und die Jungs stiegen aus, öffneten den Kofferraum und fingen ohne Nachfragen an, die Sachen in die Wohnung zu tragen, also gefühlt wie immer den halben Haushalt.

Wir waren gut durchgekommen. Das ist eine Wendung, die im deutschen Smalltalk von erheblicher Relevanz ist, es ist alles gut, wenn man gut durchkommt. Als müsse man sich durch enge Autobahnen zwängen, so klingt das, es ist im Grunde ein ganz falsches Bild. Wie immer war es so, dass die lokalen Medien voller Warnungen waren, an den Tagen vor unserer Abreise und dann im Crescendo bis zum Tag des Aufbruchs, überall waren Warnungen, fahrt nicht, fahrt anders, fahrt später oder früher. Es waren rekordmäßige Staus vorhergesagt worden, die sollten von der Großstadt bis an die Küste reichen und an den Ausweichstrecken und Umleitungen liefen sich die ADAC-Propheten mit den großen „Kehret um!“-Schildern schon warm.

Wie immer war dann aber gar nichts und die Fahrt verlief eher so, als hätten nur wir diese höchst spezielle Idee gehabt, Richtung Nordsee zu fahren, als sei das sonst eher nicht so üblich. Lediglich den absurden Stau zwischen unserer Garage und der ersten Ampel, in dem wir immerhin eine nervtötende halbe Stunde standen, der am Hamburger Triathlon lag und meine Aversion gegen Großveranstaltungen aller Art weiter verfestigte, den hat natürlich niemand vorhergesagt. Vor dem Großen wird laut und sinnlos gewarnt, doch im Kleinen erwischt es dich dann hart und überraschend. Man darf hier Tiefsinn vermuten, aber ich kann auch nicht immer über alles nachdenken. Schon gar nicht im Urlaub.

Ich begrüßte den Hofhund, den ich schon seit seiner Welpenzeit kenne, und nahm gefasst zur Kenntnis, dass die Katzen sich nicht einmal nach mir umdrehten. Sie hatten gerade keine Zeit, denn sie waren intensiv damit beschäftigt, in exakt paralleler Körperhaltung eng nebeneinander zu dösen. Eine Beschäftigung, in der sie es zu großer Kunstfertigkeit gebracht haben, sie beherrschen auch das unmerklich abgestimmte Umdrehen in Perfektion, ich beobachte es schon seit Tagen staunend. Sie machen nennenswert mehr Nickerchen als ich, das will im Moment etwas heißen, und ich bin überhaupt nicht geübt darin, mit der Herzdame in synchronisierter Haltung zu liegen. Bei Katzen sieht das definitiv gut aus, ich weiß nicht recht, wie es bei uns wäre.

Dicht über uns die Schwalben, von denen ich etliche vielleicht schon aus dem Vorjahr kannte. Aber es war da so ein Durcheinander am Himmel, ich hätte mich nicht festlegen wollen. Und auch die Schwalben hatten keine Zeit, keine Zeit, sie jagten wie immer nur so durch ihren Tag.

Auf der Weide gegenüber standen Schafe mit ihren Lämmern. Groß sind sie geworden, und bei einigen von ihnen waren wir bei der Geburt im März dabei.

Es war kühl, es kam Wind auf, es war Pulloverwetter, Wir kamen aus unserer wie in jedem Sommer stark aufgeheizten Dachgeschosswohnung, wir kamen aus dem Garprozess der urbanen Hitzewellen, wir fanden das also erst einmal gut, das mit den Wolken und dem Wind, wir atmeten.

Beaufort sieben. „Grobe See“ heißt es da in der Beschreibung, bei Beaufort acht steht dann aber nicht „saugrobe See“, obwohl das irgendwie passend klingen würde. Beaufort sieben bis acht. Die See kann man von hier aus nicht sehen, es sind noch etliche Kilometer bis zum Meer, wir hörten nur den Wind und den Sturm und ahnten, wie grob es da draußen zuging.

Auf der Leine hinterm Haus wehten die Laken, wie Segel stramm im Wind. Darunter ein grasendes Lamm, das uns kurz ansah und fragend „Mäh?“ blökte, und da habe ich es wieder deutlich gemerkt – man hat längst nicht auf alles eine passende Antwort.

Aber das muss man auch nicht. Schon gar nicht im Urlaub.

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Für mich den knirschenden Kies

Ich lese Jane Gardam, das Mädchen auf den Felsen, Deutsch von Isabel Bogdan, deren Blog nicht mehr ganz so aktiv ist, um es dezent auszudrücken. Andere Leute kommen auch zu nichts, ich will es tröstlich finden.

Das Buch gefällt mir jedenfalls sehr gut. Ich werde, das kann ich glaubhaft nach der ersten Hälfte beschließen, auch den Rest der Gardam lesen. Ich verliebe mich etwas in die Formulierung “keine Hobbys beschmutzten den Haushalt“ und freue mich noch Stunden später darüber, so soll das Lesen sein. Das Mädchen auf den Felsen ist allerdings schmal und schnell gelesen, ich habe dummerweise gerade keine anderen Gardams in Griffweite und greife daher zu Elizabeth Bowen, zu Kurzgeschichten von ihr. „Sommernacht“ heißt der Band, Deutsch von Sigrid Ruschmeier. Und wenn Sie mal einen wirklich sensationell gelungenen Übergang zwischen zwei Büchern hinbekommen wollen, was ich übrigens für eine stark unterschätzte Kunst halte, dann lesen Sie Bowen nach Gardam, es wird ein spektakulärer Erfolg sein. Als würde man nacheinander zwei Pralinen aus derselben Schachtel essen, als würde man die Werke von Schwestern lesen.

Ich befinde mich auf Eiderstedt, ich lese englische Bücher. Sie spielen zu Zeiten, als Geschichten noch damit begannen, dass Autos, die man sich heute als prächtige Oldtimer vorzustellen hat, auf dem knirschenden Kies vor Herrenhäusern hielten, was man auch aus Filmen sattsam kennt, genau diese Sequenz, tausendfach wurde sie gedreht und beschrieben und ich lese also wieder einmal davon. Der Kies knirscht, der Wagen hält und in dem Moment, in der Sekunde, in der ich mit den Augen über diese Zeile fliege, knirscht der Kies vor dem großen Bauernhaus, in dessen Dachkammer ich gerade liege, und ein Wagen fährt vor. Ein Moment von erheblicher Schönheit ist das. Der Schlag klappt, Schritte auf dem Kies, Hühnergackern im Hintergrund, noch weiter weg steht dunkel rufendes Vieh auf der Weide, zwei Atemzüge Pause, dann setzt die Nachtigall ein.

Dafür mache ich Urlaub, glaube ich, hauptsächlich für so etwas.

Dann fällt mir ein, dass ich den knirschenden Kies auch nehmen kann, um hier demnächst weiter zu erzählen, auch wenn das Blog kein Roman ist und auch keiner werden wird, den knirschenden Kies gibt es doch und ich sitze als Autor vor einer Speisekarte mit möglichen Anfangssequenzen, überlege etwas und sage dann zu dem heraneilenden Kellner: „Für mich zuerst den knirschenden Kies, bitte.“

Denn auch als wir hier ankamen, auf dem Hof auf Eiderstedt, bogen wir auf eine Kiesfläche ein, knirschte es unter den Reifen, und genau da will ich also in Kürze fortsetzen. Sobald ich dazu komme und die Kraft wieder reicht, diese Kraft, an der es mir immer noch mangelt.

Ich habe mit etlichen Menschen gesprochen, die Corona hatten, es besteht ja kein Mangel an Gelegenheiten, es ist im Moment eher eine Überfülle vorhanden, alle hatten es gerade, haben es gerade oder bekommen es heute noch. Viele berichten von bleibender und bleierner Müdigkeit, von Schwäche und Erschöpfung, viele berichten, detailliert sogar, was sie alles wie lange nicht konnten. Bei mir ist es etwas anders. Ich glaube, ich kann alles (diesen Satz lieber nicht aus dem Zusammenhang reißen). Also theoretisch zumindest kann ich alles. Körperliche Kraft hätte ich wohl, mir fehlt nur komplett und ich denke sogar in einem mir bisher unbekannten Ausmaß jeglicher Antrieb, ich denke fortwährend, hauptsächlich und in Bezug auf alles: „Nein.“ Da ich Corona hatte, kann ich es einfach darauf schieben, das ist praktisch und entlastend. Wochenlang kann das dauern, so lese ich bei anderen, die mir vorausgingen, und mit Long-Covid hat das noch nichts zu tun, das immerhin. Vermutlich liegt dieser Urlaub als Zeit der Rekonvaleszenz also recht praktisch im Kalender herum. Das war nicht geplant, aber es geht gut auf, möchte ich annehmen.

Ich gehe spazieren. Ich gehe zwei Weiden weit, ich denke „Ach, reicht auch.“ Dann denke ich: „Mist, jetzt noch alles zurückgehen.“ Ich stehe unmotiviert in der Landschaft herum, Kühe sehen mich an. So in etwa fühlt sich das an.

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