Kurz und klein

Gehört: Phoenix voran (Electric Nights von edel & electric)

Der Digitalverlag edel & electric hat die zweite Electric Night veranstaltet, wozu ich freundlicherweise eingeladen war. Das war ein sogenannter Blogger Book Pitch, mehrere BloggerInnen hatten jeweils zehn Minuten Zeit, ein Lieblingsbuch vorzustellen, hier ein ausführlicher Rückblick bei Sounds & Books.

Ich habe mich für einen Gedichtband von Peter Rühmkorf entschieden, “Haltbar bis Ende 1999”, und ich habe daraus also, noch so eine seltsame Premiere, ein Gedicht vorgelesen, “Phoenix voran”. Das habe ich nicht zufällig ausgewählt, das ist ein Gedicht, bei dem man ganz genau wissen kann, wie Peter Rühmkorf es betont hat, es gibt eine wunderbare Aufnahme davon, die ist bei mir seit Jahren eine Art Lyrikohrwurm.

Ich habe bei der Veranstaltung vorher auch noch kurz etwas über Lyrik gesagt, nämlich das:

In der Schule lernt man, Gedichte verstehen zu müssen. Nichts gegen die Schule, aber das ist natürlich grober Unfug.  An Gedichten soll man sich besinnungslos besaufen wie an Schnaps, man sollte sie einfach auf ex wegkippen, etwas atmen und auf die Wirkung warten. Und wenn nichts kommt, dann war es eben nichts. Dann braucht man noch eines. Ein anderes, ein stärkeres.

Nein, man muss Gedichte nicht verstehen.  Man will sie vielleicht verstehen, man kann sie manchmal auch verstehen. Und man versteht dann vielleicht sogar alles oder auch nur eine Zeile oder eine halbe, ein seltsames Wortgebilde, mehr nicht, und es reicht. Manchmal bewegt einen dabei insgesamt eher nichts, und manchmal wirft einen ein Halbsatz um, und dann war es wichtig und richtig.

Es gibt ein berühmtes und treffendes Zitat von Benn, Sie werden es kennen. Es geht eigentlich um Musik, aber es passt schon: “Es gibt Melodien und Lieder, die bestimmte Rhythmen betreuen – die schlagen Dein Inneres nieder, und Du liegst am Boden bis neun.”

Nur in diesem Sinne lese ich Lyrik, und in diesem Sinne kann man besonders gut Peter Rühmkorf lesen. Und nein, man muss ihn nicht verstehen.

12 & 2 & Hummerklippen

Wie immer am 1. April wird dieses Blog wieder ein Jahr älter, ich erzähle jetzt aber nicht zum 12. Mal, warum das ausgerechnet am 1. April so ist. In diesem Jahr ist es mir allerdings fast ein wenig peinlich. Ich ging nämlich schon seit Monaten davon aus, das Blog sei bereits 13, so steht es entsprechend auch überall in meinen Veranstaltungshinweisen und Bios etc. Ähem. Falsch, Herr Buddenbohm, ganz falsch. Es wird tatsächlich also heute erst einmal bescheidene 12, immer schön auf dem Teppich bleiben.

Gleichzeitig wird “Was machen die da”, das Interviewprojekt von Isa und mir, damit zwei Jahre alt, wobei ich in dem Fall mit der Zahl ganz sicher bin. Bei “Was machen die da” geht es gerade etwas ruhiger zu, um es diplomatisch auszudrücken, was nicht heißt, dass das Projekt beendet ist. Aber aus naheliegenden und ziemlich spitzenmäßigen Gründen hat Isa gerade eine beachtliche Menge anderer Termine. Das heißt nicht, dass gar nichts mehr geht, wir müssen lediglich noch weiter um etwas Geduld bitten.

Aber apropos Isa und apropos Herr Buddenbohm muss auf dem Teppich bleiben, das ist ein guter Moment, um von Usedom zu Helgoland überzuleiten, wo ich gerade u.a. mit der Familie und eben jener Lieblings-Isa ein paar herrliche Tage verbracht habe. Gleich vorweg – das Folgende ist absolut kein Aprilscherz. Und zwar waren wir auf Helgoland im neu eröfffneten Hotel auf den Hummerklippen, einem Hotel mit ausgeprägtem Literaturbezug, wie sich dem James-Krüss-Kenner schon beim Namen sofort erschließt. Dieses Hotel hat Isa feierlich getauft, was auf jeden Fall schon einmal eine Ehre ist, die man als etwas spezieller einsortieren kann, ein Hotel tauft man nicht jeden Tag.

Isa vor Hotel

 

(Es sieht so aus, aber sie hat die Pulle dann nicht ans Hotel geworfen, sondern nur ein Mäuerchen begossen)

Damit aber nicht genug, es wurde noch wesentlich spezieller, denn in diesem Haus sind alle Zimmer nach Autoren benannt, die auf die eine oder andere Art einen Helgoland-Bezug haben. Es gibt ein Friedrich-Hebbel-Zimmer, es gibt ein Meta-Schoepp-Zimmer, es gibt natürlich ein James-Krüss-Zimmer, es gibt ein sehr schräges Franz-Kafla-Einzelzimmer – und, es ist eigentlich kaum zu fassen, es gibt auch ein Isabel-Bogdan-Zimmer und ein Maximilian-Buddenbohm-Zimmer. Das ist ganz sicher die mit Abstand abgefahrenste Ehrung, die mir je zuteil wurde, ich freue mich wie irre und finde das um Längen cooler als so ziemlich jeden Literaturpreis. Ein eigenes Hotelzimmer!

Hotelzimmertür "Maximilian Buddenbohm"

 

Wenn Sie in diesem Hotel residieren, was ich sehr empfehlen kann, können Sie also einen Zimmerschlüssel bekommen, auf dem “Maximilian Buddenbohm” steht, wenn das nicht absurd-großartig ist, ich weiß es auch nicht. Das Zimmer, es ist ein schönes Doppelzimmer mit grandioser Hummertapete, hat einen sagenhaften Ausblick, einen unglaublichen Insel- und Meerblick, ich kann das dringend empfehlen.

Ausblick Hotelzimmer

 

Ja, da ist Dreck auf dem Sensor, das ist schlimm, aber ich komme ja zu nix. Demnächst wieder Fotos ohne Flecken.

Isa und ich haben am Eröffnungsabend auch noch im Hotel gelesen. Dazu vermutlich morgen mehr.

Bis dahin noch einmal vielen Dank an jede und jeden, der hier liest. Um mich ausnahmsweise mit einem Satz vom letzten Bloggeburtstag selbst zu zitieren: Das sind weiterhin die Konstanten dieses Blogs – ich denke immer noch nach jedem Eintrag, dass mir ganz sicher nie wieder etwas einfallen wird, und ich freue mich immer noch jeden Tag, dass das gelesen wird, was mir dann doch noch eingefallen ist. Das gilt nach wie vor.

Herzlichen Dank!

Usedom-Bemerknisse (5)

Wie angekündigt folgt nun ein für Nichteltern vollkommen sinnfreier Tourismus-Tipp zu Ahlbeck. Ein Hinweis von der Art, die man eigentlich einmal als Reiseführer für Eltern herausgeben müsste, am besten als stets aktualisierte Online-Ausgabe für Orte weltweit, geschrieben von vielen Familien mit ganz speziellen Erfahrungen, gemacht von wahren Experten, also von Kindern. Denn Kinder finden in der Regel nicht das interessant, was im Reiseführer steht, sondern vollkommen obskure Nebendinge. Und man reist als Familie deutlich entspannter, wenn man sich diesen obskuren Nebendingen hingibt, wenn man ihnen Zeit und Raum lässt, wenn man nicht von der Erfüllung irgendwelcher Zeitpläne träumt. Das ist eine der Lektionen, die ich tatsächlich als Vater eher schwer zu lernen fand. Ich möchte auf Reisen etwas sehen, ich habe auch oft genaue Vorstellungen, was ich sehen möchte, wo ich essen möchte, wo ich längs gehen möchte, was ich machen möchte usw. Und das ist falsch. Richtiger ist es fast immer, die Kinder vorgehen und entscheiden zu lassen.

Fährt man Ahlbeck aus westlicher Richtung an, sieht man bald die Ausschilderung zu den Parkplätzen. Wenn man P1 folgt, landet man kurz vor dem Strand auf einer sandigen Brachfläche, umrahmt von mehreren abbruchreifen Ruinen großer Häuser, die vermutlich einmal ziemlich stattlich waren. Sie bröckeln seit Jahren vor sich hin. Auf der Parkplatzbrachfläche stand vermutlich auch einmal so ein Haus, jetzt ist das einfach ein Stück holperige Buckelpiste, allerdings ein Stück mit natürlich sehr wohl funktionierendem Parkautomaten mitten im Nichts. Und P1 wird sicher in absehbarer Zeit einer prächtigen Immobilieninvestition weichen müssen, die Lage ist einfach zu gut.

Am Rand dieser Brachfläche wurden, warum auch immer, gleich mehrere große Kieshügel aufgeschüttet, vermutlich sollte irgendwann irgendein Bau beginnen, das wird allerdings auch schon eine Weile her sein, so wie es da aussieht. Aus Kindersicht ist das ringsum eine großartige Abenteuerkulisse, und auf den Kieshügeln der verlassenen Baustelle kann man prima herumspringen, von Hügel zu Hügel, es stört ziemlich sicher niemanden. Und man kann graben! Die Söhne haben dort in langer Arbeit ein riesiges Sück historisches Abflussrohr mit kryptischen Schriftzeichen drauf freigelegt, das ist Großstadtarchäologie, das ist toll. Und um dieses Rohr freizulegen mussten sie nicht nur ein klein wenig buddeln,sie mussten sich richtig anstrengen, sie mussten ziemlich tief graben, mit aller Kraft ziehen und hebeln, es dauerte und dauerte, ihnen wurde ganz heiß, sie waren hinterher richtig kaputt.

Die Herzdame und ich saßen währenddessen im Auto. Eigentlich wollten wir zum Strand. Eigentlich wollten wir Kaffee trinken, eigentlich wollten wir auf die Seebrücke, eigentlich wollte ich die Promenade entlang gehen, eigentlich wollte ich mir die großartigen Villen dort ansehen, ich liebe die Bäderarchitektur. Wir saßen aber im Auto mit Blick auf graue Abbruchhäuser und Baustellensand – und alles war gut. Die Sonne kam zwischendurch raus, es war warm im Auto. Die Kinder spielten dahinten irgendwo. Das kann man auch einmal etwas länger aushalten. Wenn Sie Kinder haben und nach Ahlbeck auf Usedom kommen – einfach P1 folgen, die Autotüren öffnen, auf den Kies zeigen und die Kinder rauslassen. Das sind doch im Grunde die Tipps, die Familien unterwegs wirklich brauchen, das sind die Tipps, die familiären Frieden auf Reisen schaffen.

Und später waren wir dann auch noch am Strand, wie gestern bereits berichtet.

Usedom-Bemerknisse (4)

In Heringsdorf gibt es Strand, Sandstrand genau genommen. Hier und da ein paar Steine, Muscheln, Tang, Wellen, Meer, eine Seebrücke. Wie Strand an der Ostsee eben so ist. Nicht zu breit, nicht zu schmal, ein Strand eben, ein schöner sogar.

Im benachbarten Ahlbeck gibt es auch Strand. Der erfüllt genau die gleichen Kriterien. Noch ein Strand eben. Auch schön.

Die Söhne haben an diesen beiden Stränden gespielt, sie haben dort also Löcher und Burgen gebuddelt und gebaut und interessante Steine gesammelt oder uninteressante Steine ins Wasser geworfen und Möwen beobachtet und sich von den Wellen jagen lassen und sich nasse Füße geholt usw., was man eben am Meer so macht, wenn man sechs oder acht Jahre alt ist. Sie haben an beiden Stränden in der gleichen Weise gespielt, es lagen nur ein paar Stunden dazwischen.

Wenn man die Söhne nun fragt, welcher Strand der bessere war, sagen beide unisono und sofort und sehr überzeugt: “Ahlbeck!”

Warum ist das so? Das ist so, weil in Ahlbeck die Sonne herauskam, als sie gerade über den Strand rannten, dadurch war es dort ein paar Grad wärmer als in Heringsdorf. Es war plötzlich Es-geht-auch-ohne-Jacke-Wetter. Dadurch war Ahlbeck total super und Heringsdorf, das bis dahin auch total super war, fiel dann doch etwas ab. Ich habe das den Söhnen erklärt, was da in ihren Köpfen passierte, ich war aber vollkommen chancenlos. Sie haben ihre Wahrnehmung sofort rationalisiert und kamen mir mit Argumenten wie der Sandqualität, schöneren Steinen, besserem Wellengang, mehr Fischen in Ahlbeck, mehr Möwen und so weiter. Es schien ihnen nicht möglich, dass ihre klaren Präferenzen einfach nur an vier Grad Lufttemperatur mehr und ein paar freundlichen Sonnenstrahlen und einfach guter Stimmung liegen konnten. Der Strand war nicht gefühlt besser, der Strand war an sich besser, das war quasi Ehrensache.

Würde man die Söhne jetzt entscheiden lassen, ob wir das nächste Mal nach Heringsdorf oder nach Ahlbeck fahren, sie würden ganz sicher Ahlbeck wählen. Das kann man sich ja spaßeshalber einmal vorstellen, dass wir sie entscheiden lassen würden, so etwas macht man manchmal. Und dann würden wir das Mal darauf vermutlich auch wieder nach Ahlbeck fahren, weil es dann ja schon Tradition geworden wäre dahin zu fahren und weil wir hier alle Traditionen mögen und sicher auch schon wüssten, wo es dort z.B. die besten Fischbrötchen gibt. Und beim vierten Mal würden wir da nicht nur die guten Restaurants und Supermärkte und Kioske kennen, nein, wir würden auch schon jemanden kennengelernt haben, Einheimische mit Kindern vielleicht, mit denen die Söhne beim fünften Mal dann natürlich auch wieder spielen würden. Und das könnten dann durchaus dicke Freunde werden und womöglich auch bleiben. Die vier Kinder würden sich alle Ferien wieder treffen und eine in Teilen gemeinsame Jugend verbringen, so dass die Söhne die Zeit in Mecklenburg-Vorpommern irgendwann ziemlich super finden würden. Und sie würden vielleicht später, nach der Schulzeit, in dieser tollen Gegend dort einen Beruf erlernen, warum auch nicht, irgendwas mit Küstenschutz oder so, das könnten sie schon seit Strandbuddelzeiten im Sinn gehabt haben. Und dann würden sie hinterher noch für ein Jahr ins Ausland gehen, um an andere Küsten mehr zu lernen, wo sie dann weitere Menschen kennenlernen könnten, die sie sonst natürlich niemals getroffen hätten, und dann wäre einmal auch die große Liebe dabei, na, wie es eben so geht, das ist ja alles möglich und gar nicht abwegig, so läuft es doch im Leben. Und so würde es dann jedenfalls laufen, weil die Sonne kurz rauskam. Damals in Ahlbeck.

Wir halten hier dennoch fest: Der Strand in Heringsdorf ist genau so schön.

In der nächsten Folge: Ein für Nichteltern garantiert vollkommen sinnfreier Tipp für Ahlbeck.

Gelesen: Clara Sánchez – Letzte Notizen aus dem Paradies

Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen.

Wieder ein Coming of age-Roman, diesmal spielt die Handlung in einer spanischen Vorstadt. Endlich mal etwas anderes, Vorstädte sind ja sonst geradezu zwingend in den USA. Die männliche Hauptfigur jobbt in einer Videothek, da wird einem schon wieder ganz nostalgisch zumute. Videotheken sind auch so etwas, das man dem Nachwuchs kaum noch erklären kann, ohne leicht irre zu wirken. Sie sind also damals in einen Laden gegangen, um sich einzelne Filme gegen Bargeld auszuleihen, is’ klar.

Das Buch hat im spanischen Sprachraum reihenweise Preise abgeräumt, ich habe es leider sehr zerstückelt gelesen, konnte es daher nicht recht würdigen und habe das Ende nicht verstanden. Da war auf den letzten Seiten irgendein Dreh, wenn Sie das Buch auch lesen sollten, schalten Sie da bitte einen Gang runter, dann klappt das sicher auch. Aber die Liebesgeschichten waren schön, die Figuren interessant, was will man mehr. Ich finde Szenen und Stimmungen eh wichtiger als Handlung, Handlung wird total überschätzt, was natürlich jeder gerne komplett anders sehen darf. Hier noch eine Rezension, die Begeisterung hält sich dort deutlich in Grenzen.

Für sportlich orientierte Menschen: Es gibt reichlich Jogging-Szenen im Buch, manche Menschen lesen doch so gerne etwas über ihre obskuren Freizeitbeschäftigungen in der Literatur nach. Und hätte ich den Roman am Stück gelesen, er hätte mir vielleicht ganz gut gefallen.

 

 

Usedom-Bemerknisse (3)

Am Abend hatte ich dann eine sehr angenehme Lesung in der Villa Dorothea, wobei ich zum ersten Mal überhaupt in Anwesenheit beider Söhne gelesen habe. Und Sohn II hat es sich tatsächlich nicht nehmen lassen, bei einer seiner Erwähnungen kurz neben mich und somit auch vors Publikum zu treten, mit solchen Effekten rechnet man als Verfasser von Familientexten auch nicht gerade, das war aber sehr nett.

Nach der Lesung gab es selbstgemachten Eierlikör, den Schüler aus der Nähe hergestellt hatten, ich möchte einmal annehmen, es war eine Berufschule. Ganz außerordentlich köstlicher Eierlikör war das jedenfalls, und zu dem Stichwort kann man Jüngeren by the way noch etwas erklären, was heute vermutlich gar nicht mehr allgemein bekannt ist. Mit Eierlikör nämlich wurden Menschen meiner Generation noch planmäßig und reihenweise in sehr jungen Jahren an den Alkohol herangeführt. Denn ab etwa zwölf Jahren konnte man so langsam schon mal wenigstens ein Gläschen – oder auch zwei? Schmeckt doch so nett, hm? Denn auch das Trinken musste irgendwie gelernt werden und allmählich war man ja wirklich alt genug und auch schon so groß, aber das Bier war doch noch zu bitter. Das sind Erinnerungen, die heute seltsam und exotisch klingen … aber gut, das mit dem Eierlikör spielte auch zu einer Zeit, als es in den Lübecker Stadtbussen noch Aschenbecher neben jedem Platz gab. Es war eine andere Welt.

Für die nächste meiner Lesungen habe ich nach diesem denkwürdigen Abend jedenfalls gleich Honorar, Spesen und Eierlikör vereinbart, man lernt so aus seinen Erfahrungen. Sollten Sie am 23.10. tagsüber in Stuttgart sein, wir könnten dort anstoßen – es soll keiner behaupten, ich hätte nicht rechtzeitig Bescheid gesagt.

Zu der Villa-Dorothea sei noch eben angemerkt, dass es ein zugehöriges Haus Hedwig gibt, in dem man als schreibender Mensch in der Vor- und Nachsaison zu wirklich interessanten Preisen in Klausur gehen kann, z.B. zwei Wochen 300.-, da kann man nicht meckern, nicht wahr. Wohl aber kann man in Ruhe schreiben, vermute ich stark. Es gibt in dem Haus nämlich diese verglasten Balkone, für die es sicher irgendeinen Fachausdruck aus der Bäderarchitektur gibt, auf den ich allerdings gerade nicht komme. Diese sehr hellen, hohen, wintergartenmäßig verglasten und manchmal sogar beheizten Altbaubalkone jedenfalls, auf der weiter oben verlinkten Seite sieht man das Haus übrigens auf dem dritten Bild von rechts in der oberen Reihe. Da sitzt man wirklich gut, wenn man in Ruhe schreiben möchte.

Man hat außerdem eine bemerkenswert nette Gastgeberin, man ist in drei Minuten am Meer, man kann zu Fuß zum nächsten Edeka, man hat eine kleine Küche für die bescheidene Kost der Schreiberlinge, man kann mit dem Rad mal eben nach Ahlbeck oder Bansin oder rüber nach Polen, um auf andere Gedanken zu kommen, ich fand das alles recht anziehend. Man kann natürlich auch ein paar Meter weiter den schönen familiären Gedenkort Buchen-Eck aufsuchen.

Warum übrigens die Söhne dieses Ahlbeck deutlich besser als Heringsdorf fanden und damit aber gar nicht richtig liegen, sondern sich von komplett irrationalen Fehldeutungen natürlicher Ereignisse haben leiten lassen, dazu in Kürze mehr.

Usedom-Bemerknisse (2)

Wir hatten also, wo war ich denn bei dieser Reise überhaupt stehengeblieben, noch etwa eine Stunde Zeit vor meiner Lesung in Heringsdorf und gingen strandwärts um etwas zu essen, denn strandwärts ist in allen Küstenorten prinzipiell erst einmal richtig. Dort sollte es irgendwo direkt an der Ostsee einen brauchbaren Imbiss geben, hatten wir gehört. Der Imbiss hatte aber zu, geschlossene Fensterläden und zusammengestapelte Plastikstühle, wie es in der Vorsaison an der Küste eben so ist, und zwar an jeder Küste, vermutlich weltweit. Wir wanderten also planlos herum, von geschlossenem Restaurant zu geschlossenem Imbiss und geschlossener Bar und so weiter, Bewohner von Ferienregionen kennen das. Man braucht immer eine Weile, um die auch in der Nebensaison halbwegs verlässliche Struktur eines typischen Ferienortes zu erfassen.

Wir landeten schließlich in einem der wenigen geöffneten Restaurants. Am Tag danach merkten wir natürlich, dass es ein paar Schritte weiter noch wesentlich mehr Auswahl gegeben hätte, das ist ja immer so, wenn man zum ersten Mal durch eine fremde Gegend läuft. Ein deutsches Restaurant war das, mit all dem, was man an der norddeutschen Küste erwartet, Fisch und Schnitzel, Kinderteller, Bauernfrühstück, Bratkartoffeln, das ganz normale Programm, und was die anderen Gäste auf ihren Tellern hatten, das sah sogar recht gut aus. Wie übrigens überhaupt eine einfache Regel gilt – wenn man Fisch essen will, ist Usedom generell goldrichtig. Das gilt sogar für Fischbrötchen, ich hatte dort am nächsten Tag die besten Fischbrötchen seit langer Zeit, wenn nicht sogar überhaupt die besten, die ich je hatte, aber ich schweife ab.

Und dort jedenfalls, wir werden daran noch sehr lange zurückdenken, im Buchen-Eck in Heringsdorf, wobei ich für den Namen des Restaurants allerdings nicht garantiere, ich habe mir nämlich keine Notizen gemacht, warum eigentlich nicht, Herr Buddenbohm? Schlimm. Dort jedenfalls geschah das Restaurantwunder, wir erreichten erstmals überhaupt die volle mögliche Punktzahl im bekannten Spiel “Eine Familie geht in ein Restaurant”:

  1. Beide Söhne haben sich unabhängig voneinander zwei verschiedene, aber doch passend erscheinende Kinderteller bestellt, die noch vor dem Nachtisch-Abschnitt der Speisekarte zu finden waren
  2. Sie haben sich dabei ob der selbstverständlich unfassbar dämlichen Auswahl des jeweils anderen Kindes nicht in die Haare bekommen, sondern sich gegenseitig großmütig einfach mal machen lassen
  3. Sie haben keine seltsamen Sonderwünsche à la “Kann ich bitte nur genau fünf Pommes mit Soße haben” geäußert
  4. Sie haben keine Gerichte haben wollen, von denen wir vorher wussten, dass sie sie garantiert nicht essen werden à la “Doch, heute mag ich ganz bestimmt Schnecken”
  5. Sie haben sich zwei verschiedene und auch noch kinderkompatible Getränke bestellt, ohne sich siehe Punkt 2
  6. Sie haben diese Getränke sogar bestellt, ohne das bekannte halbstündige Drama “Coca-Cola für Kinder ist ein unveräußerliches Grundrecht ” aufzuführen
  7. Sie haben sich beide auf ihre Stühle gesetzt und blieben dort, ich staune beim Schreiben immer noch darüber, die ganze Zeit sitzen
  8. Sie haben es mit buddhistischer Gelassenheit hingenommen, dass einer von ihnen am Fenster saß und der andere nicht
  9. Es war ihnen auch seltsam egal, wer neben Mama und wer neben Papa saß, wofür es allerdings ohnehin keine feste Regel gibt, abgesehen davon, dass es normalerweise immer falsch ist, wie es ist
  10. Sie haben die Wartezeit bis zum Essen nicht genutzt, um das Restaurant zu zerlegen, Tischdeko umherzuwerfen, Speisekarten anzunagen, sämtliche Kerzen im Raum auszupusten und mit geklauten Streichhölzern wieder anzumachen oder auch nur andere Gäste zu behelligen
  11. Sie haben uns nicht einmal lauthals nach den äußerlichen Auffälligkeiten dieser anderen Gäste gefragt
  12. Sie haben die Wartezeit im Gegenteil total sinnvoll für ein feines Konzentrationsspiel genutzt und Kartenhäuser aus Bierdeckeln gebaut, wie wir es früher alle dauernd gemacht haben, als unsere Eltern noch keine iPads oder andere Bespaßungstechnologien dabei hatten, um den Nachwuchs für etwa eine Stunde zu sedieren
  13. Sie haben keines der immerhin vier Getränke auf dem Tisch umgeworfen
  14. Sie haben auch die ganze Zeit über kein Besteck, keinen Teller, keinen Bruder, nicht einmal einen Salzstreuer auf den Boden geworfen
  15. Sie haben tatsächlich das gegessen, was sie bestellt haben
  16. Sie haben es sogar komplett aufgegessen, inklusive ungefragt mitgelieferter Salatblätter
  17. Sie haben sich interessant aussehende Bestandteile der Gerichte ihrer Eltern nicht einfach zur näheren Inspektion und anschließenden Verkostung von deren Tellern gegrapscht, sondern haben geradezu höflich danach gefragt
  18. Sie haben auch das andere bekannte Drama “Nachtisch für Kinder ist ein unveräußerliches Grundrecht und in der Regel als Eis auszuliefern” unbegreiflicherweise nicht aufgeführt
  19. Sie blieben nach dem Essen noch etwas sitzen und haben nicht unter Absingen heiterer Lieder von zweifelhaften Deutschrappern die Bude gerockt, Fangen gespielt oder Rückwärtsrollen im Gang geübt
  20. Sie haben abschließend die Restauranttoilette aufgesucht ohne diese großflächig zu fluten, ohne alle Papierhandtücher auf dem Boden zu verteilen, ohne den Seifenspender aus reiner Neugier auf sein Fassungsvermögen komplett zu leeren und auch ohne sinnlos zu probieren, ob man ein viel zu hoch montiertes Pissoir nicht vielleicht doch in einem besonders hohen Bogen …

Das war schön. Es wirkte komplett unwirklich, es hat sich natürlich bisher nicht wiederholt, aber es war doch sehr schön. Und wir haben auch nur acht Jahre darauf gewartet, dass so etwas wenigstens einmal passiert. Nur acht Jahre, das geht doch eigentlich. Vielleicht wiederholt es sich schon in acht Jahren? Dazu spielen wir Johnny Logans “What’s another year” und summen leise mit. In seliger Erinnerung ans Buchen-Eck in Heringsdorf. Wenn es denn so hieß.

Gelesen – Arno Gruen: Wider den Gehorsam

Gekauft wegen einer Empfehlung von Johannes Korten, Arno Gruen war mir gar kein Begriff – hier mehr zu ihm. “Wider den Gehorsam” ist schmaler Band, dicht und konzentriert, dabei gut lesbar geschrieben, ohne jede Verschwurbelung. Besonders interessant sind zur Zeit sicherlich die Stellen, in denen Gruen auf den Hass der Rechtsradikalen eingeht, diesen etwas deutet und ergründet, da geht es auch um den Zusammenhang zwischen Gehorsam und Faschismus. „Die Angst, ungehorsam zu sein, führt dazu, sich dem Unterdrücker unterzuordnen. Indem man sich mit dem Unterdrücker verbündet, kehrt man seine Verachtung und Gewalt in Liebe um. Rechtsradikale Führer gelangen deswegen besonders häufig in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche an die Macht.“

Ganz kurz, vermutlich treffend und wie nebenbei. Von Gruen kann man ruhig noch mehr lesen.

Usedom-Bemerknisse

Eine etwas gewagte Überschrift, weil ich in diesem Text vermutlich nicht einmal auf Usedom ankommen werde, ich habe nur etwa eine halbe Stunde Zeit.  Morgen früh geht es schon nach Helgoland, es muss dafür noch gepackt und etwas organisiert werden, das ist das anstrengende Leben der Inselhopper zwischen Ost- und Nordsee, Sie kennen das.

Nach Usedom jedenfalls, so war der Plan, wollten die Herzdame und ich zu zweit. Eine verlängertes Wochenende ohne Kinder, was bei uns bekanntlich ziemlich selten vorkommt und entsprechende Begeisterung bereits weit vor dem Termin auslöste. Was man da alles machen kann, ohne Kinder! Zum Beispiel überhaupt nichts, um einmal mit dem naheliegendsten Aspekt zu beginnen. Man kann aber auch vollkommen abgefahrene Dinge tun, man kann sich etwa mit einem Roman ins Bett legen und diesen komplett durchlesen. Am Stück. Das ist für kinderlose Menschen evtl. vollkommen normal, für Eltern ist das eine ganz außerordentlliche Erfahrung. Und wenn man schon so ungestört stundenlang im Bett liegt, dann kann man auch, nicht wahr, und was ist schon dabei, Nickerchen und andere Späße machen, es sind also geradezu paradiesische Vorstellungen, die man da hat, wenn man an solche Wochenenden denkt. Weit, weit vorher verdrängt schon man alle Ärgernisse des Alltags mit einem milde gemurmelten “Ach was, wir haben ja bald dieses Wochenende, Schatz.” Und man spricht es mit einem tiefen Blick in die Augen, das Vorbild für die Gefühlslage dazu findet man bei Casablanca, “Uns bleibt immer Paris”, nur ist es hier eben prognostisch gemeint.

Knapp vor diesem Wochenende wurden dann mehrere Familienmitglieder der Großelterngeneration gleichzeitig krank, weswegen wir erstens die Kinder ungeplant und schnell doch wieder aus Nordostwestfalen abholen mussten, wo sie ansonsten grandiose Ferien verbracht haben. Weswegen ich außerdem ungeplant und schnell noch mal eben nach Lübeck musste, weswegen die Herzdame und ich in verschiedenen Richtungen durch die Gegend fuhren, statt dicke Romane für das Wochenende einzupacken. So etwas kann vorkommen, und manchmal ist es eben komplizierter als sonst.

Weswegen ich außerdem beim Quartier und Lesungsort in Heringsdorf die Übernachtungsmöglichkeit neu regeln musste, nun doch mit Kindern, es war einfach nicht anders zu machen. Das führte zu diesem denkwürdigen Dialog:

 

Ich: “Wir kommen nun doch mit Kindern, geht das?”

Hotel: “Okay, dann buche ich Sie einfach von Liebeslaube auf Ferienwohnung um.”

 

Das klingt lustig, gar keine Frage, und ich habe auch gelacht. Kurz. Sehr, sehr kurz. Am gleichen Tag gab es dann Stunden später und eine Stadt weiter einen anderen denkwürdigen Dialog, und zwar zwischen meinem Vater und mir.

 

Ich: “Morgen fahre ich nach Usedom.”

Mein Vater: “Da habe ich mich auch schon mal übergeben.”

 

Das beschreibt in bemerkenswerter Kürze ein Detail meiner Familie, die natürlich, wie alle Familien, eine seltsame Familie ist. Und zwar beschreibt es gewisse Erzähl- und Erinnerungsweisen in Familien mit langer Migränetradition. Das wäre eigentlich auch einmal einen Familienroman wert, wie sich diese Krankheit durch Generationen fortsetzt, wie Männer und Frauen in verschiedenen Jahrzehnten damit umgehen, wie Einzelne ihr manchmal für Jahre entkommen, dann doch wieder Opfer werden, sich arrangieren, verzweifeln, neue Therapien versuchen, obskure Heilmethoden anwenden, die Krankheit manchmal einfach vergessen und nach Monaten verblüfft daran zurückdenken … Doch, das wäre vermutlich interessant, so etwas beispielhaft zu erzählen. Aber man kommt ja zu nix.

So fuhren wir mit den Kindern in einem etwas gewagten Timing nach Heringsdorf auf Usedom, wo wir vor der Lesung noch etwa eine Stunde Zeit hatten, um einen schnellen Blick auf die charmant besonnte Ostsee zu werfen und in ein Restaurant zu gehen, was dann auch ein bemerkenswertes Event für die Familienchronik war. Dazu in Kürze mehr.