We faced it all

Auf dem Weg ins Büro sah ich am Mittwochmorgen doch noch die ungeduldig wie immer erwarteten gelben Blätter. Unten am Mittelkanal haben sie nun endlich mit der herbstlichen Dekoration begonnen, so dass sogar diese Ecke der Stadt für einen Moment recht ansprechend wirkte.

Blick auf den Mittelkanal in Hammerbrook, deutlich gelb verfärbte Bäume am Ufer

Dort bin ich dann zwei, drei Minuten stehengeblieben und die Arbeit musste noch einen Moment warten. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, ich habe also mit der gebotenen ernsten Freude erst einmal etwas passende Herbstmusik gehört.

Alles auskosten, alles mitnehmen. Sie wissen ja, man muss es sich mühsam genug zusammensuchen.

“Kiss all the pretty ones goodbye
Give everyone a penny that cries

You can throw all my tranquil pills away
Let my blood pressure go on its way

‚Cause my autumn’s done come”


Ein Augenblick für die alte Blogreihe „Was schön war“, die ich auch lange nicht mehr gepflegt habe.

Wir können das Thema abschließend auch abseits der anekdotischen Evidenz auflösen. Es gibt immer Menschen, die irgendwas akribisch mitzählen, und die meisten Ergebnisse sind irgendwo nachzulesen: Der Eintritt des Spätherbstes und auch der des Winters sind tatsächlich die beiden Phasen im phänologischen Kalender, die sich im Schnitt weiter verspäten. Alle anderen kommen tendenziell früher, wie wir dann vermutlich im Frühjahr wieder intensiv diskutieren werden.

Für den verspäteten Herbst gilt: „Der Grund hierfür ist, dass höhere Temperaturen im Herbst den Chlorophyllabbau im Blatt verlangsamen und damit zu einer späteren Blattverfärbung führen.

Die Verzögerung fällt in der Gesamttendenz gering aus, drei Tage nur. Aber wir beobachten im Schnitt doch richtig, und in einzelnen Jahren und Gegenden kann es auch wilder abweichen. Vermutlich heißt das auch, dass die Verzögerung in den großen Städten deutlicher als auf dem Land ist, wegen der entsprechenden Temperaturunterschiede.

Wie es bei Durchschnittswerten und Durchschnittsgegebenheiten so ist, man muss immer sehen, wo man da hineinpasst. Gestern übrigens, aber das nur als Scherz am Rande, sah ich aus dem Augenwinkel eine Meldung über Lieder, die Menschen besonders gerne kurz vor dem Tod hören. Ich sage es ja, alles wird gezählt, und wie gut ist das aus meiner Sicht. Eines der meistgewünschten Lieder war „My way“, was nicht ganz ohne Komik ist. Denn wir könnten es, wenn es uns doch mehrheitlich zu verbinden scheint, also auch auf „Our way“ umtexten. Es sind alles geteilte Erfahrungen. And so we face the final curtain etc.

Unter den Top Ten dieser besonderen Lieder war auch, und das immerhin fand ich überraschend, „Girls just want to have fun.“ Schriebe ich Kolumnen aus weiblicher Sicht, käme mir das wie ein Thema vor.

Aber egal, wo war ich. Das Wetter, das Laub, der Herbst. Wer die App des Deutschen Wetterdienstes nutzt, so wie ich, kann darin auch selbst Meldungen zu den entscheidenden saisonalen Veränderungen bei Pflanzen eingeben. Dann weiß die Allgemeinheit wieder mehr und muss nicht vage herumraten.

Eine gute Sache also, da mal mitmachen, ich bewerbe das ebenso ausdrücklich wie unbezahlt.

(Auf dem Startbildschirm über „Weitere Produkte“ den Bereich „Pflanzenmeldungen“ hinzufügen, dann läuft es und man kann auch sehen, was in der eigenen Region bereits erfasst wurde.)

Eine herbstliche Blüte mit hängenden Blütenblättern

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Zur Ordnung der Symbole

Frau Herzbruch zur Lage und zum Exil. Zu den Ländern, in die man meint, sich notgedrungen zurückziehen zu können, was ich in den meisten Fällen für eine Illusion halte: Ich zähle weiter mit, wenn in meinen Timelines ein Land in diesem Kontext erwähnt wird. Kanada führt.

Gleich wieder ein Lied im Ohr:

“On the back of a cartoon coaster
In the blue TV screen light
I drew a map of Canada
Oh, Canada
With your face sketched on it twice”

In dem Lied ist ein Bezug zu Rilke, sagt die Wikipedia, guck an.


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In den Läden des Stadtteils sehe ich seit Montag, als sei das ein allgemeingültig festgelegter Stichtag gewesen, irgendwo nachzulesen womöglich, deutlich anschwellende Halloween-Deko. Die Symbolik folgt dabei wieder einem strikten Kodex, wie wir es neulich erst beim Oktoberfest verhandelt haben.

Man wird es auf erstaunlich wenig Elemente herunterbrechen können, was da Halloween ausmacht. Was vielleicht heißt, man müsste aber länger darüber nachdenken, dass es stets nur eine geringe Durchschnittszahl von Zubehörteilen ist, um die zwanzig vielleicht, die für uns so etwas prägen. Mehr brauchen wir nicht. Eine Farbe, ein Kostüm, eine Handvoll Dekoelemente, vier, fünf Lebensmittel … Fertig ist das Fest, die Saison, die Jahreszeit, was auch immer. Restringierter Code bei allem.

Und diese zwanzig könnte man sicher auch noch kürzen, auf zehn, auf fünf, auf den Kern. So wie Weihnachten in den Emojis längst zu Tanne, Geschenk und Weihnachtsmanngesicht geworden ist und damit in der weltlichen Ausprägung vollumfänglich beschrieben werden kann.

Alles auf Emojis runterbrechen. Womöglich ist es auch eine Aufgabe beim Nachdenken über den eigenen Lebenslauf.

Wobei, ordnungsliebende Menschen wird es ebenso stören wie mich, die Halloween-Artikel eigentlich vor den Weihnachts-Artikeln in den Läden erscheinen müssten. Aber es ist umgekehrt, in jedem Jahr ist es umgekehrt. Schlimm.

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Nachmittags kurz in den Park gegangen. Es ist immerhin Herbst und ich habe also nachgesehen, ob ihn schon jemand totgesagt hat, diesen Park. Aber dem ist nicht so, und auch der reinen wolken unverhofftes blau war an diesem Tag nicht zu sehen oder doch nur für Minuten.

Egal, Bildbeweis machen, alles notieren und dokumentieren.

Während ich noch im Park stehe und mir ein Bild von der Situation mache, höre ich, wie jemand im Vorbeigehen zu seinem Freund sagt: „Das Gelb kommt irgendwie spät in diesem Jahr.“ Er zeigt auf die Bäume vor uns, der Freund nickt.

Am Ende, da bin ich dann wieder bei der eskalierenden Unordnung, kommt Halloween noch vor dem Gelb. Es ist eben alles außer Rand und Band.

Nur die allgemeine Stimmung nicht.

Bäume in einem Park vor Regenwolken, das Laub noch grün und kaum verfärbt

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Montag, verdämmert

In der Nacht auf den Montag werde ich durch einen der Söhne um meinen Schlaf gebracht, weil sich einer von ihnen etwa gegen zwei Uhr Essen macht. Es sind immerhin Teenager im Wachstum, da ist die Not manchmal auch zu ungewöhnlichen Stunden groß und Abhilfe dringend erforderlich. Und ich weiß, dass in solchen Momenten quasi alles konsumiert wird, was grob als essbar verstanden werden kann.

Manchmal deute ich einigermaßen amüsiert am Morgen die nachts entstandenen Spuren in der Küche. Sherlock Holmes nichts dagegen, wo führt die Krümelspur hin, wozu gehört dieser Fetzen Verpackung neben dem Mülleimer, was hat da auf die Spüle getropft. Und was muss ich alles nachkaufen.

Ah, jemand hat die seit zwei Jahren abgelaufene Blockschokolade zum Backen gefunden, die ganz hinten im Schrank war. Wie sorgsam und gründlich sie dann beide auf einmal suchen können. Ich erinnere mich dunkel, auch selbst diese Phase in dem Alter gehabt zu haben. Diese Zeit, in der ich morgens ein ganzes Toastbrot mit gruseligen Mengen Nutella konsumiert habe. Im Nachhinein ist es ein eher belastender Gedanke, und man müsste sich meinetwegen auch nicht an alles erinnern. Manches gezielt löschen zu können, das kann eine so angenehme Vorstellung sein. Aber vermutlich würde ich auch das eskalieren und es bliebe dann wenig übrig. Problem.

In dieser Nacht jedenfalls seltsame Geräusche aus der Küche, das Backblech oder was auch immer poltert dort, etwas klirrt, etwas knarrt, jemand rückt einen Stuhl. Und ich werde diese Elternreflexe, die noch aus der Kleinkindzeit stammen, hartnäckig nicht los. Das ist nur der Herzdame gelungen, die selig weiterschläft, was auch immer in dieser Wohnung nachts passiert. Ich aber werde wach und höre angestrengt hin. Immerhin stehe ich nicht mehr auf und sehe nach, was da los ist. Sie werden schon klarkommen, die Söhne, was auch immer sie da treiben. Es wird schon gutgehen.

Aber wieder einzuschlafen, das ist manchmal eine doch hohe Kunst. Und diesmal gelingt es mir nicht.

Den Montag verbringe ich entsprechend in desaströser Müdigkeit am Schreibtisch im Home-Office und fühle mich dabei, als stünden mir etwa zwei Gehirnzellen zur Verfügung. Bleischwere Augenlider, eine Körperhaltung wie ein Sandsack auf dem Bürostuhl.

Ich könnte von diesem Stuhl rutschen, denke ich zwischendurch, und einfach gleich hier auf dem Boden schlafen. Wenigstens ein Viertelstündchen. Aber, sehe ich dann, es müsste erst einmal jemand staubsaugen, wie sieht es denn da unten schon wieder aus. Und wer in diesem Haushalt „jemand“ ist, das weiß ich auch mit nur zwei blinkenden Gehirnzellen noch. Wie ich vor Urzeiten schon einmal in einer Zeitungskolumne notiert habe, ist aus mir immerhin jemand geworden.

Ich schlafe also nicht, natürlich nicht. Ich mache weiter, selbstverständlich mache ich weiter. „Aushielt er, bis er das Ufer gewann“, Fontane hat mit seinen Zeilen sicher Menschen wie mich gemeint.

Aber als ob es mir jemand danken würde, „Unsere Liebe sein Lohn“, ja von wegen.

Ich lese zwischendurch die Nachrichten vom Wochenende nach. Ich denke, wenn ich ein wenig wütend werde, was mittlerweile systemimmanent geworden ist, wenn man sich mit der Lage beschäftigt, werde ich womöglich etwas munterer, etwas belebter, springt der Kreislauf vielleicht etwas an.

Die Nachrichten aber zitieren Sätze von Egon Krenz, die Älteren erinnern sich, und das nicht nur auf einer Seite. Ich bin also doch eingeschlafen und träume einigermaßen wirres Zeug. Wie auch immer mein Unterbewusstsein nun auf diesen Herrn aus der dunklen Vergangenheit kommt, man kann das nicht immer schlüssig nachverfolgen.

Der weitere Montag vergeht in der Unsicherheit des lockenden Halbschlafs und des fortwährenden Dämmerns. Und falls noch etwas anderes an diesem Tag war, dann habe ich es mit großer Sicherheit nicht mitbekommen.

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Im Bild ein ausgedientes Klavier am Straßenrand unter einer Brücke in Hammerbrook. Etwa so einsatzbereit und verstimmt wie ich zum Wochenanfang.

Ein marodes, ausgesetztes Klavier unter einer Brücke in Hammerbrook

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Kontrastprogramm

Gehört, zumindest schon halb gehört und bereits gut gefunden – eine Lange Nacht über Hans Fallada.

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Vanessa notiert, was man aus ihrer Sicht gegen den Rechtsruck tun kann.

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Giardino berichtet von der Isle of Mull. Für mich wieder eine amüsante Querverbindung, denn ich fing gestern beim Spazierengehen das Hörbuch „Die tollen Männer“ von Robert Louis Stevenson an, es wird gelesen von Rolf Boysen. In dem Buch heißt der Schauplatz der Handlung Aros. Im Text von Giardino wiederum kommt der Ort Aros Park vor. Wie wahrscheinlich ist es wohl, dass ein solch entlegener Begriff, den ich vorher nicht einmal kannte, mir gleich zweimal in so kurzer Zeit begegnet?

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Am Sonnabend gab es im weiteren Verlauf ein rabiates Kontrastprogramm. Vom milden Mörike am Morgen auf dem Land in Nordostwestfalen, ich berichtete, zum ruppigen Großstadtrealismus in nur wenigen Stunden. Am späten Nachmittag, gleich nach der Ankunft in Hamburg, ein ausgedehnter Spaziergang in Richtung Hafen und bei letztem Sonnenlicht runter zu den Landungsbrücken. Mit Aussicht auf eine urbanromantisch bei Blohm & Voss langsam ins Dunkel abtauchende Elbe, was eine große Zahl von Touristen entlang der Promenade hervorragend inszeniert fand. Das Publikum auf den üblichen Aussichtsplätzen gab sich beeindruckt und hochzufrieden. Gute Großstadt, gerne wieder.

Blick von der U-Bahnstation Rödingsmarkt aus in Richtung Gedächtniskirche, letztes Sonnenlicht spiegelt sich in den Fassaden der Büros

Elbphilharonie und umgebende Gebäude im Sonnenuntergangslicht

Der Uhrturm an den Landungsbrücken im Abendlicht, Passanten am Geländer der S-Bahnstation im Gegenlicht

Die Helgoländer Allee hoch. Wo zwei Touristenkinder staunend vor den Lagerstätten der Obdachlosen unter der U-Bahn-Brücke standen. Sie fanden diese ebenso witzig wie wildromantisch und kommentierten sie laut. Ihre Eltern wussten nicht recht, was sie dazu sagen sollten, sie kamen wohl aus einer Gegend, in der sie so etwas bisher nicht erklären mussten. Auch das ist ein Kontrastprogramm, und ich kann es verstehen, wenn einiges in der großen Stadt ausgesprochen schockierend auf Menschen aus besinnlicheren Gegenden wirkt. Viel gelernt damals, als die Großeltern der Herzdame, die kaum je aus dem Heimatdorf herauskamen, einmal (und nur einmal) bei uns in der Stadtmitte waren.

Bei ihnen habe ich den Kulturschock gründlich mitbekommen und verstanden. Die beiden hätten auch ein anderes Universum mit vielarmigen Aliens besuchen können, so fremd war ihnen vieles, was bei uns Alltag ist. Auf dem kurzen Weg von unserer Wohnung zur Alster gingen sie über eine Straße mit so viel Spuren, wie sie es sonst von der Autobahn kannten. Nur um dann auf vermeintlich sicherem Boden von irrsinnig schnellen Inlineskatern, pöbelnden und klingelnden Radfahrern und zahllosen Joggerinnen umgenietet zu werden. Sie konnten es kaum fassen, und nichts daran fanden sie schön.

Über die Reeperbahn, die sich gerade zusehends für das übliche Samstagabendprogramm füllte, ging ich zur S-Bahn. Und dann bloß schnell weg aus der Standardamüsierzone, noch vor dem Eintreffen der partywilligen, durstigen Massen. Die ersten Gruppen liefen schon auf, es wurde hier und da bereits eng auf dem Fußweg, es wurde schon Alkohol herumgereicht, es wurde schon lauter.

"Bier Burger Wings" steht in Neonschrift an einem Eckfenster der Tanzenden Türme auf der Reeperbahn

Der Lucullus-Imbiss auf der Reepeerbahn im Dunkeln mit leuchtenden Neonlampen und -schriften

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Nach Hause und mit Buch ins Bett, weiter im Anatol Regnier.

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Im Nebel ruhte noch die Welt

Es ist Erntedank, sagt die Kalender-App, und sie wird es immerhin wissen. Ich verbinde wenig mit dem Datum, es hat keine Tradition in meiner Familie, weder in meiner Kindheit noch in der der Söhne. Ich lese routinemäßig und stets bemüht weiterbildungswillig etwas zum Fest nach und sehe, dass die beiden großen christlichen Kirchen den Feiertag nicht immer am gleichen Tag begehen. Da ist eine Woche Abstand, das habe ich nicht gewusst. In diesem Jahr feiern sie beide heute, Terminzauberei.

An den freien Tagen auf dem Land ist mir kein Hinweis auf Erntedank aufgefallen, nirgendwo, und ich bin mir nicht sicher, ob das früher nicht anders war. Wobei dieses Früher nicht allzu lange her ist. Aber wie immer – je länger ich darüber nachdenke, desto unsicherer werde ich. Wer kann schon seinen Erinnerungen trauen.

Für die Ernte im eigenen Garten, ich notierte es bereits, können wir uns schnell und wie nebenbei bedanken, es gab fast nichts. Das kann man als Gärtnerin so abtun und auf bessere Jahre hoffen. Auf wieder ertragreichere Sommer mit etwas mehr als drei Heidelbeeren, mit vielleicht wenigstens einem Kürbis und nach Möglichkeit ohne sterbende Obstbäume.

Da ist im weiteren Herbstverlauf noch etwas zu ersetzen, fällt mir dabei ein. „Pflichtgemäß Pflaume pflanzen“ muss ich in den Kalender mit den To-Dos übertragen.

Am Sonnabendmorgen fuhr ich auf dem Dorf in Nordostwestfalen mit dem Auto zum Brötchenholen. Zu Fuß wäre ich stundenlang unterwegs gewesen, die Option fiel also flach, selbst für einigermaßen leidenschaftliche Fußgänger wie mich. Ich fuhr los, sobald der Laden aufmachte, im Nebel ruhte da noch die Welt. Und diese halbe Stunde, in der ich da unterwegs war … ich weiß nicht recht, ob ich überhaupt schon einmal durch weißes, wolkiges Wabern derart wenig Sicht hatte. Es war beeindruckend, und es war auch etwas erleichternd, dass mir kaum anderen Autos oder größere Wildtiere begegneten.

Eine traumschöne Fahrt durch eine erheblich veränderte Welt war es, durch ein Herbstmorgenbilderbuch. Es war nur, wie der Kunde vor mir beim Bäcker fröstelnd zur Verkäuferin sagte, „etwas frisch am Ärmel.“ Drei Grad, es fiel in der Tat überschaubar aus. Ich war wieder nicht passend angezogen dafür, das Problem verfolgt mich in diesem Herbst offensichtlich. Zitternd und klappernd am Steuer gesessen und auf die Heizung gehofft, ein weiteres erstes Mal in der Saison.

Ich habe dann gleich nach dem Familienfrühstück noch eilig versucht, ein wenig von der schnell schwindenden Stimmung draußen einzufangen. Da stieg der Nebel aber schon und Wald und Wiesen träumten bereits nicht mehr, rührten sich schon etwas, belebten sich bereits.

Aber sonst … der Ausblick über die teils abgeräumten Äcker war noch recht dicht am ollen Mörike. Diese zwei, drei Stunden waren so nah an seinem Septembermorgen, wie sie nur sein konnten, wenn es auch schon Oktober war:

„Im Nebel ruhet noch die Welt,
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.“

1827 schrieb er das. Es kommt in der richtigen Gegend und zur richtigen Stunde also immer noch hin, wie dann der Rest des Vormittages auch in aller Klarheit bewies. Fallende Schleier, blauer Himmel unverstellt, warmes Gold und alles, die volle Punktzahl wurde einwandfrei erreicht.

Für die Mitglieder des Freundeskreises deutsche Naturlyrik ist so etwas eine Art Hauptgewinn, und so oft gibt es den gar nicht.

***

Lebensbejahende Musik habe ich beim Spaziergang durch diese Nebelwelt gehört, denn es gibt ein neues Album von Dan Reeder.

And when I die

don’t bury me

just drop my tombstone right on top of me

with my arms and legs sticking out

like that cartoon we’ve all seen

and make it say

he took on this hopeless world.

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Greifvögel und Drachen

Gehört: Zwillingsforschung – Was alles in unseren Genen steckt, aus der Reihe „Das Wissen“. Das war interessanter, als ich zunächst dachte, und es ist für jeden etwas dabei. Etwa für Eltern: „Sie müssen sich schon Mühe geben, etwas falsch zu machen.“ In dieser Deutlichkeit hört man entlastende Sätze doch selten, das ist auch einmal nett. Es geht da viel um Begabungen und Neigungen, und es heißt weiter: „Wenn sie ein Minimum zur Verfügung stellen, dass die Kinder die Möglichkeiten haben, sich zu entfalten, machen die Kinder schon ihr Ding.“

Nebenbei gelernt, dass es im Stammbaum der Bachs 50 Musikerinnen und Musiker gab, was für eine üppige Zahl.

Ich hatte vor den eigenen Kindern eher wenig Kontakt mit kleinen Menschen, und ich weiß noch, dass ich in den ersten Jahren überrascht war, wie charakterlich ausgeprägt sie geliefert werden. Mir war das nicht bekannt. Wie sehr sie bereits Persönlichkeit sind, auch wenn sie gerade erst angekommen sind. Und wie sich das dann durchzieht, selbst gegen Widerstände, mit welcher Vehemenz sich Neigungen und Abneigungen durchsetzen können oder sogar müssen.

Und dann noch einmal rückblickend in mein Selbstbild eingebaut, dass es bei mir also auch so war, warum sollte es anders gewesen sein. Eine Art Perspektivverschiebung.

Für den Freundeskreis Neurodivergenz ist in der Sendung auch kurz etwas dabei. Außerdem für Menschen, die sich für traditionelle Wahlergebnisse in gewissen Gegenden interessieren, für die Lust am Autoritären oder an liberaleren Einstellungen etwa. Auch ein faszinierendes Thema. Aber bloß nicht weiter einsteigen, wer hat Zeit für das alles, nur den einen Kernsatz noch eben mitnehmen:

„Man muss sehr lange suchen, um etwas zu finden, das nicht erblich ist.“

***

Ansonsten gab es noch einen Tag auf dem Land, mit Sonnenschein, korrekter Oktoberstimmung und allem. Dieser Gegend steht der beginnende Herbst ausgesprochen gut, aber für welche Gegend würde das nicht gelten.

Frühherbstlich anmutende Bäume an einer Landstraße

Die Maisarmeen stehen noch stramm auf den Feldern und sehen allzeit grimmig abwehrbereit aus. Die Felder mit den Sonnenblumen aber wirken, als würden da Tote immer weiter unheilig paradieren. Die riesigen Stauden haben jetzt etwas Zombiehaftes, mit ihren abgestorbenen, hängenden Köpfen, ein Wiedergänger neben dem anderen, die letzten Divisionen. Kopflos, aber aufrecht.

Über den bereits abgeernteten Feldern rüttelnde Greifvögel beträchtlicher Größe, die spähen nach Mäusen und Hasen. Ich habe es neulich doch geahnt, dass noch Vögel dieser Familie im Text vorkommen werden. Aber erkennen, nein, erkennen kann ich sie nicht, sie sind zu weit oben, zu fern. Wie Drachen stehen sie am Himmel, ich stehe mit dem Kopf im Nacken darunter, und dann fällt mir ein, dass der verstorbene Großvater der Söhne auf genau diesem Feld einmal Drachen mit ihnen hat steigen lassen. Etwa zur gleichen Zeit im Jahr, vor allerdings vielen Jahren.

Am Rand der Landstraße einige Rabenkrähen, die sich um die kleinen Opfer des Verkehrs kümmern. Ernst und sorgsam arbeiten sie das ab, in schwarzer Bestatterkluft.

Ein letzter Apfel an einem kahlen Zweig

An den Obstbäumen entlang der Straße ins Dorf hängen noch letzte Äpfel und Birnen. Unter ihnen fault es, aber auf den saftig vergehenden Stücken am Boden wimmeln nun keine Wespen mehr herum. Wir sind schon weiter.

Nachher zurück nach Hamburg, weiter im Großstadtprogramm.

Auf einem Weg an Feldern entlang steht mit Kreide: "Auf geht's"

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Oktober, fortschreitend

Unsere Korrespondentin in Frankreich schreibt: „Ich bin umzingelt vom Oktoberfest.

Da kann ich anlegen, das ist auch aus meiner Sicht richtig beobachtet. Da ändert sich gerade etwas und wir sind live dabei. Schon in den letzten Jahren deutete es sich an, jetzt wird es deutlicher. Es laufen mir auch in Hamburg immer mehr Menschen über den Weg, die sich durch Textilsymbolik klar ausgedrückt in Oktoberfeststimmung befinden oder aber in diese hineinwollen. Lederhosen, Dirndl und andere Trachtenversatzstücke als, nun ja, Verkleidung, anders kann man es nicht nennen. Dazu das stete Bemühen um Bier, es wird teils in größeren Mengen mitgeführt.

Die Zubehörgewandungen fallen teils auf den ersten Blick als ausgefeilt und teuer aus, teils auch als billig und in Grabbeltischoptik. Das Kostüm der letzten Minute, nimm diesem Hut mit Plastikfeder. „Morgen ist Oktoberfest, da brauche ich noch etwas Passendes“, und alle wissen dann, was man da braucht. Man kann es aufzählen, so viele Teile sind es gar nicht. Und wie bei den unsäglichen Junggesellenabschiedsfeiern gehen die Gruppen gerne in uniformen Kostümierungen, damit das Rudel als solches sofort zu erkennen ist.

Ich sehe Grüppchen in diesen Outfitvarianten beim Einkauf. Sie erwerben wie vorgeschrieben die Waren aus der blauweiß verzierten Sonderproduktpalette Oktoberfest beim Discounter. Sie werden vermutlich später Bierzeltgarnituren damit bestücken und es passende Dekoration nennen. Es sieht aus wie in einem Werbefilm, es ist aber echt und, das kommt mir wichtig vor, es sieht keiner mehr hin. Auffällig ist es nicht mehr, auch in Hamburg nicht, wenn zur Oktoberfestzeit Grüppchen im gleichzeitig reduzierten und überdrehten, also eigentlich karikaturhaften Bayernlook durch die Straßen gehen. Es ist nichts Besonderes mehr, nur ein weiterer Termin im Partykalender der Stadt.

Es wird eine deutliche Steigerung der Oktoberfestkopien in Betrieben, Firmen, Büros, Sportvereinen, Freundeskreisen, Altersheimen und was auch immer geben. Originell und seltsam abwegig ist so etwas nicht mehr. Aber lange her ist es nicht, dass das bei uns so war.

Ein weiteres Fest mit karnevaleskem Zubehör also, mit Kostüm und Dekoration. Siehe dazu auch den Hamburger Schlagermove, bei dem die Symbolik längst ähnlich präzise festgelegt ist, bei Musik, Kleidung, Zubehör, Alkohol etc. Diese Parallelen können einen begeistern, wenn man sich für Alltagskultur interessiert.

Offensichtlich wollen wir, also wir im Mehrheitssinne, so etwas haben und machen. Wir basteln uns neue, bunte Traditionen für alle, und wie schnell das geht. Bei den Söhnen wird es dann bereits ein „Das war schon immer so“ sein.

***

Wir sind ansonsten ins Heimatdorf der Herzdame gefahren. In Niedersachsen sahen einige Stellen der Landschaft immerhin nach althergebrachter Oktoberoptik aus, wenn ich schon bei Traditionen bin. Als die Sonne kurz durchkam, war es hier und da auch nicht ohne jede Schönheit. Man konnte die Gegenden hinter den überall fahrenden Treckern auf den Landstraßen auch in Ruhe und mit Muße betrachten.

Besonders die Birken sind dabei zu loben. Ihr Edelmetallflitterlook sticht heraus und leuchtet auffallend, auch streuen sie die Blätter teils schon vorbildlich in die Bilder. They drift by the window, diese Blätter, fast könnte man beim Anblick die Musik von damals auflegen.


Wir wollen uns den grauen Herbst vergolden, ja, vergolden.

Wobei wir dem Herrn Storm eine Strophe des Herbstliedes rot anstreichen müssen, sie hält der Klimawandelrevision heute nicht mehr stand:

„Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt
So gänzlich unverwüstlich!“

Ich denke, wir habe mittlerweile gut verstanden, dass sie sehr wohl verwüstlich ist. Und wie wörtlich man das nehmen kann.

Ein Schulwegschild an einer menschenleeren Landstraße

Alte und ramponiert aussehende Kaugummiautomaten neben einer zugewachsenen Sitzbank an einer Dorfstraße

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Die Heiz- und Nussperiode

Ich habe versehentlich ein neues Buch angefangen. Im weiteren Sinne hat Anke Gröner Schuld daran, die es irgendwann empfohlen hat, hier war das. Mit einer knappen, aber doch eindringlich lobenden Erwähnung hat sie es da als beeindruckendstes Buch des Jahres 2023 benannt. Ich habe das Buch damals vorgemerkt und verwunschzettelt. Ich sage es ja, Blogs wirken. Ein Mensch aus dem so überaus freundlichen Publikum hier ist im ebenfalls weiteren Sinne mitschuldig, das Buch wurde mir geschenkt, dafür noch einmal Dank.

Im engeren Sinne wollte ich allerdings nur eben etwas aufräumen, wollte ich nur nebenbei die Bücher auf dem Nachttischstapel ein klein wenig umsortieren und wieder pedantisch gerade ausrichten, las ich dabei wie versehentlich kurz in den Anfang dieses Buchs hinein. Blieb dann prompt hängen, setzte mich wohl auch ein wenig, las weiter und weiter, vergaß das Aufräumen – und da ging sie hin, die Konsequenz in der Abfolge der Lektüre und der geregelten Buchauswahl, die Selbstdisziplin auch und überhaupt die Ordnung in der Beschäftigung. Hat sich doch wieder ein Werk vorgedrängelt, ist es doch wieder alles ein furchtbares Durcheinander.

Anatol Regnier, „Jeder schreibt für sich allein“, über Autorinnen und Autoren im Dritten Reich. Das Thema passt zum einen gut, fast perfekt hinter Klaus Manns Wendepunkt, das Buch hat zum anderen aber auch einen starken Zug in die weiteren Kapitel, einen geradezu spannenden Anfang, wenn man bei dem Thema von Spannung überhaupt reden mag, und so einen Tonfall, der einen trägt und lockt … ich blieb jedenfalls hängen. Und das ist gut so.

Das Buch "Jeder schreibt für sich allein" von Anatol Regnier

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Im Fachblog für Bewölkung wird gerade nachgelegt.

Ich kann da kaum mithalten. Vielleicht müsste ich öfter auf Türme steigen, um mehr Wolken über Hamburg abbilden zu können. Das dann auch einmal vornehmen, die Petri-Kirche ist immerhin nebenan und ich war seit Ewigkeiten nicht mehr dort oben.

Wolken über dem Ruderclub Allemannia an der Außenalster

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Am Dienstag wurde mein Home-Office zum ersten Mal zwischendurch von der Überlegung unterbrochen, ob das fortschreitende Frösteln noch durch einen zweiten Pullover gerichtet werden konnte oder ob doch schon die Heizperiode begonnen werden musste. 19 Grad am Schreibtisch, dann 18 Grad, Tendenz flott fallend. Ich beobachtete das wie ein Kapitän, der die Instrumente auf der Brücke ansieht, und übertrug die Daten dann ebenso ins Logbuch, also ins Blogbuch. Die Hand am heißen Kaffeebecher, kühle Zahlen auf dem Bildschirm und draußen der Dauerregen. Dazu der nasse Eichelhäher auf dem Balkongeländer, der das mit der Futterperiode auch noch einmal ansprechen wollte, assistiert von einer jungen Krähe: „Wir wollen mit ihnen über Nüsse reden.“

Aber selbstverständlich habe ich noch keine Heizung angedreht. Es macht zu wenig Spaß, wenn man sofort nachgibt. Sich erst etwas herausfordern, sich erst noch etwas vertrösten, dann schließlich zögerlich belohnen.

Affektkontrolle kann so bereichernd sein.

Eine absterbende Blüte in Großaufnahme, hängende Blütenblätter

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Beim NDR ein Beitrag wie von mir bestellt. Zum einen hatte ich das Thema gerade erst mit der Herzdame. Als wir vor ein paar Tagen, da war es noch Sommer, mehrere Stadtteile in kurzer Zeit passierten und die Temperatur-Unterschiede uns einigermaßen krass vorkamen. Als hätten wir zwischendurch die Stadt und die Klimazonen, wenn nicht gleich den Kontinent gewechselt und nicht nur drei, vier Stationen mit der S-Bahn passiert. Zum anderen hatte ich kurz darauf einen Call im Home-Office, mit anderen Menschen aus Hamburg, und es war schon an der Kleidung offensichtlich, dass wir diesen Tag grundverschieden wahrgenommen haben. Man sah, dass die Wohnungen deutlich abweichend temperiert sein mussten, T-Shirt und Rollkragen auf den Bildchen im Display.

Und das ist tatsächlich so. Die Temperatur hängt stark vom Stadtteil ab: „An heißen Tagen trennen Altona-Nord und Blankenese nicht nur acht Kilometer Distanz, sondern auch acht Grad Celsius.“

Das ist sogar noch ein wenig mehr, als ich angenommen habe. Der vermutlich eher klein ausfallende Freundeskreis Hammerbrook wird den seltsamen Stadtteil im Text drüben prominent erwähnt finden, als innerstädtischen Backofen. Wobei unser kleines Bahnhofsviertel in erwartbarer Weise als Stadtmitte nicht viel besser wegkommt.

Im Bild schön passend die lebensbejahende Bebauung im Backofengebiet.

Dunkle Bürofasssaden am algengrünen Südkanal

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Mit Übermut und Spontaneität

Es kam in den letzten Tagen der erfreuliche Ausschüttungsbrief der liebenswerten Einrichtung VG Wort, der vermutlich beste Brief des Jahres. Ich könnte mir einen materiellen Wunsch erfüllen, so erfreulich ist die im Schreiben benannte Summe. Einfach so könnte ich das, wie ein Mensch mit Übermut und Spontaneität. Also wenn ich denn einen Konsumwunsch hätte, dann könnte ich das. Aber ich scheine gerade nichts so dringend zu brauchen, dass der Erwerb eine echte, große Freude wäre – und wie toll ist das denn bitte, da muss man auch erst einmal hinkommen.

Ein billiges Vergnügen im Alltag – an Schaufenstern entlanggehen und permanent denken: „Brauche ich nicht.“ Befreiend fühlt sich das an.

Danke für’s Lesen, auch an dieser Stelle, diesen Brief hätte es sonst nicht gegeben.

Der Bug der Susebek an der Binnenalster, Anleger Jungfernstieg

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Ein Sohn gibt sich ansonsten seit Tagen verdächtig grippal. Die anderen Familienmitglieder umkurven ihn bemüht weiträumig, was in einer kleinen Wohnung nicht eben einfach ist, wir können uns hier nicht in den Westflügel zurückziehen. Wir warten also auf die Ansteckung, man wird sie am Ende doch nicht vermeiden können. Auch das ist wieder ein Saisonbeginn, diesmal immerhin passend zum Kalender. Da muss man sich schon freuen, etwas Ordnung in dieser Welt.

Nachts einmal aufgewacht und gefroren, gleich einen Verdacht gehabt. Es war dann aber nur das Wetter, kein Virus, die Heizperiode rückt in unerwartet großen Schritten näher. Regen auf den Fensterscheiben hörte ich in dieser wee small hour, und wie viel davon, schwallartiges Erbrechen der Wolken über Hamburg. Morgens beim Aufwachen dann erst einmal kurz überall hingefühlt. Halsnasenohren, Gelenke, Haut und alles, hat es mich schon erwischt, fühlt sich etwas falsch an … nein, heute wird es noch gehen.

Durchatmen, weitermachen.

Nassgeregnete Stühle und Tische in der nächtlichen Außengastro

Verblüffend übrigens, was für Aufnahmen so ein Smartphone mittlerweile bei schwachem Licht hinbekommt. Ich schaffe meine Spaziergänge kaum noch bei Tageslicht, Hamburg bei Nacht wird auf den Bildern hier in der dunklen Jahreszeit eine Rolle spielen müssen.

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Der nächste und leider letzte Band der unterhaltsamen Tagebücher von Manfred Krug ist erschienen: „Ich beginne wieder von vorn“. Das Hörbuch wurde erneut hervorragend einfühlsam gelesen vom Sohn Daniel. Dessen Stimme dermaßen nach seinem Vater klingt, dass es einem nach einer Weile ununterscheidbar vorkommt.

Für geschichtlich interessierte Menschen eine unbedingt empfehlenswerte Reihe, diese Tagebüchersammlung. Im Moment ist er im Jahr 2000, und wie schon in den letzten Bänden kommen Namen vor, die ich merkwürdig gründlich abgelegt habe. Manfred Kanther etwa. Ich höre seinen Namen, ich bin überrascht – ach ja, den gab es auch. Wie entlegen weit weg kann das Hirn manche Figuren und Umstände archivieren, wie tief im Keller der Erinnerung liegt mein Wissen um diese Jahre? Helmut Kohl und der Bimbes, all das, ewig nicht mehr daran gedacht. Hundert Jahre muss es mindestens her sein und es war eine Epoche, mit der ich mich kategorisch nicht mehr zu beschäftigen scheine. Auch interessant.

Dabei gibt es selbstverständlich wieder Bezüge zur Gegenwart, und nicht zu knapp. Manfred Krug notiert über Sarah Wagenknecht: „Die blöde Sarah Wagenknecht, die in allerlei Talkshows ihre Sehnsucht nach dem schweinemäßigen DDR-System nicht verbergen kann.“ 

24 Jahre ist es her, dass er diesen Satz geschrieben hat.

Er ist ansonsten fast durchweg irritierend zufrieden mit sich und seinen Leistungen. Immer wieder stolpere ich darüber und kann mich kaum entscheiden, ob ich es beneidenswert, nur beeindruckend oder doch eher unangenehm finden soll. Er ist überzeugt von sich als Schauspieler, als Autor, als Musiker, als Denker, als Mensch. Er ist oft geradezu begeistert von sich selbst und findet sich sympathisch. Eine Gefühlslage, die mir in dieser Ausprägung vollkommen unbekannt ist.

(Die Geschichte dieses Auftritts kommt ausführlich in dem Buch vor)

Es gibt humorige Passagen, da klingt seine Haltung sich selbst gegenüber nicht abstoßend, eher anziehend. So ein kumpelhaftes Verhältnis zu sich selbst zu haben, das ist also auch eine Möglichkeit. Ein für mich faszinierender, schwer vorstellbarer Gedanke – mit sich so grundlegend einverstanden zu sein.

An einem Fallrohr steht das Wort "Love"

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Stühle unter Regenschauern

Einer der öffentlichen Bücherschränke hier ist eine ausgediente Telefonzelle, in die man einige Regale montiert hat. Ihr Geruch entspricht nicht mehr dem, an den wir uns aus dem letzten Jahrhundert erinnern, vermutlich weil die hängenden Telefonbücher mit ihrem leicht süßlichen, seltsam fahlen Papieraroma fehlen. Aber wenn man an einem frühen Herbstmorgen die Telefonzellenbücherschranktür öffnet, gibt es eventuell dennoch einen starken sensorischen Reminder an vergangene Jahrzehnte. Nämlich das gruselige Gefühl auf der Haut, wenn man beim Betreten einer Telefonzelle durch ein in der Nacht entstandenes Spinnennetz geht. Wenn sich dieses einem sachte ums Gesicht legt und man fein verschleiert und bei aktivierten Urinstinkten panisch hinspürt, ob etwas irgendwo auf einem herumkrabbelt. Sehr präsent werden sie einem dann wieder, die Telefonzellen von früher. So vollgeraucht, verdreckt, versponnen, versifft und ungemein wichtig, wie sie für uns waren.

Eine meditative und entspannende Übung für Menschen aus dem letzten Jahrhundert ist es übrigens, sich noch einmal in Ruhe vorzustellen wo in den Gegenden, die man gut von früher kennt, damals die Telefonzellen standen. Ein Bild der Stadt, das man nach und nach anreichern kann.

Der Bücherschrank steht neben dem katholischen Dom und einigen kirchlichen Einrichtungen, etwa einem Seniorenheim, der Bistumsverwaltung etc. Auf den Regalen des Schranks sehe ich Ratzingers aussortierte Schriften neben denen von Karl Marx und Konsalik. Da wächst etwas zusammen, in den Buchreihen dort. In der ausgedienten Zelle die ausgedienten Meinungen vergangener Debatten. Daneben noch ein Schwung aktueller Küstenkrimis und der in jedem Bücherschrank unweigerliche Mankell mit gleich mehreren Titeln. Dazu die ebenso erwartbare Pilcher und der ewige Hundertjährige, der aus dem Fenster … diesmal steht er da in zwei Exemplaren. Er kam auch schon dreifach vor.

Welche Gesellschaft bildet das ab und möchte man das wissen. Aber wo ich schon dabei bin, immer an die große Chronik denken – rechtslastige Bücher kamen in den Bücherschränken bisher kaum vor, nur einmal ein vereinzelter Sarrazin. Woraus kaum etwas abzuleiten sein wird, ich stelle es nur eben nebenbei fest. Die entsprechenden Bestseller sind noch zu frisch, um dort zu stehen. Die kommen in zehn, zwanzig Jahren dazu.

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Draußen sehen wir nun die Schlussphase der Außengastro, nasses Gestühl unter dem nur zögerlich fallenden Herbstlaub. Eng zusammengedrängte Stühle unter Regenschauern. Klatschnasse Sonnenschirme und die bereits abgebaute Gastlichkeit.

Tisch und Stühle unter nassem Herbstlaub

Demnächst werden die Sommerrequisiten wieder irgendwo eingelagert. Es verbleiben im Straßenraum die üblichen zwei, drei Stühle neben den Eingangstüren, die Stammplätze für die Winterraucher in den dicken Daunenjacken.

Zusammengeklappte, weggestellte Tische der Außengastro

Die Fußwege im Viertel werden wieder leerer, breiter und luftiger. Das soll mir recht sein, es gibt bald mehr Platz für mich und meine ausladenden Einkäufe, ich muss endlich keine aperolseligen Touristengrüppchen mehr knurrend umkurven wie der einheimische Nörgelrentner vom Dienst.

Lassen Sie mich durch, ich habe eine Familie zu versorgen.

Zusammengestapelte Stühle der Außengastro

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