Wünsche, Ziele und Termine

Den Wendepunkt von Klaus Mann am Sonntag durchgehört. Immer weiter durch die Kapitel, die immer furchtbarer werden, immer tragischer, und es gibt über die ganze Strecke nirgendwo einen Mangel an aktuellen Bezügen. Man hört oder liest ein paar Absätze, man macht die Nachrichten an und es passt.

Haben wir nicht gewusst, dass Österreich fallen wird, und sind dennoch wie vor den Kopf geschlagen?“

Aber gut, es war ein etwas anderer Zusammenhang damals, 1938 war kein Wahlergebnis gemeint.

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Zur Soziologie des Alltags: Nils Minkmar über die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen.

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Wir winken Kris Kristofferson, einem der ganz großen Songschreiber, der nun nichts mehr zu verlieren hat. Hier ein Nachruf im Guardian.

Gehört: Eine neue Folge Radiowissen über Tschingis Aitmatow und Kirgisien: Nomaden, Jurten und Kolchosen. Mit einer feinen Querverbindung zur neulich von mir besuchten Ausstellung in Lübeck über Thomas Manns Zauberberg. Die attraktiven Züge der Hauptfigur Clawdia Chauchat werden, und ich hoffe, mich richtig zu erinnern, im Roman auch als kirgisisch bezeichnet.

Apropos Aitmatov, ich war in der letzten Woche zum ersten Mal in der neuen Rathauspassage. Die so neu nicht mehr ist, ich brauche oft eine beklagenswert lange Anlaufzeit bei neuen Projekten und Adressen in dieser Stadt, ich komme zu nichts. Ich war auch als vielleicht letzter Hamburger noch nicht in dieser modernen Elbphilharmonie da unten am Hafen.

Aber da ich mich gerade kulturell bemühter und jedenfalls umtriebiger gebe, komme ich womöglich in den nächsten Monaten dazu. Man hofft so vor sich hin.

Die Rathauspassage ist ein soziales Projekt mit Flächen in bester Lage. Ich war angenehm überrascht, dass das Angebot im Antiquariat dort ansprechend und auch günstig war. Da demnächst mit mehr Zeit hingehen, da demnächst einige Bücher abräumen. Etwa die Erzählungen von Aitmatow. Die hätte ich gleich mitnehmen sollen, wie ich hinterher dachte und mich ärgerte, die standen da bereit für mich.

Die Rathausarkaden und die Schleuse in der blauen Stunde

Der nächste Monatswechsel steht bevor. Ich habe einen ersten Blick in den schmalen Band mit den Oktobergedichten geworfen (aus der empfehlenswerten Reclam-Reihe), wie ein feingeistiger Prepper. Lyrisch gesehen entspricht die Lage aber dem, was ich neulich bei den Äpfeln erwähnt habe: Es gibt eine Abweichung von zwei oder eher schon drei Wochen zum althergebrachten Rhythmus. Wir sind bezogen auf die lyrischen Bilder noch Anfang September, denn das Obst geht vor, etliche Natureindrücke aber gehen nach, die assoziativen Verbindlichkeiten gehen überall baden.

Es ist ein großes Durcheinander da draußen, siehe auch die allgemeine Weltlage. Zu der wir uns am Wochenende im Altonaer Museum außerdem die Ausstellung World Press Photo 2024 angesehen haben. Hier der Museumslink, hier ein Bericht im NDR dazu, die Ausstellung läuft bis 14. Oktober.

Es war zu voll dort für meinen Geschmack, man musste einen langen Hals machen, um die Beschriftungen neben den Bildern lesen zu können. Die alternde Gesellschaft rückte auf und zusammen, so dicht es nur ging, man setzte Lesebrillen auf und ab und suchte allgemein nach der einzig richtigen Entfernung zur Schrift auf den kleinen Erklärtafeln, einen Schritt vor und zwei zurück.

Es interessiert also, was da gezeigt wird, und so soll es sein.

Nimmt man die gezeigten Aufnahmen als Abbild der Gesamtsituation, kann man seine Stimmung gleich wieder tagelang vergessen, das rauscht dann so ab. Was man da ausgestellt sieht, es ist in vielen Fällen nicht eben leicht zu betrachten. Man fragt sich vor manchen Bildern auch, wie man es aushalten kann, so etwas zu fotografieren, und man denkt sich vielleicht nebenbei: Ich könnte das ja nicht.

Aber wer weiß schon, was man alles könnte.

Eine Bildstrecke in der Ausstellung zeigt die ersten Klimaflüchtlingen in den USA. Dazu hatte ich vor längerer Zeit einen Reportage-Podcast (52 Minuten) verlinkt, das war dieser hier, und er ist sicher immer noch hörenswert. Eine kaum bekannte Geschichte, glaube ich. Aber doch eine, die im Geschichtsbuch landen könnte, am Anfang eines längeren Kapitels über unsere Zeit und das Klima.

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Außerdem waren wir erstmalig im Loki-Schmidt-Garten, wo es wegen der Norddeutschen Apfeltage ebenfalls zu voll war. Der Mainstream des Hamburger Veranstaltungskalenders war an diesem Wochenende gut besucht, wir können das bezeugen. Wir waren dabei und darunter, die Mitte sind wir.

Zwei gläsnerne Pyramiden im Loki-Schmidt-Garten

Eine leere Bank im Loki-Schmidt-Garten vor allmählich dezent herbstlich aussehender Umgebung

Ein von Entengrütze bedeckter Bach im Loki-Schmidt-Garten

Dieser Garten hat mir sehr gefallen, er ist größer, als ich dachte und es war natürlich, aber das hatte ich schon geahnt, ein absolutes Unding, den nicht zu kennen. Da also demnächst auch noch einmal hin. Wenn das Laub endlich bunter wird, in drei, vier Wochen oder so, wenn der goldene November kommt.

Wir basteln uns Wünsche, Ziele und Termine.

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Es geht schon wieder

Ein erster Herbststurm, etwas unbeholfen und tapsig, eher noch kindlich verspielt und ungeübt, sah kurz in der Stadt vorbei und kühlte sie um einige weitere Grade ab. Er verbog auch einige Regenschirme und durchnässte die Passanten in den Fußgängerzonen mittels einiger hastig hingeworfener Schauer. Schubste hier und dort etwas von den Balkonen, einige kleinere Blumentöpfe zerklirrten auf den Fußwegen neben umgestürzten Werbeaufstellern vor Läden. Mit etwas Mühe verschob er auch einige Stühle und Tische in der Außengastro um wenige Zentimeter, spielte außerdem unkonzentriert mit dem herumliegenden Laub in den Parks und verpasste Alster, Bille und Elbe nebenbei einige flüchtige Wellen. Nichts davon wirkte ernstgemeint und entschlossen.

Leere Stühle und Tische in der Außengastro, Regentropfen darauf

Rauschte dann schnell wieder ab, dieser Sturm, und murmelte im Verwehen noch etwas von großen Brüdern und später, es sollte sicher bedrohlich klingen. Na, man wird es dann ja erleben.

Die Menschen in den Fußgängerzonen nahmen die Kapuzen wieder ab und schlossen die Schirme. Sie öffneten die Jacken, sahen noch einmal nach oben und sagten, was sie nach dem Regen immer sagen: „Geht schon wieder.“

Die Elbe unter grauem Himmel, am Bildrand das Kreuzfahrtterminal

Ich las weiter und zufrieden in „Es waren Habichte in der Luft“ vom Lenz. Es liest sich umso besser, wenn draußen wieder ein Wetter stattfindet. Währenddessen meldete die Herzdame, die trotz Wind und allem in unseren Garten gefahren war um sich mit Brombeeren anzulegen, von dort mit Bildbeweis einen toten Bussard. Der lag mit weit ausgebreiteten Flügeln von beträchtlicher Spannweite vor der Laube. Noch nie einen Bussard so deutlich und nah gesehen. Dazu musste er erst das eigentlich Bussardhafte aufgeben, um so betrachtet werden zu können. Spuren von Gewalteinwirkung waren an dem großen Vogel nicht zu erkennen, auch Bussarde sterben irgendwann einfach so, nehme ich an.

Habichte in der Luft also, dazu ein Bussard am Boden. Wenn es traditionell zugeht und wie es sich gehört, wird bald noch ein weiterer Vogel aus dieser Familie ins Spiel kommen. Wo mag der auftauchen und was mag es dann sein, ein Sperber, eine Weihe, ein Milan, ein Adler? Ich passe weiter auf.

In den Gärten, das immerhin wissen wir, wohnen auch große Eulen. Ich weiß die Art nicht exakt zu benennen, es werden wohl Waldkäuze sein. Eine Belehrung aus der Wikipedia dazu: „Die Differenzierung der Bezeichnungen „Eule“ und „Kauz“ ist eine Besonderheit der deutschen Sprache und hat keine Entsprechung im Sinne einer zoologischen Systematik.

Das kann man dem nächstbesten komischen Kauz dann mal klarmachen, dass er eigentlich eine Eule ist. Und schon wird man selber einer oder eine.

Der Hamburger Hauptbahnhof vor grauem Himmel

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Zeit ohne Zukunft

23 interessante Minuten beim Deutschlandfunk über Leonard Cohen und die Religionen ausgesprochen gerne gehört – „Gebrochenes Halleluja“.

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Ab und zu ist es schön, Bestätigung zu finden, da wird es mir ebenso gehen wie allen. In einem zu Recht viel verlinkten Interview mit dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk bei T-Online lese ich einen Satz, den ich seit Jahren denke und sage, wenn nicht predige. Und bei dem ich bisher stets den Eindruck hatte, dass das sonst kaum jemand zu denken scheint, dass es auch kaum jemand ernst nimmt. Obwohl ich es so offensichtlich finde, was da ausgesagt wird. Obwohl es aus meiner Sicht unsere Zeit bis tief in den Alltag hinein klar definiert:

Unsere Zeit ist durch eine welthistorische Einzigartigkeit geprägt. Wir leben nämlich in einer Zeit ohne Zukunft.

Der Satz wird dort zunächst auf den zeitlichen Faktor bezogen. Zu ergänzen ist sicher, dass uns auch jegliches Modell für eine zu gestaltende Zukunft fehlt. Sei es ideologisch, religiös, philosophisch oder wie auch immer ausgeprägt, und dass wir auch darin wohl einzigartig sind: Vor uns ist nichts. Vor uns ist nur Nebel. Vor uns sind nur beschlagene Rückspiegel, in denen wir dies und das zu erkennen meinen. Einiges davon sieht dummerweise sogar verlockend aus, auch für mich.

Vielleicht gehören wir zu den ersten Generationen überhaupt, bei denen das so ist. Es war für denkende Menschen bisher nicht vorgesehen, es hat sich nie so ergeben, es gab nie einen derartigen Mangel an überzeugenden Ideen oder Richtungen für den weiteren Ablauf des Ganzen. Es ist eine Art geistesgeschichtlicher Unfall, ein bisher nie genommener Abzweig ins Ungefähre, Vage. Vermutlich ist es auch ein Abzweig ins tendenziell Verlorene – wobei sich die Geschichte bisher bekanntlich als einigermaßen erfinderisch erwiesen hat, also wer weiß.

Ein Rettungsring an einer Wand neben dem Alsterfleet, im Hintergrund die Elbphilharmonie, über eine Brücke ragend

Na, aber das sollen Geisteswissenschaftler bitte in ein paar erhellenden Bänden ausarbeiten und ausführlich ableiten. Ich würde sie dann lesen wollen, diese Bände, dringend sogar. Es fasziniert mich kaum ein anderes Thema so sehr.

Wir haben nicht einmal mehr eine Vorstellung von der Zukunft. […] Es werden auch keine positiven Angebote unterbreitet, sondern alles, was die Zukunft betrifft, hat einen bedrohlichen Anstrich.

Ein Aufkleber an einem Stromkasten: Der Struggle so real

Wenn wir die bisher abgenudelte und aufgeschriebene Weltgeschichte als Vorlage für Weiteres nehmen, dann können wir einen Aspekt doch vorhersehen, wenn er auch noch recht abstrakt bleibt. Denn die Nation oder das Land, die Religion, die Ideologie, die Gruppe, die Bewegung oder auch die Region auf der Weltkugel, die zuerst ein Zukunftsmodell entwickelt, das wieder richtig zieht, so als würde man nach langem Rühren im Getriebe doch wieder einen Gang finden und endlich mit neuem Schwung weiterfahren– die wird zweifellos die Überschrift des nächsten Kapitels in der Weltgeschichte sein.

Spannend ist es schon auch. Wenn ich es richtig verstehe, dann können wir diese nächste Überschrift jetzt noch nicht erkennen. Vielleicht wird es zu unseren Lebzeiten auch nichts mehr, vielleicht klärt es sich in Kürze. Vielleicht übersehe ich auch bereits etwas. Die diversen autoritären Bewegungen um uns herum sind durch die Bank ausdrücklich rückwärts ausgerichtet, die werden es eher nicht sein. Wenn sie sich nicht ändern.

Man kann und muss weiter hoffen, dass sie das dauerhaft nicht hinbekommen werden.

Ein roter Aufkleber an einem Laternenpfahl: Spaziert nicht mit Nazis!

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Kröten im Gras

Weiter Klaus Manns Wendepunkt gehört. Gestern war ein unfassbar passender Tag dafür, wie ich nebenbei beim Lesen der Schlagzeilen mitbekam. Allerdings, so viel Pessimismus muss sein, wird in absehbarer Zeit so ziemlich jeder Tag ein guter Tag sein, um erneut nachzuforschen, wie es in der Vergangenheit mit dem Faschismus war. Wie man damit umging oder daran einging. In diesem und auch in anderen Ländern, etwa in den benachbarten, von wegen tu felix etc. Nein, man möchte eigentlich nicht darüber nachdenken.

Vor allem zwei Aspekte erschienen mir bei den gestern gehörten Kapiteln erwähnenswert. Zum einen die Passagen, in denen ausführlich von den Zeitungen erzählt wird, Medien würden wir heute sagen, die vor 1933 in unfassbar suizidaler Freundlichkeit interessiert um die immer stärker werdenden Nazis herumschwänzelten. Sie sind in einer Weise auf die Gegenwart übertragbar, diese Passagen, dass einem spontan übel wird. Man möchte sich ins Straßenbegleitgrün erbrechen, noch während man es zur Kenntnis nimmt. Also im Falle eines Hörbuchs beim Spaziergang jedenfalls.

Die Parallelen fallen nicht nach und nach auf, die Parallelen schreien einen an. Wüsste Klaus Mann um unsere Talkshows, mit ihren so zuverlässig und konziliant empfangenen rechtsextremen Gästen, es wäre sicher vorbei mit seiner ewigen Ruhe. An die er allerdings kaum geglaubt haben dürfte.

Zum anderen sind seine meist wohlwollenden Beschreibungen der Dichterinnen und Dichter im Exil unbedingt empfehlenswert für alle, die sich auch nur ansatzweise für die deutschsprachige Literatur jener Zeit interessieren.

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Wo ich gestern gerade die protestantische Arbeitsethik im Text erwähnte – ist Ihnen auch aufgefallen, dass selbst im Statement der soeben ausgetretenen Prominenz bei der Grünen Jugend das Wort „Arbeit“ noch vollkommen selbstverständlich von dem Wort „hart“ begleitet wird? Ganze Essays könnte man über die Wortwahl in diesem Kontext schreiben, so interessant und aussagefähig finde ich das. Wobei es mir nicht um politische Kritik geht, nur um die Soziologie des Alltags und der Sprache.

„Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.“ Was für ein außerordentlich langlebiges Statement der Herr Luther da übersetzt hat.

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Die Herzdame und ich waren, um doch noch etwas unsere hart erarbeiteten 20 Jahre zu feiern, in der Mirou Mezze Bar am Hallerplatz. Dort serviert man israelisches Essen, und es war sehr gut. Wir konnten uns gar nicht erinnern, wann wir in einem Restaurant zuletzt so fein gegessen haben. Wir gehen aber nicht oft aus, wir sind da also kein Maßstab, meinen nur ohne viel Feldforschung herum und genießen einfach so.

Da jedenfalls ruhig mal hingehen, unserer Meinung nach.

Mezze-Auswahl im Restaurant Mirou

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Zur Strafe für meine ausgeprägte Sehnsucht nach dem Herbst hatte ich gestern einen mehrstündigen Outdoortermin bei Regen, Kälte und Wind. Es erschien mir nur fair, ich konnte das weitgehend einsehen und machte also willig mit. Ich hatte nur etwas Mühe, überhaupt geeignete Kleidung dafür zu finden.

Ein Arbeitseinsatz im Brotberuf war es, zur Abwechslung für etwas Gemeinnütziges. Wir waren zur Ernte und für andere harte Arbeiten auf der Streuobstwiese Appelwisch, die ich noch nicht kannte. Die man aber durchaus kennen kann, es ist ungemein beeindruckend dort. Bei der Gelegenheit bin ich auch zum ersten Mal an der S-Bahn-Station Wellingsbüttel ausgestiegen, denn es gibt auch beim Hamburger Nahverkehr immer noch Premieren für mich. Das könnte man sich nebenbei vornehmen, überall einmal ausgestiegen zu sein, eine verlockende Projektidee. Also falls man noch nicht genug Nebenbei im Leben hat.

Über zwei Hektar Streuobst wie früher gibt es dort jedenfalls, der Begriff Wiese ist bescheiden gewählt. Etwa 10.000 Arten wimmeln darauf, wie der Fachmann vor Ort uns sagte. Man hat etwas Mühe, es sich vorzustellen, denn man sieht keine davon auf den ersten Blick. Abgesehen von der Art Apfelbaum, die man auch als Laie sicher definieren kann. Für den Rest braucht man Geduld und sieht dann vielleicht zumindest die Kröten im nassen Gras. Und das ist auch schon etwas, was man als Hamburger aus der Stadtmitte nicht jeden Tag sieht.

Für den Freundeskreis Phänologischer Kalender wird es noch von Interesse sein, dass in diesem Jahr bezogen auf die Äpfel alles etwa zwei Wochen früher war, wie uns bestätigt wurde. Also verglichen mit einer nicht näher definierten Vergangenheit, mit einer früheren Normalität. Blüte, Frucht etc. – alles deutlich nach vorne verlagert.

Und niemand, das fand ich auch interessant, kann dort alle Apfelsorten benennen.

Die Streuobstwiese Appelwisch, Bänke unter alten Apfelbäumen

Volle Kisten mit frisch gepflückten Äpfeln

Ein abschließender Hinweis noch für dieses Wochenende: Die Norddeutschen Apfeltage im Loki-Schmidt-Garten. Wo ich auch noch nie war. Schlimm.

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Clap hands

Gelesen: Den Anfang eines Buches aus einem der mittlerweile vier – das entwickelt sich hier erfreulich – öffentlichen Bücherschränke im Stadtteil, aus denen ich fast merkwürdig gut versorgt werde, und bei denen ich natürlich auch alle Bücher im steten Umlauf halte und für Nachschub sorge: „Es waren Habichte in der Luft“ vom Lenz. Ich dachte das Buch, es war sein Erstling, längst zu kennen, das war allerdings ein Irrtum. Ich dachte auch, es seien Erzählungen, dabei ist es ein Roman.

Was man sich so denkt, und wie oft man dabei falsch liegt. Imaginierte Bildung und dergleichen. Schlimm.

Ein altes dtv-Buch, "Es waren Habichte in der Luft" von Siegfried Lenz

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Am Abend des Hochzeitstages waren die Herzdame und ich, wie romantisch ist das denn, auf einem weiteren Elternabend. Diesmal in der gymnasialen Oberstufe, in der man nur noch begrenzt für Organisatorisches zuständig ist, wie deutlich vermittelt wurde. Weil die jungen Menschen sich altersgerecht selbst um alles kümmern sollen, was sicher richtig ist.

Wir haben es vorher diskutiert, gehen wir dorthin oder nicht, an diesem besonderen Tag für uns zwei … Aber wir haben nie einen Elternabend verpasst, keinen einzigen, bei keinem Sohn, in all den Jahren nicht. Es hätte sich merkwürdig angefühlt, jetzt damit zu beginnen, auf den letzten Metern dieses Lebensabschnitts. Die protestantische Arbeitsethik bekommt man aus uns beiden nicht heraus, wie weit auch immer wir von der verursachenden Religion entfernt sind.

Und ein Elternabend ist schließlich auch ein Produkt der Ehe, so unpassend war es nicht. Dazu konnten wir uns dann gemeinsam durchringen, und wir kamen uns nicht so falsch dort vor, an diesem Abend, an diesem Jahrestag.

Der 20. Hochzeitstag war die Porzellanhochzeit, dieses Wort kannte ich sogar. Der 21. wird dann, wenn alles gutgeht, unsere Opalhochzeit. Davon wiederum hatte ich vorher noch nie etwas gehört. Wieder etwas gelernt, auch dafür sind Beziehungen gut.

Das Wort Love auf der Tür zu einem Kabuff für Mülleimer in einer Hauswand

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Ich mache ansonsten weiter in der Reihe „Selbstbezichtigungen“. Es mangelt der Gesellschaft an kritischer Betrachtung der eigenen Person, möchte ich meinen, da also nach Möglichkeit beispielhaft vorangehen. Selbstkritik kommt mir auch in Zeiten sinnvoll vor, in denen jedes morgendliche Aufstehen auf LinkedIn bereits zur absolvierten Daily Challenge und zum Milestone in der Schedule hochgejubelt wird. Man erreicht dort bei allen nur denkbaren Aspekten des Alltags und des Berufslebens mittlerweile Dimensionen der Selbstbeweihräucherung, die mir eher fremd bleiben. So gut fand ich mich nie, so awesome bin ich gar nicht, und so exciting ist es auch nicht, was ich zu erreichen scheine.

Es ist, wenn man hier und da Wahrheit und den Hintergrund kennt, kaum zu ertragen, was die ausgeprägte Herbeibehauptungskultur dort mittlerweile vollkommen enthemmt abliefert. Ich habe mir das, bevor ich meinen Account auf der Plattform einigermaßen angewidert gelöscht habe, zunehmend entgeistert eine Weile angesehen. Wie großartig sich alle dort fanden, clap hands, clap hands.

Wenn man nach dem Besuch solcher Seiten Tom Waits hört, dann heilt man wieder etwas.


Ich aber beobachte, das wollte ich nur eben sagen, erschreckend schlecht und ungenau. Es erwies sich gerade in aller Deutlichkeit, wie man hier am Beispiel des Hamburger Bahnhofs Dammtor nachlesen kann. Bei dem hatte ich neulich erst über die geschlossenen Geschäfte in der Halle unter den Gleisen geschrieben, über die merkwürdige Atmosphäre und die Dunkelheit dort, ich habe das sogar als Zeichen des Niedergangs gedeutet. Was auch halbwegs hinkommt, so ist es nicht. Sie waren aber nicht nur geschlossen, diese dunklen Geschäfte dort, sie stehen teils sogar leer, und das ist etwas deutlich anderes.

Genauer und länger hinsehen, Herr Buddenbohm! Stehenbleiben und aufpassen! Denn so geht es nun nicht, nur flüchtig und wie nebenbei zwei, drei genehme, gerade in den Kontext des Blogs passende Stichwörter notieren und dann fehlen im Text aber entscheidende Begriffe und Umstände. Mängelrüge hiermit in aller Deutlichkeit erteilt. Besserung umgehend erwartet, Wind von vorne.

So nämlich, immer druff.

Auf LinkedIn würde ich entsprechend vermerken, dass ich als Autor gerade frisch gecoacht worden bin, Advanced Professional Writing Academy oder dergleichen. Dass ich mir dabei selbst der Coach war, herrje, wer wird es so genau wissen wollen.

Eine mit bunten Smileys verzierte Fassade am Mittelkanal in Hammerbrook

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Ein schneller Kulissenwechsel

Am Sonntagmorgen war es exakt passend zum Kalender so weit. Ich sah morgens aus dem Küchenfenster auf einmal nicht mehr auf das üppige Grün der Sommermonate, sondern deutlich auf Grüngelb. In der Nacht musste draußen umdekoriert worden sein, und ein überraschend schneller Kulissenwechsel wie im Theater war das, der passte zu meinen momentanen Interessen. Soll die Natur ruhig auch etwas für uns inszenieren! Wenn es mir dabei nicht gerade das Dach per Herbststurm von der Wohnung weht, soll es mir alles recht sein. Die Saisoneröffnung wird nicht nur in Theatern gefeiert.

Das attraktive und tiefe Rot des Weinlaubs im Hintergrund des Bildausschnitts vor den etwas helleren Ziegeln der Kirchenwand. Dazu die nun kaum noch zu übersehenden braunen Untertöne des Verfalls auf dem Boden, die bald im Bild überwiegen werden.

Man muss sich mittlerweile deutlich Mühe geben, nicht auch bei solch harmlosen und althergebrachten Naturbeobachtungen die aktuelle Politik dauernd mitzudenken und fehlgeleitet in unangenehme Richtungen zu assoziieren. So viele Farben sind nun tendenziell unangenehm belegt und verbunden mit belastenden Nachrichten. Selbst die letzten Brombeeren an den Ranken sind neuerdings politisch kontaminiert und auf einmal mit Parteien und Programmen verbunden.

In alles grätscht einem die allgemeine Lage hinein, und zwar schon viele Stunden vor den ersten Hochrechnungen aus Brandenburg. Es war nur ein Zufall, dass ich ebenso wie bei den letzten Wahlen schon wieder mitten in einer Menschenmenge stand, als die ersten Hochrechnungen um 18 Uhr vermeldet wurden. Ich konnte daher auch diesmal beobachten, dass es keine Blicke auf die Smartphones um ich herum gab. Kein allgemeines und brennendes Interesse, keine sofort einsetzenden aufgeregten Diskussionen.

Es ist, wie es ist, und ich bewerte es auch diesmal nicht. Ich schreibe nur mit, was ich sehe, und selbstverständlich kann das bei Ihnen ganz anders gewesen sein.

Ich hatte dabei mein aktuelles Hörbuch von Klaus Mann auf dem Ohr, der sich im „Wendepunkt“ rückblickend und weitgehend ergebnislos fragt, wer angesichts der geschichtlichen Katastrophen in seiner Lebenszeit wann was hätte tun können, und der nebenbei auch staunt, was er und andere alles noch Normales und Lustiges gemacht haben, in den letzten Jahren vor 33. Was für eine seltsame Zeit das war.

Keine Patentantworten, nirgends.

Abendszene, eine menschen- und autoleere Kreuzung im Rathausviertel, Sonnenuntergangslicht, sehr großstädtischer Eindruck durch de modernen Bauten

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Während viele mit einem gewissen Entsetzen zur Kenntnis nahmen, dass Stefan Raab seit kurzer Zeit wieder da ist, ich sah zumindest in den Timelines etliche Kommentare in dieser Richtung, ohne mir die Sendungen selbst angetan zu haben, tauchten andererseits auch bisher unbekannte Briefe von Kleist und neue alte Noten von Mozart auf. Diese vermehrte Wiedergängerei liegt zeitlich unpassend weit vor Halloween und den bekanntlich durchlässigeren Nächten des späten Jahres, das ist zu bemängeln. Aber wenn auf einen wiederentdeckten Raab zwei wiederentdeckte Klassiker kommen, es soll mir am Ende vielleicht recht sein.

Der Frauenanteil ist allerdings wie fast immer und überall stark ausbaufähig. Ein paar bisher unbekannte Gedichte der Kaléko, einige Takte von Clara Schumann oder etwas in der Richtung dürften schon auch noch auftauchen.

Eine Frage der Quote und der Verhältnismäßigkeit, wie bei so vielen Themen.

Ein Schwan auf der Binnenalster an einem Sommerabend, goldenes Licht auf dem Wasser

Blick auf den Herrengrabenfleet, im Vordergrund liegt, warum auch immer, eine Rose auf einem Brückenpfeiler

Weiterhin die Sommerbilder hier zügig ablegen, bevor sie vollkommen unpassend werden und zur Stimmung vor der Haustür gar nicht mehr passen.

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Ich habe die ersten beiden Folgen von „So long, Marianne“ gesehen, die Leonard-Cohen-Serie, wie neulich erwähnt. Ich werde sie wohl komplett konsumieren, dabei bin ich doch mit der alten Maigret-Serie mit Bruno Cremer noch gar nicht fertig und verheddere mich also schon wieder.

Es geht doch nichts über Luxusprobleme, das hätte wohl auch Klaus Mann so befunden.

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Ein herangereiftes Paar

Ich schrieb gestern über die Sonderausstellung zum Zauberberg im Lübecker St. Annen-Museum. Es ist auch sonst einen Besuch wert, habe ich nebenbei gesehen. Da überall mal durchgehen! Ich hätte länger im Museum bleiben können, ich merke vor. Kirchenkunst und dergleichen passt für mich aber eh besser in den Winter, vielleicht sogar in Richtung Weihnachtszeit. So füllt sich der Rest des Jahres mit Vorhaben, man muss nicht viel dafür tun.

Zwischendurch noch einmal ein Dank, denn die Eintritte in Theater und Museum in den letzten Tagen waren leserinnenfinanziert, es gab noch Trinkgeld mit dem Betreff Kultur. Das passte jetzt, sehr schön!

Eine mechanische Himmelskörperdarstellung im Museum

Für mich war neben der Ausstellung faszinierend, dass ich mich weder an das Museum noch an die Straße, in der es sich befindet, erinnern konnte. Nicht einmal ansatzweise. Das hätte auch in Wismar sein können, wo ich bisher nur zweimal war, so unbekannt sah das aus. Dabei hätte ich gedacht, Lübeck von früher gut zu kennen, wie ein Einheimischer seine Stadt zu kennen meint. Entweder ich habe größere Erinnerungslücken oder ich bin damals konsequent und oft an dieser Ecke der Stadt vorbeigerannt, ein blinder Fleck auf dem Stadtplan. Ich weiß es nicht, aber es war befremdlich.

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Nach dem Besuch der Ausstellung und vor der Rückfahrt nach Hamburg habe ich die Stadt am Wasser entlang umrundet. Der Weg ist schön, versteht sich, er ist klassisch postkartentauglich auf fast jedem Meter. Strahlenden Sonnenschein gab es in diesen Stunden, Lübeck leuchtete, es war einer der Abschlusstage in der hochsommerlich anmutenden Phase dieses Herbstes. Ich habe die wenigen verbleibenden Stunden diesmal ausgenutzt, so gut es nur ging.

Um die Altstadt herum sah ich Menschen in wahrer Fotoekstase. Alle waren höchst zufrieden mit der Szenerie vor der Kamera, die begeisterten Gesichter des Freundeskreises Tourismus. Sie werden diese Stadt alle weiterempfehlen, nehme ich an. Vor allem in Japan, wo die zahllosen Selfies vor dem Holstentor etc. vermutlich gut ankommen werden.

Die Salzspeicher an der Trave in Lübeck

Alles öfter machen, dachte ich an diesem besonders feinen Tag. Öfter ins Theater gehen. Öfter in Museen gehen. In Kunstausstellungen auch und in was noch alles, es gibt so vieles in der großen Stadt und neben ihr. Auch öfter ins Umland fahren, noch mehr dort ansehen, Lüneburg, Lauenburg, Stade etc. Das Deutschlandticket ausreizen, bevor es die Verkehrsminister endgültig versemmeln, lange kann es nicht mehr dauern.

Na, was man so denkt, an solchen Tagen. Es kommt ohnehin anders, wie wir alle sattsam wissen. Und dann mach noch nen zweiten Plan, wie Brecht damals vorschlug, der bei Unzulänglichkeiten gut orientiert warAber immerhin, die nächsten Theaterkarten habe ich schon gekauft. Und ein nächster Museumsbesuch steht auch bereits im Kalender, in dieser Woche noch, ich werde vermutlich berichten.

Herr Buddenbohm blieb stets bemüht und freute sich weiter auf den Herbst.

Blick über den Lübecker Mühlenteich auf die Marienkirche

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Ein weiterer Instagram-Tipp, nämlich die wunderbar kleinteiligen Paar-Choreographien von The Carberrys (Profil-Link), sehen Sie etwa dieses Beispiel. Das gefällt mir, was die machen.

Paar-Choreographien passen heute gut, die Herzdame und ich haben unseren zwanzigsten Hochzeitstag. Wie bei den Jahreszahlen der Kindergeburtstage neulich, als die beiden 15 und 17 wurden, klingt das eher unwahrscheinlich für mich. Es fühlt sich merkwürdig an, Jubiläen dieser ausgeprägt erwachsenen Art haben sonst nur andere. Für so etwas kauft man Glückwunschkarten im letzten verbliebenen Schreibwarenladen des Viertels, oder man schickt einen freundlichen Gruß per WhatsApp an das herangereifte Paar. Aber dass man selbst ein solches Datum erreicht – ich staune.

Schön ist es, etwas unbegreiflich schön. Es wird im Folgenden wiederum ein Traditionslied mit passendem Refrain gespielt, Bernd Begemann und die Befreiung. Ein dermaßen passender Text aus meiner Sicht. Das Video zum Song wurde sinnigerweise, ich erwähne es jedes Mal, hier um die Ecke gedreht.


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Theater und allgemeine Umtriebigkeit

Im Landlebenblog geht es um die Manufacture d’orgues in Rambervillers, wie immer mit feinen Fotos: „Macht Ihr da draußen, was Ihr wollt.“ In den Kommentaren dort stellt jemand auch den Zusammenhang zwischen Orgelbau und Klimawandel her, woran man alles denken kann. Oder muss, je nach Beruf.

Um inhaltlich halbwegs korrekt ein Bild aus unserem kleinen Bahnhofsviertel anzulegen, wie zufällig liegt gerade eines bereit:

Der Schriftzug "Piano-Fabrik" an einer Altbau-Fassade

An diesem Gebäude hat allerdings nur der Schriftzug etwas mit den Instrumenten zu tun. Von altem Handwerk keine Spur.

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Ich erwähnte neulich das Stück „Altes Land“ im Ohnsorg-Theater, in dem die Herzdame und ich waren. Das ist zu ergänzen um den Hinweis, dass im Thalia-Theater ab 11. Oktober der „Apfelgarten“ laufen wird. Dieses Remix-Stück vereint Tschechows Komödie Kirschgarten mit Dörte Hansens Roman über das Apfelanbaugebiet, was auch eine interessante Idee ist. Sie hat daran mitgeschrieben, das würde bei mir gut in den Kontext der Saison passen. Ich bleibe dran.

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Weiter im bei mir vehement anlaufenden Kulturprogramm. Ich bin kurz nach Lübeck gefahren und habe mir die kleine, zur Nachbarschaft ausgelagerte Sonderausstellung des gerade geschlossenen Buddenbrookhauses im St. Annen-Museum angesehen. Es geht um den Zauberberg, hier gab es auch einen Bericht im NDR dazu.

Die Fassade des st. Annen-Museums in Lübeck

Als ich das Museum betrat und mich Orientierung suchend umsah, sprach mich das ungewöhnlich freundliche und hilfsbereite Personal dort sofort an: „Wollen Sie zum Zauberberg?“

Eine im Grunde märchenhaft einladende Begrüßungsfrage, wer kann dazu schon nein sagen. So könnten auch weitere 700 Seiten beginnen. Oder natürlich, passend zur Vorlage: „Ein einfacher älterer Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Lübeck im Schleswig-Holsteinischen.“

Die Ausstellung verbindet jedenfalls die im Roman thematisierten und zentralen Gegenstände mit passenden Zitaten. Wortmagie und Dingzauber werden verwoben, und die Ausstellungsmacherinnen hatten Spaß dabei, man sieht es. Es ist ein netter Einfall am Rande, dass auch die banalen Insignien der Gegenwart, die in jedem Museumsraum zwingend zu finden sind, schnöde Feuerlöscher, die Lüftungsanlagen, der Notausgang etc., mit entsprechenden Anreicherungen versehen worden sind. So steht auf einem Schild neben dem Lüftungsgerät etwa ein Zitat aus dem Roman:

Behrens meinte, es sei vorläufig hier nicht mehr viel für mich zu erreichen. C’est pourquoi je vais risquer un petit changement d‘air.”

Wer sagte es? Die von Hans Castorp angebetete Dame, meine ich, aber alle Angaben ohne Gewähr.

Da aber bloß nicht weiter darauf herumdenken. Sonst fängt man noch an, zu jedem Ding im Alltag einen Satz aus der Weltliteratur herauszusuchen und also wieder in Büchern zu wühlen. Und man kauft sich dann am Ende eine Etikettiermaschine und beklebt zuhause das gesamte Inventar mit sinnig verbundenen Textschnörkeln. Also mir zumindest wäre das fraglos zuzutrauen, so eine nette und überaus attraktiv erscheinende Sammelaufgabe.

Da lieber vorsichtig sein und gehörigen Abstand von der Idee wahren.

Wer den Roman gelesen und noch einigermaßen in Erinnerung hat, findet vermutlich Gefallen etwa am „perlmuttbeschlagenen Crayon“ der Clawdia Chauchat oder am Beispiel eines Blauen Heinrichs, den die Lungenkranken damals zu unschönen Zwecken mit sich herumtrugen und dergleichen mehr.

Der perlmuttbeschlagene Drehbleistift als Ausstellungsstück

 

Ein beispielhafter "Blauer Heinrich"

Und wissen Sie übrigens noch, wie uns zu Beginn der Pandemie der mittlerweile und entschieden zu früh verstorbene Sven Walser im leeren Ernst-Deutsch-Theater jeden Tag aus dem Zauberberg vorgelesen hat? Ich habe das sehr gemocht. Man kann die Lesungen auf Youtube natürlich noch finden. Und es wirkt auf mich, als seien diese Auftritte im toten Theater zehn Jahre oder eher noch länger her. Es ist etwas unheimlich. Nein, es ist, nachdem ich nun etwas darüber nachgedacht habe, doch entschieden unheimlich.

Aber wie auch immer, kommen Sie bitte gut über den hoffentlich zauberhaften Berg dieser Woche.

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Auf dem geistigen Heimweg

Ein weiteres Update zum schönen Dauerthema Tourismus sah ich, denn die Kaltmamsell ist auf Mallorca und sie ist nicht dorthin geflogen. Von Berichten dieser Art würden mich mehr interessieren.

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In den Mediatheken gibt es gerade Leonard Cohen satt, quasi Festwochen, es ist fast schon etwas unübersichtlich. Angefangen bei einem Zeitzeichen für den kurzen Einstieg. Dann weiter mit dem Londoner Konzert 2008 bei arte, und dort findet man auch eine Doku über „Hallelujah – ein Leben, ein Lied“. Wir haben ferner die ARD-Podcastreihe „So long, Cohen“ und als Krönung schließlich die Serie (acht Teile) „So long, Marianne“. Die, soweit ich auf den ersten Blick sehe, in den Medien gut besprochen worden ist, ich habe noch nicht damit begonnen.

Bei Gaga Nielsen wird außerdem gerade das Video zu „Moving on“ gezeigt. Das wurde in seinem Haus auf Hydra gedreht, es gehört heute seinem Sohn, schreibt sie. Irgendwo dort in der Nähe war auch der Wire, auf dem damals der Bird gesessen hat, man hörte dann später oft davon. Dieses Lied vom Vogel habe ich einmal live von der überaus geschätzten Esther Ofarim vorgesungen bekommen.

Also nicht nur ich, es waren noch mehrere Hundert andere Menschen dabei, versteht sich. Das war jedenfalls ein bemerkenswert schöner Moment. So einer, den man sich merkt, und bei dem man sich denkt, Gott sei Dank bin ich in dieses Konzert gegangen. Da habe ich jetzt etwas Bleibendes.

Jedenfalls überall einmal reinsehen und hören. In der nächsten Woche kommt der Regen, sehe ich übereinstimmend in sämtlichen Wetterberichten, wird es auch kälter, geht es viel deutlicher auf den Oktober zu. We want it darker, da sollte es doch passen, sich mit Dichtung zu beschäftigen.

Der Text im folgenden Lied ist nicht von ihm, aber das Lied ist doch sehr cohenesk, finde ich. Cohenesk und wunderbar.

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Ein neues Hörbuch habe ich angefangen, wieder ist es aus der öffentlichen Bibliothek über die Libby-App. Die sich Gott sei Dank merkt, wo man zuletzt beim Hören gestoppt hat, was beim Streamingdienst unfassbarerweise nicht der Fall war. Eine seltsame Fehlleistung in der Programmierung, die ich nie verstanden habe. Es wird sicher kein Zurück für mich mehr geben. Bibliotheken sind mir ohnehin lieber als kommerzielle Plattformen, da gibt es nicht viel zu überlegen. Ich finde auch genug Bücher in der Bibliothek, auf Monate hinaus, die Merkliste wächst und gedeiht.

Das Musikhören zu verlagern, all die Playlists, das wäre eine deutlich größere Aktion. aber wer weiß. Auch dafür vielleicht einmal Zeit nehmen. Die langen Winterabende, ja, ja. Nach und nach alles auf- und umräumen, immer eine feine und auch besinnliche Beschäftigung für die Monate auf -er.

Nun höre ich den „Wendepunkt“ von Klaus Mann, mit zwölf Stunden ebenfalls eher Langstrecke. Das ist wieder ein letztes Buch, wie schon beim Kempowski, das wird ein Zufall sein. Oder aber mein Unterbewusstsein ist da auf einem Trip, von dem ich noch nichts weiß. So einem Unterbewusstsein ist bekanntlich merkwürdig viel zuzutrauen, es entwickelt manchmal Interessen, ohne vorher groß zu fragen, ohne jedes Briefing. Man lebt so vor sich hin und fragt sich irgendwann überrascht, was zum Teufel man eigentlich macht und warum. Dann hört man bald neben dem Tinnitus das leise Lachen im Hintergrund des Hirns. Sie kennen das, nehme ich an.

Wo war ich. Gelesen wird das Werk diesmal von Ulrich Noethen, angenehm zurückhaltend trägt er vor, es erscheint mir passend.

Das erst posthum und nur mit Hilfe des Vaters erschienene Buch kenne ich bereits. Aber die Lektüre ist ausreichend lange her, das geht längst wieder. Man findet immer Neues, wenn das letzte Leseerlebnis Jahrzehnte zurückliegt, man liest als anderer Mensch. Gleich zu Beginn stellt Klaus Mann im Rückblick auf seine Kindheit und sein Leben fest, dass er als Zeiten der Seligkeit nur die Momente gelten lassen kann, die er im Schlaf verbracht hat. Und er fügt mit maximaler Bitternis und in aller Kürze an: „Es gibt kein Glück, wo Erinnerung ist.“

Damals habe ich vermutlich drüber weggelesen, diesmal bin ich beim Spaziergang mit dem Hörbuch etwas abrupt stehengeblieben. Das musste ich doch etwas nachklingen und wirken lassen, denn das saß, dieser Satz. Und er gärt vielleicht immer noch, aber das passt immerhin auch jahreszeitlich.

Es soll mir also willkommen sein. Herbstgedanken, wo sie hingehören, ich freue mich auf die Saison. Der September fühlt sich immer ein wenig wie ein geistiger Heimweg an.

Bilder: Oben eine Spiegelung an der Bleichenbrücke, unten ein Blick aus der Europa-Passage.

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Kempowski, Hansen, Lenz, Mann

Den Kempowski, „Alles umsonst“, habe ich nun komplett durchgehört. Bis zum bitteren Ende, wie man in diesem Fall routinemäßig sagen muss, und wie es bei Geschichten über Ostpreußen und das Kriegsende 1945 naheliegend ist. Irgendeinen der Soldaten, die da im Roman eher beiläufig vorkommen und am Rande der großen Flucht agieren, hätte ich mir nebenbei und passend als meinen Großvater denken können. Der aus jener Gegend nicht zurückkam und bei Pillau liegt, heute Baltisk, nach wie vor russisches Gebiet. Einen intensiven Bezug zu diesem Thema habe ich allerdings nie entwickeln können, zu spärlich waren die Berichte und Überlieferungen.

Wie es bei Büchern über die extremen Zeiten unserer Geschichte ebenfalls naheliegend ist, wundert man sich hinterher eine Weile etwas mehr, was in den Nachrichten gerade alles als Krise bezeichnet wird. Mitten im Frieden und Wohlleben. Das sind allerdings Gedanken, die niemanden nützen, und alles Relativieren führt uns eh zu nichts, ich weiß. Es kann kaum sinnstiftend sein, den Alltag von Extremen aus zu bewerten.

Nur ein, zwei Tage lang denkt man die Eckpunkte der Geschichte unwillkürlich wieder mit und möchte beim Lesen der News immer murmeln: „Das sind gar keine Krisen. Das sind höchstens Befindlichkeiten.“ Aber diese Wertung steht mir auch vom Alter her gar nicht zu.

Ansonsten im Theater gewesen, unsere Saisoneröffnung. Wobei ich dieses Wort nur verwende, um mich selbst zu weiteren Besuchen zu motivieren. Ich bin im Alltag nachlässig und  starren Routinen und Bequemlichkeiten verfallen. Wie es wohl den meisten geht, daher komme ich zu selten zu besonderen Abendterminen. Dabei habe ich große Theater so dicht vor der Tür, wie es nur denkbar ist. Um die Ecke im wahrsten Sinne.

Die Fassade des Ohnsorg-Theaters im Bieberhaus, der rote Schriftzug Ohnsorg

Die Herzdame und ich gingen diesmal ins Ohnsorg-Theater neben dem Hauptbahnhof, wo auf der kleinen Studiobühne (auf der auch einmal Sohn I gestanden hat, wie wir dort immer murmeln müssen) eine Inszenierung von „Altes Land“ als intensives Drei-Frauen-Stück gegeben wurde. Eine erzählte und gespielte Umsetzung des Romans von Dörte Hansen mit nur einem Mann als Nebenfigur (Kerstin Hilbig, Ruth Marie Kröger, Kristina Nadj, Florian Miro, Regie Julia Bardosch).

Es wirkte dann zwar so, aber es war keineswegs geplant, dass der Abend wie ein weiteres Puzzlestück zum Kempowski passte. In dem einen Roman die Flucht aus Ostpreußen, im anderen die Ankunft der Geflüchteten in der Nähe von Hamburg und der schwierige Neuanfang. Weil Flüchtlinge bekanntlich nicht einmal dann willkommen sind, wenn sie aus dem eigenen Land kommen.

Ein Ölgemälde, es zeigt Heidi Kabel, hängt im Ohnsorg-Theater, durch das Fenster daneben sieht man das Klockmann-Haus

Beeindruckend war es für mich, diese beiden Inhalte direkt nebeneinander, eine etwas seltsame und allzu direkte Fügung in meinem Kulturmenü. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sogar die Namen der Figuren noch gepasst hätten, wenn es nahtlose Übergänge gegeben hätte.

Um im Kontext zu bleiben, könnte ich jetzt noch das Heimatmuseum nach Siegfried Lenz im Altonaer Theater in Betracht ziehen. Das läuft demnächst an, und ja, ich glaube, so wird es kommen.

Altes Land“ läuft im Ohnsorg nur noch bis zum 29. September, das wird ein etwas sportliches Timing sein, falls Sie da noch Interesse haben. Uns hat der Abend jedenfalls gefallen. Es war Theater mit geringen Mitteln der Requisite und Kulisse, ich habe auch dafür eine Schwäche. Wenn einige wenige Gegenstände durch das Spiel aufgeladen werden, gewissermaßen das Gegenstück zur Wortmagie im Bereich der Dinge, es passt schon.

Ab Mai 2025 wird das Stück aber noch einmal gegeben, und dann auf der großen Bühne, vielleicht etwas zum Vormerken für Sie.

Umsetzungen von Romanen sehe ich mir besonders gerne im Theater an, siehe auch Literaturverfilmungen, die sind oft interessant für mich. Im Ohnsorg-Theater wird es im nächsten Frühjahr die Buddenbrooks geben, habe ich dort gesehen. Das dann also auch mitnehmen, versteht sich. Da kann man schon weit voraus denken, und ich werde dann nach Möglichkeit berichten.

Ich: „Hast du die Buddenbrooks eigentlich je gelesen?“

Die Herzdame: „Du hast damals mehrfach versucht, sie mir vorzulesen, aber ich bin immer eingeschlafen.“

Vielleicht bis zum Mai noch einen Versuch machen? Abends im Bett je ein paar Seiten, an den langen Winterabenden? Oder, um den Dichter Bernd Begemann zu zitieren: Gib mir eine zwölfte Chance.

Ohnsorg-Theater innen, der Treppenaufgang zur Studiobühne

Auf den Bildern heute das Ohnsorg-Theater im Bieberhaus, das Heidi-Kabel-Porträtgemälde zu ihrem 70. Geburtstag auf dem oberen Theaterflur, der Treppenaufgang zur Studiobühne.

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