Links am Morgen

Gabriele Reuter. Nie gehört, und das ist es eben.

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Vanessa spricht mit … eine weitere Folge mit dem Notarzt Daniel Dreyer. Sehr guter Podcast, dicke Empfehlung.

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Marina Weisband über die Schule in der aktuellen Situation.

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Frau Herzbruch über die Schule in der aktuellen Situation. Ich suche währenddessen immer noch die Antwort, wie es denn diesmal bitte gehen soll, die Kinder und die Berufe gleichzeitig zu betreuen. Es muss ja eine geben, der März ist lange her und es gab Zeit genug. Ich habe die Lösung sicher einfach übersehen oder komme nicht darauf oder … ja, schon gut.

Dennoch wird es in diesem Jahr bei uns anders laufen. Vonne Psyche her. Die Herzdame und ich haben nämlich einen Dreh gefunden, der Situation offensiver zu begegnen, aktiver zu sein und uns selbstwirksamer vorzukommen, wir haben jetzt ein ganz anderes Mindset, wie manche Menschen sagen. Und zwar haben wir diesmal der Schule eine Mail geschrieben, bevor sie uns welche schreiben konnte. Gleich am ersten Januar haben wir das gemacht, da haben die nicht mit gerechnet. Und was immer jetzt noch passiert – wir führen immer um einen Punkt.

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Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci! 

Erst kommt der Titel, dann kommt der Rest

Man bekommt den Start des Jahres nicht recht mit, wenn man nur Home-Office macht. Man sieht die Stimmung der Stadt nicht, fühlt sie nicht, hört sie nicht. Ich sehe am Morgen nur den dunkelgrauen Himmel vorm Dachfenster des Zimmers von Sohn I, das ich okkupiere, weil er den besten Schreibtisch für meinen Rücken hat. Den Sohn habe ich ausquartiert, schlaf doch mal bei deinem Dauerkontakt. Der Himmel da draußen sieht kalt aus, aber woran sehe ich das? Ich werde mir das nur einbilden. Ich höre nichts, die Straße liegt ruhig, viel zu ruhig für einen Montagmorgen zur Zeit des Bürobeginns. Sohn II räumt nebenan etwas herum, die Herzdame geht über den Flur. Dann wieder Stille. Das Werkjahr beginnt mit aller Zurückhaltung, es schleicht sich ein.

Als ich Kind war (immer „als das Kind Kind war“ bei dem Satz im Kopf) habe ich mich immer fürchterlich aufgeregt, wenn es einen Film im Fernsehen gab und nach fünf oder zehn Minuten erst der Titel des Films eingeblendet wurde, es also für mein Gefühl dann erst richtig losging und alles vorher damit abgewertet wurde zu einem mehr oder weniger sinnlosen Vorgeplänkel, dass im Nachhinein betrachtet keinen Sinn haben konnte und überhaupt unzulässig war. Bei Büchern schwebten ja auch keine Buchstaben vor der ersten Seite im Raum herum, das ging so nicht. So konnte man doch nicht erzählen! Mich hat das so wütend gemacht, meine Mutter lacht da heute noch drüber.

Dieses Jahr hat auch ein Vorgeplänkel, denke ich. Wir werden es vielleicht erst als beginnend empfinden, wenn wir ins Café gehen und danach ins Kino und dann noch zu Freunden, dann erst wird die Jahreszahl 2021 eingeblendet, dann erst geht der Film wirklich los. Und bis dahin ist, was weiß ich, immer noch März 2020, bis dahin ist alles irgendwie dazwischen, bis dahin hat Bobby Ewing am Ende alles nur geträumt.

Ich klappe das Home-Office spontan entschlossen noch einmal zu und gehe um den Block. Ich mag es nicht, wenn ich morgens nichts draußen war, das ist schlimmer als ungeduscht zu sein. Ich brauche meinen Arbeitsweg, ich brauche irgendwelche Eindrücke und ich brauche Frischluft. Also so frisch, wie sie hier eben sein kann. Ich brauche auch Menschen auf der anderen Straßenseite. Näher müssen sie mir nicht unbedingt kommen, aber das dann doch. Die Straßen liegen still, höchstens eine Handvoll Menschen mehr als gestern ist unterwegs, mehr nicht. Haben die alle noch Urlaub oder was. Über dem Kirchturm hängt ein noch fast voller Mond, Wolken ziehen flott an ihm vorbei, das ist ein Bild aus einem Schauerroman aus dem 19. Jahrhundert, das ist nicht Hamburg in diesem Jahr. Ein Hund bellt, das auch noch, natürlich. Ich gehe zur großen Kreuzung vor dem Bahnhof. Da ist auch nichts los, es fahren kaum Autos. Nicht einmal die von den Lieferdiensten. Die Leute haben zu Weihnachten vermutlich alles bekommen, jetzt ist nichts mehr unterwegs. Nur beim Dönerladen tragen sie gerade etwas rein, Gemüse und Fleisch, das immerhin, da arbeitet jemand, geht doch.

Ich gehe zurück ins Home-Office. Ich sehe kurz vor unserem Haus durch ein helles Fenster wie sich ein Nachbar anzieht. Der ist jung und schwungvoll, der springt geradezu in seine Klamotten, der hüpft in seine Jeans, der wirft das T-Shirt über, der reckt die Arme mehrmals. Vielleicht hört er Musik dazu und macht das alles im Takt, das kann gut sein. Dann dreht er sich um und geht schnell aus dem Zimmer. Ich stelle mir vor, wie er aus dem Haus und in den Tag stürmt und das nehme ich jetzt einfach, dieses Bild, das ist der richtige Anfang. Jetzt geht der Film erst los.

Ich gehe wieder ins Kinderzimmer und klappe das Home-Office auf.

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Alles kreist und kurvt

Ich gehe am Sonnabend durch die Stadt. Der Tag ist ungeheuer grau, da bricht heute nichts Farbiges durch und Hamburg verbleibt komplett ereignislos und wartet erst einmal ab. Das ist noch kein richtiger Werktag, das ist bestenfalls ein halber. Es geht alles noch nicht richtig los, gehen Sie nicht über Start. Das Jahr drückt sich am Anfang des Kalenders herum und zögert. Die wenigen Menschen, die durch die Stadt gehen, Pärchen zumeist, sie gehen entschlossen spazieren, sie bummeln nicht. Es werden keine Schaufenster begutachtet, wozu auch, man kann eh nichts kaufen. Man geht eher stramm durch, heute wollen wir Strecke machen, wir gehen mal etwas weiter, Hauptbahnhof bis Dammtor, Jungfernstieg bis Stadthausbrücke und dann runter zum Hafen, solche Wege werden gewählt. Komm, wir gehen mal durch die Stadt. Einige Läden in den Fußgängerzonen haben jetzt an den Eingangstüren Schalter eingerichtet, da kann man etwas bestellen und jemand holt es dann aus den Tiefen des Geschäftes und reicht es den Kunden durch die Tür. Viel Zulauf haben diese Schalter nicht, das Verkaufspersonal sitzt da, sieht auf die leere Straße und wartet. Aber die Schalter sind auch noch neu und ungewohnt. Da guckt man erst einmal, da geht man erst einmal vorbei und dreht sich nicht einmal um, lass mal weiter. Kann man ja auch nicht ahnen, dass da jetzt so Schalter sind, darauf war man wieder nicht vorbereitet und hat keine Wünsche dabei.

Die Bettler mit den Bechern vor sich, die bekommen heute kaum etwas. Es gehen nicht genug Menschen durch die Stadt, das kann so nichts werden. Und kein Straßenmusikant spielt nirgendwo, nur der übliche Prediger missioniert am Jungfernstieg lauthals ins Leere und ruft den vorbeifahrenden Bussen etwas über die Sünde zu.  Reinigendes Feuer! Das wird helfen, sagt er. Neben ihm verteilt jemand Prospekte mit Jesus darauf, die will keiner haben.

Drei Polizisten schlendern sehr aufrechten Ganges die Straße entlang und gucken gelangweilt, die Entgegenkommenden rücken die Masken zurecht oder zupfen sie hoch. Ich gehe durch eine der Passagen. Ein Mann im fortgeschrittenen Rentenalter und in der Uniform eines Sicherheitsdienstes geht in Gedanken versunken, die Hände auf dem Rücken, langsam durch die Gänge. Sonst ist da niemand. Er nickt mir zu.

Über der Binnenalster kreisen die Möwen, um die Binnenalster kreisen die Spaziergänger, auf der Binnenalster kreist ein Kanufahrer, der paddelt energisch und kraftvoll und sehr alleine rundherum, ein paar Blesshühner sehen ihm nach. Und alles kreist und kurvt durch das lastende Grau. Man muss am Ufer einen Moment still stehenbleiben, um diese weit ausholenden Bewegungen zu sehen. Nur die schweren Wolken oben ziehen quer durchs Bild und über die Kreise und den Stadtplan hinweg von Ost nach West. Im Wetterbericht stehen mehrere Schneesymbole, und diese Wolken heute, aus denen gelegentlich ein paar harmlose Tropfen fallen, gegen die niemand auch nur einen Schirm aufspannt, die sind nur die Vorhut. Da kommt noch was. Das gilt auch für das Jahr.

Ein Mann geht an mir vorbei, während ich am Geländer stehe und über die Wasserfläche der Binnenalster sehe. Er spricht ein lautes Französisch, das nach arabischer Herkunft klingt, in sein Handy. Er spricht schnell, von seinem Französisch verstehe ich kein Wort. Aber zwischendurch benutzt er eine deutsche Wendung, mehrmals kommt die vor, routiniert wird sie eingestreut: „Alles Scheiße.“ Es fügt sich hervorragend in seinen Redeschwall ein und es klingt nicht so, als sei er wütend deswegen. Es klingt mehr so, als sei es nun einmal so, eine beiläufige Feststellung. Alles Scheiße, mais oui.

Ein Spaziergangspärchen geht an mir vorbei. Sie schiebt einen Kinderwagen und sagt zum Mann: „Wenn du dich scheiden lassen willst, dann lassen wir uns eben scheiden. Meine Güte.“ Er sagt: „Ja, nein.“ Das Kind im Wagen schläft und wird erst später wach. Das Jahr auch.

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Links am Morgen

Welt auf Abstand – eine wunderbar ruhige und schön gefilmte Doku über die aktuelle Situation des letzten Jahres. Wenn Sie nah am Wasser gebaut sind – es kommen mehrere Tränenmomente vor, die Sie erwischen werden. Dicke Empfehlung, hat mir sehr gefallen, der Film. Vielleicht auch geeignet, um noch ein wenig zu verarbeiten, was da alles war.

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Bei der Kaltmamsell geht es unten im Text um Kausalität und Korrelation, da finden Sie das schöne Beispiel mit der Migräne und der etwas abgedrehten und auch aufwendigen Heilmethode, die bei ihr seit drei Monaten wirkt – bzw. eben nicht. Zur Korrelation schiebe ich schnell ein Beispiel aus meinem Erleben hinterher, das mir neulich erst auffiel: Von meinen ehemaligen Chefs sind zwei tot, einer hört Stimmen aus der Wand, einer ist ausgewandert. Das liegt natürlich nicht an mir, das korreliert nur so vor sich hin. (Behauptete er mit einem seltsamen Lächeln.)

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In der vierten Folge vom “Lob des Gehens” von Nicola Wessinghage (Audio) geht es um “Walkable Cities”. Man beachte die Formulierung der “durch die Straßen quellenden Fußgänger”, das ist ein spaßiges Bild, das kann man mal auf sich selbst anwenden, wenn man morgens aus dem Haus quillt.

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Auf der wichtigsten Straße im kleinen Bahnhofsviertel war gestern beim Abendspaziergang alles geschlossen, wirklich alles, kein einziger Laden hatte auch nur ansatzweise auf, kein Imbiss, kein nichts. Das war höchst ungewöhnlich, das gibt es sonst nur “in the wee small hours of the morning”. Ich habe zu dem gleichnamigen Song mal eine Playlist gemacht, gerade fällt es mir wieder ein. Verschiedene Interpreten, nur dieses eine Stück, immer wieder. Es ist ein ungemein beruhigendes Lied und alle Interpreten nutzen ihre besonders sachte Schlafzimmerstimme und im Hintergrund spielt eine abgedimmte Instrumentalisierung, es ist also eine ungemein sedierende Playlist auf Spotify. Zur Entspannung kann man außerdem auf die geringen Textvariationen achten, die sich einige leisten, nur hier und da ist ein Wort anders, spontan oder geplant, wer weiß. Bevor man da zum Schluss kommt, schläft man im besten Fall schon längst. 

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And so it begins

Neujahrsspaziergang. An den Straßenrändern liegen die ersten abgeschmückten Tannenbäume, hier und da hängt ein Glitzerrest in den Zweigen. Jemand hat ein Raclette-Gerät neben seinen Baum gestellt, das kann auch weg, das kann alles weg, geh mir bloß weg mit Weihnachten und Festessen und überhaupt, raus damit. Also so sieht das aus, das Raclette-Gerät steht da so passiv-aggressiv vor der Tür. Es sind fast keine Böllerreste auf den Fußwegen zu sehen, keine hölzernen Raketenstangen, keine aufgeweichten Pappröhrchen. Kaum leere Sektflaschen, keine Plastikgläser. Da vor dem Mülleimer liegt eine Handvoll Konfetti, golden und silbern, da fand kurz Fröhlichkeit statt. Oder der Versuch, versteht sich.

Die Bude der Wahrsagerin vor dem Bahnhof ist noch geschlossen, die lässt das Jahr auch erst einmal auf sich zukommen.

Im Bahnhof gehe ich an den Gleisen vorbei, ein Zug fährt nach Chur. Das ist seltsam, denn ich habe noch nie gesehen, dass ein Zug nach Chur vom Hauptbahnhof fährt. Entweder ich habe das durch einen Zufall noch nie wahrgenommen oder die Verbindung ist neu. Ich gehe am Zug vorbei und sehe hinein, wie sieht man aus, wenn man nach Chur fährt? Man sieht schlecht gelaunt aus, soweit man das mit den Masken erkennen kann. Die wenigen Passagiere haben viel Platz und grummeln ihn voll. Mehrere Zugbegleiter und andere Menschen von der Bahn stehen am Zug und unterhalten sich. Einer sieht mich, macht eine einladende Geste zur offenen Zugtür hin und lächelt verbindlich. Die Bahn kobert, das ist auch neu. Aber der Zug ist wirklich leer, ich kann das verstehen. Ich fahre dennoch nicht nach Chur, wo ist das überhaupt und es heißt ja auch immer: „Zurückbleiben bitte.“ Die Türen schließen sich.

Im Durchgang zur U-Bahn sitzen vier Obdachlose aus Osteuropa. Das kann man sich als zusammenhängenden Begriff denken, Obdachlose aus Osteuropa, quasi in einem Wort. So kommen sie in den Hamburger Medien vor, es sind in diesem Jahr mehr als je zuvor. Die vier Obdachlosenausosteuropa singen gemeinsam ein Lied mit vielen Strophen. Wenn eine neue Strophe anfängt, dann freuen sie sich, dass alle den Text wissen. Das sieht man deutlich, bei jedem Strophenanfang freuen die sich, gucken sich an und strahlen. Und sonst, das kann man ruhig raten, freuen die sich nicht so oft. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder das Lied ist traurig, dann klingt es bei den Vieren etwas lustiger, weil sie alle betrunken sind und nicht gerade schön singen. Oder aber das Lied ist lustig, dann klingt es bei den Vieren etwas getragener, aus dem gleichen Grund. Es ist so dazwischen und man bekommt es nicht heraus, wenn man kein Russisch kann, oder welche Sprache das ist. Ich kann es nicht erkennen. Vor den vier Sängern steht kein Becher, sie betteln nicht. Das ist bei den Obdachlosenausosteuropa häufig so, dass die gar nicht betteln, dass die nur da sind, nur da sitzen. Und manchmal singen. Eine neue Strophe fängt an, alle kennen den Text, das Lied ist wirklich lang. Winterlang.

Bei mehreren Restaurants in der Bahnhofsgegend sind die Speisekarten in den Aushängekästen herabgesunken, verrutscht und verblasst. Darum kümmert sich niemand mehr, wozu auch. In etlichen Eingängen liegen Obdachlose, woher auch immer, das sieht man den Schlafsäcken nicht an. Müll weht vorbei und gepflegt wirkt das alles nicht. Wenn man die Stadt schließt, dann lässt sie sich gehen. An den Fenstern der Restaurants, der Imbisse und Läden hängen Zettel, in manchen Fenstern etliche davon. Hygienekonzepte, Bitten um Masken, Erklärungen, Verlautbarungen, Regeln, Piktogramme mit AHA, Verweise auf noch offene Zweigstellen in anderen Gegenden, liebe Kundinnen und Kunden, dear customer. Hinweise auf Telefonnummern, Webseiten und Mailadressen. Wegen Corona, wegen der aktuellen Situation, wegen der Verordnungen.

Manchmal wurden Zettel über Zettel geklebt, die Novemberzettel verdecken so halb die Märzzettel, darüber etwas aus dem Dezember. Man könnte Zettelarchäologie betreiben und Schicht um Schicht freilegen. Bei einem Italiener hängt ein Blatt in Din A4 aus dem März, darauf steht einfach nur „Zum Mitnehmen“. Halb darüber klebt ein Zettel in DIN A3 aus dem November oder Dezember, darauf steht in riesiger Schrift, farbig und mit Ausrufezeichen: „ZUM MITNEHMEN!“

Ich gehe noch einmal durch den Bahnhof. Eine Frau bestellt gerade etwas beim Bäcker, ich höre im Vorbeigehen die empörte Reaktion des Verkäufers: „Ja, hallo – schönes Neues erst einmal, so viel Zeit muss schon sein!“ Die Frau stöhnt und sagt: „Schönes Neues.“ Der Mann sagt, ich hätte darauf wetten können: „Geht doch.“

Ansonsten ein ungewohnt entspannter Tag. Es war, ich möchte mich da festlegen, der bisher beste Tag des Jahres.

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Blinken und Rauschen

Am Abend wird der Fernsehturm in pink angestrahlt und auch von innen her üppig beleuchtet, also da oben jedenfalls, wo früher einmal das Panorama-Restaurant war, wo also die vielen Fenster sind, die umlaufenden, da blinkt es. Da laufen Lichter um den Turm, Disco nichts dagegen. Die Söhne sind angetan, ihre Zimmer bestehen immerhin auch hauptsächlich aus Lichteffekten, da gucken Experten. Der Turm leuchtet so hell auf über der Stadt, dass der fast noch volle Mond daneben etwas mau wirkt, so eine einfache und gleichförmig leuchtende Scheibe, das ist doch eher etwas simpel, wenn man ehrlich ist. Man kann heute mehr Effekte. Das Licht am Turm spiralt in Mustern empor und wieder runter, es flackert und dreht, es macht Streifen und Wirbel, es kreist, das ist ein ausgefeiltes und langes Programm, das da läuft. Der Turm macht definitiv etwas her, das ist als Feuerwerksersatz gar nicht schlecht und vor allem schön leise.

Allerdings ist dieses pinkfarbene Licht am Turm vielleicht auch Magenta, fällt mir nach einer Weile auf, und das ist doch bedenklich. Dann wäre der Zauber am Ende von der Telekom gesponsort und man hätte nur durch kurzes Schönfinden irgendeinem Werbestrategen sein oberschlaues Konzept bestätigt, und das möchte man ja nicht. Lebe wild und unberechenbar! Ich gucke über die Alster zum strahlenden Fernsehturm und finde ihn also sicherheitshalber nur halbschön. Da habe ich es ihnen aber gegeben, den Werbestrategen. Das Jahr mit klarer Kante gegen den Konsum und den Kapitalismus beenden, so läuft das hier nämlich.

Die großen und seit Wochen geschlossenen Hotels an der Alster haben in der Silvesternacht Fensterbotschaften geschaltet. In der Radisson-Fassade leuchtet ein Herz, im Royal Meridien erkennt man 2021 und mich interessiert dabei nur, wie sie das wohl gemacht haben. Ich stelle mir den Menschen vor, der da mit einem Laufzettel über die Gänge geeilt ist, 14. Stock, Zimmer 887 Licht an, Zimmer 888 Licht aus, nein, andersherum, wieder zurück. Und hinterher dann vors Haus, etwas auf Abstand rennen und gespannt hochsehen, wie haben wir das gemacht? Na? Und dann hat das fensterpixelige Herz irgendwo einen falschen Zacken, also noch einmal rein, noch einmal hoch in den 12. Stock, im Zimmer ganz rechts muss das Licht doch wieder aus und dann aber endlich. Wie die oder der da leise fluchend über den leeren und dunklen, etwas gespenstisch wirkenden Gang geht und mit dem Lichtschalter das Herz richtet. Nichts zu hören, rein gar nichts, nur die Schritte und die klappenden Türen. Schon auch schön! Und die Nachtspaziergänger an der Alster gucken über die glitzernde Wasserfläche und sagen „Guck mal, ein Herz!“ Das sind dann so die Erfolge und warum auch nicht.

In der Nacht, als die Familie längst in den Betten liegt, hebt die Heizung an zu rauschen. Und zwar rauscht sie nicht wie in einer Wohnung aus den Achtzigern des letzten Jahrhunderts, sie rauscht eher wie in einem mühsam renovierten und uraltes Schloss in den schottischen Highlands oder was weiß ich wo, sie rauscht so, dass man an Gruselromane denkt, mindestens aber an Edgar Wallace. Die Rohre singen und summen, ich stehe mehrfach auf, um nachzusehen, ob da irgendwo etwas ausläuft. Die Heizung hat noch nie solche Geräusche gemacht, in all den Jahren nicht. Ein Wildbach strudelt auf einmal durch die Rohre. Die Familie schläft, nur ich sitze im Bett und höre dem schnell strömenden Wasser zu. Alles fließt in den Wänden hinter dem Bett. Das alte Jahr geht da ab, denke ich mir, es löst sich aus allem, es fließt ab und schmilzt weg und am nächsten Morgen ist nichts mehr davon da.

Und apropos Schmelze. Da die Jahresendfeierlichkeiten jetzt durch sind, wäre mir allmählich nach einem Tulpenstrauß, nächster Halt Frühling, Sie kennen das. Aber die Blumenläden haben im Lockdown geschlossen, sogar die im Bahnhof. Schlimm.

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The same procedure

Wir folgen der in diesem Blog hinlänglich etablierten Tradition, kein Silvester ohne diese Bilder, eh klar. Es handelt sich beim Folgenden also um die Erinnerung an eine norddeutsch-ausgelassene Silvesterparty in einem Hamburger Vorort, der Abend ist bereits viele, viele Jahre her und eigentlich längst nicht mehr wahr. Deutlich erkennt man jedenfalls die sogenannte Hanseaten-Ekstase in meinem Blick.
Denn man muss gerade die süddeutschen und besonders die rheinländischen Leserinnen und Leser gelegentlich daran erinnern: wir hier oben, wir sind gar nicht so. Wir können auch ganz anders:

Hanseaten-Ekstase

Gleicher Abend, nur einen Meter weiter: Die Herzdame, liebreizend wie stets und dabei auf diese einmalig nordostwestfälische Weise in strahlender Herzlichkeit gut gelaunt:

Die Herzdame
Silvester 2020 ziehen wir Erwägung, angesichts des unvermeidbar schwierigen Januars um Mitternacht eher Helme aufzusetzen, keine Partyhüte. Wobei wir, es fällt mir gerade erst auf, tatsächlich keine Partyhüte im Haus haben. So bricht das Jahr endlich auch mit dieser Tradition, aber das fällt nicht weiter auf.

Ich habe weder irgendwelche Vorsätze für 2021 noch Zeit für einen Rückblick. Ich halte mich weiter strikt an die Strategie, die sich in den letzten Monaten bewährt hat: Morgens aufwachen und mal gucken, was geht. Denn mehr geht ja nicht. Ich habe vor einiger Zeit beim Goethe-Institut einen Text über Planlosigkeit geschrieben, den kann ich auch auf mich anwenden.

Gestern las ich auf Twitter die Morgengrüße einer Pastorin, wobei ich gleich sagen muss, dass ich mich darüber nicht lustig machen möchte. Ich denke nur darüber nach. Sie schrieb da nämlich, dass sie den LeserInnen das wünsche, was Gott für sie vorgesehen hat. Ich bin nun weder religiös noch theologisch bewandert, aber das ist doch etwas seltsam, nicht wahr. Denn wenn Gott es nicht vorgesehen hat, hätte es dann Sinn, es zu wünschen? Wohl kaum. Wenn es aber vorgesehen ist, muss es dann durch den Wunsch eines Menschleins verstärkt werden? Wohl kaum. Ist die Aussage also nicht eigentlich: Möge passieren, was passieren wird? Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr kommt mir dieser pastorale Morgenwunsch wie eine trickreiche und mit etwas Beiwerk aufgeladene Verbrämung der bewährten Formel “Muss ja” vor.

Ich kann nur für mich feststellen: Es geht auch ohne Beiwerk. Muss ja. 2020 zumindest ging es auf diese Art.

Kommen Sie gut rüber, bewahren Sie unbedingt Haltung, ich schließe mit den besten Wünschen zum Neuen Jahr. Wir sehen uns drüben, wenn Sie mögen.

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Falls Sie übrigens noch ein Vorhaben für die letzten Stunden des Jahres brauchen – man könnte jetzt hervorragend The Disintegration Loops von William Basinski hören. Bis zum Ende. Passt schon. Auf Spotify verfügbar. Also man kann das als Kunstwerk hören oder aber sich beim Hören fragen, ob man eigentlich noch alle Latten am Zaun hat, mit so etwas Zeit zu verbringen und ich finde es ganz schön zwischen diesen beiden Einstellungen. Man muss sich ja nicht immer entscheiden.

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Ansonsten der Nekrolog auf ein Jahr, ein Gedicht von Mascha Kaléko. Zu lesen während man kopfschüttelnd das Jahr ablaufen lässt.

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“It might not be today but things will be okay – next year.” Na dann.

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Auf arte eine sehenswerte Dokumentation über Selma Lagerlöf. Es kommt auch ein Übersetzer vor, dessen Wohnzimmer ich nicht ohne einen leichten Anflug von Neid sehen kann, überhaupt ist das alles sehr nett ausgestattet. By the way, wieso kommt hier eigentlich so oft arte vor? Weil mir das da reicht. Ich komme mit zig Streamingdiensten und Mediatheken nicht zurecht, mir ist das alles zu üppig, zu überbordend und zu verwirrend und Serien sehe ich sowieso eher nicht, ich hätte also gerne weniger Auswahl, nicht mehr. Im Moment reicht arte. Keine bezahlte Werbung, nur so eine seltsame Strategie der Freizeitbewältigung. 

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Ich lese gerade “Schwitters” von Ulrike Draesner, hier eine Rezension dazu

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Ich höre gerade “Von zwanzig bis dreißig”, der Lebenserinnerungen zweiter Teil von Theodor Fontane. Als Hörbuch auf Spotify verfügbar, gelesen von Karlheinz Gabor. Das Buch läuft 15 Stunden, Fontane entschuldigt sich gleich zu Beginn für die Länge des Textes und bietet an, zum Ausgleich keinen weiteren Teil mehr zu schreiben. Daran hat er sich dann auch gehalten, wenn ich es recht erinnere.

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Währenddessen im Hirn

Ich habe in einem solchen Ausmaß keine Lust auf den Januar mit seiner doch ziemlich wahrscheinlichen Kollision von Home-Office und Home-School, es tut mir schon fast körperlich weh. Daher male ich mir das jetzt alles fürchterlich farbig aus, worst case galore, mit den jeweils übelsten Entwicklungen in allen nur denkbaren Bereichen. Also wie es wird, wenn es richtig, richtig, schlecht wird. Also wie es wahrscheinlich wird, schon klar, Sie merken, ich kann mir Rollen aneignen. In irgendeinem Lebenshilfebuch stand nämlich mal, das solle man in solchen Fällen unbedingt tun, man würde dann schon dadurch gestärkt in das vermeintliche Übel hineinschreiten, das sei quasi eine Resilienzmaßnahme – und wie einfach! Und wie billig! 

Ein anderer Teil von mir steht allerdings daneben, Sie kennen das hoffentlich, wenn ein Teil von Ihnen neben Ihnen steht (sagen Sie jetzt nichts), also neben mir steht dieser andere Teil und sagt die ganze Zeit immer wieder: “Also wir nennen das ja schlicht Realismus.” Wen er dabei aber nun wieder mit wir meint – lassen wir das.

Wozu jedenfalls eine weitere innere Figur, die des langjährigen Autors nämlich, ungefragt etwas aus ihrer Erfahrung beisteuert, wobei sie sich auch noch jovial mit der Rolle des Leser verbrüdert, und die beiden brummen also Arm in Arm und im Brustton der Überzeugung: “Sollste mal sehen, wenn du dir das alles so schlimm denkst – dann wird der Januar voll super. Eh klar. Kennt man doch.” Und sie nicken und grinsen breit und wirken außerdem etwas angeheitert.

Währenddessen sitze ich hier zwischen meinen nur projizierten inneren Figuren und denke, dass der Januar, gesund-fatalistisch betrachtet, selbstverständlich einfach eine Fortsetzung der letzten Wochen werden wird, was auch sonst, weil der kalendarische Übergang mit dem Alltag gar nichts zu tun hat, und ich fühle mich sogar halbwegs schlau bei diesem Gedanken, weswegen auf einmal ein schicksalsgläubiger Persönlichkeitsanteil von mir entnervt auf die Uhr sieht und mit einem Anflug von Ungeduld etwas im Kalender nachschlägt und murmelnd rechnet, ich meine etwas mit “sieben” zu verstehen, aber wen interessiert das. 

Mein innerer Käpt’n schreitet dagegen die ganze Zeit in mühsam niedergerungener Nervösität über die innere Brücke und lässt die anderen reden. Er drückt den Rücken durch und ignoriert alle nach Kräften. Er hat auch wirklich nicht für jeden Unsinn Zeit, er muss immerhin noch den Kurs bestimmen. Aber er nimmt sich doch vor, das Gerede der Stimmen später im Logbuch einzutragen. Pflicht ist Pflicht – und mit Pflicht kennt er sich aus. 

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