Ich habe also das Handy in der Tasche gelassen und mich in der S-Bahn umgesehen. Das habe ich lange nicht mehr gemacht, die schlechtgelaunten Gesichter sind dort so schwer auszuhalten, dass ich normalerweise morgens stur auf mein Handy sehe, wie alle. Aber im Rahmen des Ich-finde-alles-doof-Monats ist das Handy eben gerade auch doof. Und über doofe Gesichter kann ich wenigstens schreiben, dachte ich, über das Handy eher nicht. Und damit begann der seltsame Teil des Tages.
Ich sah mich in der Bahn um und blieb gleich an dem Typen hängen, der mir gegenüber stand. Der hatte nämlich die gleiche Jacke an wie ich, so eine schwarze Outdoorjacke. Und er hatte auch einen schwarzen Schal um. Er trug außerdem blaue Jeans und braune Schuhe, das war genau mein Outfit. So laufen natürlich Tausende herum, gar keine Frage, dieser Herr hier war aber auch etwa gleich alt wie ich, hatte raspelkurze Haare wie ich und trug ebenfalls eine schwarzgefasste Brille, das ging schon etwas weiter. Im Gegensatz zu mir starrte er aber die ganze Zeit auf sein Handy, wobei er seltsam taubenhaft mit dem Kopf ruckte und sein Kinn unschön einzog. Das sah nicht gut aus.
Ich nahm mein Handy doch kurz heraus und sah drauf, fasste mich dabei wie zufällig ans Kinn und überlegte, ob ich das wohl auch so merkwürdig einziehe, wenn ich Facebook oder Twitter in der Bahn aufmache? Das wäre ja furchtbar. Der Herr mir gegenüber streckte den Kopf vor und zog wieder das Kinn ein, das sah wirklich weder gesund für die Halswirbelsäule noch attraktiv aus. Ich steckte das Handy schnell wieder weg und schob mein Kinn möglichst weit vor. Immer aus den Fehlern der anderen lernen!
Dann stiegen wir aus, ich verlor ihn in der Menge auf dem Bahnsteig sofort aus den Augen. Da, wo ich morgens aussteige, da steigen massenhaft Menschen aus, ich bin Teil einer lustlos dahintrottenden Herde von Büromenschen. Hängende Schultern, leere Blicke, Getrappel von zweihundert Schuhen auf Betontreppen. Ich ging zu dem Coffeeshop, in dem ich jeden Morgen meinen mittleren Latte Macchiato abhole, ohne etwas sagen zu müssen, die kennen mich da seit Jahren. Dafür hat man ja Stammläden, damit man morgens nicht mehr reden muss. Das Gesicht hinhalten zu müssen ist früh am Morgen oft schon Zumutung genug.
Heute allerdings sahen mich die beiden hinterm Tresen, die mir normalerweise den Kaffee machen und das Geld abnehmen, verblüfft an, als ich reinkam. Und teilten mir dann mit, dass ich doch gerade schon dagewesen sei. Oder doch zumindest ein Mensch, der genau so aussah wie ich. Der hat anscheinend klaglos einen für mich bestimmten mittleren Latte mitgenommen, ein wenig seltsam fand ich es schon.
Und dann kam mir auf der Straße vor dem Laden eine Frau entgegen, die nicht nur verblüffend schön war und wehendes Haar wie aus der Fernsehwerbung in den Achtzigern anhatte, nein, die Dame strahlte mich auch noch an. So freudig strahlte sie mich an, dass ich unwillkürlich zurücklächelte, denn es gibt natürlich Ausmaße der Schönheit, da lächelt man lieber erst, bevor man lange über Wahrscheinlichkeitsrechnung nachdenkt. Allerdings erstarb das Lächeln der Dame, als sie sich bis auf wenige Meter genähert hatte und mich genauer sah, und als sie an mir vorbeiging, war das Lächeln definitiv komplett ausgeschaltet. Ich war ganz sicher nicht der, dem dieses fernsehtaugliche Lächeln gelten sollte. Das war vermutlich der andere, der mit dem Kopfrucken, dem Kinnproblem und dem identisch aussehenden Latte Macchiato im üblichen Pappbecher.
Das ist doch ein eher gemischtes Ergebnis des Hochsehens vom Handy, finde ich. Man nimmt wieder mehr Welt wahr, das ist schon richtig. Aber nicht alles in der Welt möchte man auch wahrnehmen. Kopfruckende Doppelgänger und fehllächelnde Damen – nein, also wirklich. Vielleicht doch lieber auf dem Arbeitsweg weiter auf den Twitterstream starren?
Morgen nächster Versuch!