Hamburg-München (2)

Der Zug hielt in Fulda und ich hatte also tatsächlich die Gelegenheit, den hier erwähnten Tweet zu posten, das kam dann doch wesentlich schneller als gedacht. Wobei ich gerne zugebe, dass er so ein Kracher nun auch nicht ist, aber er ist eben alles, was ich zu Fulda überhaupt habe.

 

Abgesehen von dieser Szene weiß ich von Fulda rein gar nichts mehr, es ist schon ein paar Jahrzehnte her. Es war da hügelig – mehr fällt mir nicht ein. Ich habe mir Bilder der Stadt angesehen, nichts kommt mir bekannt vor. Aber auf Klassenfahrten interessiert man sich auch nicht für Gebäude. Ich weiß natürlich noch gut, wie das Mädchen aussah, in das ich verliebt war. Ich sehe sie noch vor mir, schlafend im Bus, wie das Haar ein wenig über ihr Gesicht fiel, wie ihr T-Shirt an der Schulter etwas verrutscht war, wie ihre Finger beim Einschlafen an der ledernen Halskette spielten. Und ich erinnere mich noch an die Musik, an dieses damals dauerpräsente Vamos a la playa, an Everything counts von der Gruppe Depeche Mode, deren Mitglieder damals außerordentlich interessante Frisuren hatten, die allen Jungs sehr erstrebenswert schienen. Die Frisuren waren noch interessanter als die Musik, wenn ich so darüber nachdenke. Ich habe einen solchen Haarschnitt dann doch nie im Leben gehabt, das sind die kleinen Niederlagen.

Man kommt drüber weg, ich bin mit meiner Frisur heute ganz zufrieden. Und habe jetzt nach all der Zeit wieder einen gepflegten “Vamos a la playa”-Ohrwurm, das ist auch nicht schön.

Ansonsten wirbt Fulda heutzutage mit dem “Slogan “Barock & Business”, da fallen einem viele schöne Bilder ein, wenn man über diese Begriffskombination nachdenkt. Nach Burnout klingt das gewiss nicht, aber nach Potentaten in Konferenzraumsesseln, Durchlaucht in der Telco und absolutistischen Hierarchien.

Business Punk gibt es als Magazin für eher junge Menschen im Business, Business Barock könnte das Coffeetablemagazin für die älteren und erfolgreichen, die sogar sehr erfolgreichen Player sein. Hemmungslos herumprotzen, Vasallen herumscheuchen, sich gigantische Denkmäler bauen, in goldenen Kutschen fahren! Da geht doch was. Und wenn der Businessbarock dann irgendwann in ein neues Rokoko mündet und Schäferspiele im Großraumbüro aufgeführt werden – das könnte wirklich interessant werden. Aber so ist das natürlich nicht gemeint, schon klar.

Der Zug hielt dann noch außerplanmäßig in Ansbach, ich schrieb schnell einen Ansbach-Tweet – und konnte ihn nicht senden. Der Zug rollte schon wieder an, es waren nur noch Sekunden, bis das Netz vollkommen weg sein würde, wie bei jeder verdammten Zugfahrt in Deutschland, ich bekam schon etwas Panik. Da hatte ich gerade das Problem mit dem Fulda-Tweet gelöst, nur um einen mit Ansbach auf ewig in meinen Entwürfen zu haben? Was für eine Vorstellung! Er ging aber doch noch raus. In der allerletzten Sekunde. Ich weiß nicht, wie ich es sonst jemals wieder nach Ansbach geschafft hätte, um ihn loszuwerden, man will so etwas doch nicht lebenslang im Speicher haben.

Muss man zu Ansbach irgendwas wisssen? “Ansbach ist in Westmittelfranken”, das klingt fast so schön wie Nordostwestfalen. Immerhin!

Nach Ansbach wurde es minütlich immer wärmer im Zug, vielleicht war das doch noch das legendäre Klimaanlagenproblem im ICE, von dem man immer hört. Ein allgemeines Wegdämmern setzte ein, sinkende Augenlider wohin man auch sah, bis der Zug endlich München erreichte und schon ab dem Stadtrand nur noch in Schrittgeschwindigkeit fuhr, man konnte sich innerlich wirklich gründlich auf das Aussteigen vorbereiten. Den Teil mit der Gluthölle in der Stadt und den ähnlichen Beschreibungen lasse ich weg, das kann sich mittlerweile jeder denken. Heiß eben. Wie neuerdings fast immer. Die Familienkarawane zog mit den Gepäckstücken, die vermutlich immer noch sieben waren, sich aber so anfühlten, als hätten sie sich während der Fahrt vermehrt, durch den Bahnhof und suchte die Autovermietung. Die kann man in München lange suchen, die ist bemerkenswert gut versteckt und sicherheitshalber auch nicht ausgeschildert, da ist die Freude riesig, wenn man sie endlich findet. Klimatisiert ist sie, wer an heißen Tagen in München Abkühlung sucht, sollte einfach mal so tun, als würde er am Bahnhof ein Auto mieten wollen. Das erfrischt.

Wir wühlten uns durch den Papierkrieg und die Anmeldeprozedur, dann mussten wir weitergehen, nach “gleich da vorne”, wie die freundliche Dame von der Autovermietung so einladend sagte und vage in die Gegend vor dem Bahnhof zeigte. “Gleich da vorne” ist aber für schwer bepackte Familien ganz schön weit, ganz schön heiß, ganz schön anstrengend. Das gilt übrigens generell auf Reisen mit Kindern, all diese Wegbeschreibungen und Zeitangaben sind Unfug und unbrauchbar, man braucht für alles viel mehr Zeit als in den Reiseführern steht. Immer. Dramatisch viel mehr Zeit. Es ist nie etwas “gleich da vorne”, es sind nie “nur 5 Minuten”, man macht nie etwas “mal eben”.

Wir suchten das Parkhaus, wir suchten im Parkhaus das Auto, wir luden alles ein. Das dauerte erstaunlich lange, zumal wir auch noch Kindersitze einbauen mussten, es war ein endloses Gefummel. Als endlich alles fertig war, haben wir erst gemerkt, dass es das falsche Auto war, es war nämlich kein Automatikwagen. Ich bin in den letzten 30 Jahren nur Automatikwagen gefahren, ich habe nicht vor, im Urlaub wieder Getriebe zu studieren, womöglich noch am Berg. Automatik ist super. Ich habe nie verstanden, warum alle Deutschen so gerne schalten, ich halte das ja für einen seltsamen Kollektivklaps, aber egal.

Wir haben also alles wieder ausgeladen und die Situation mit der Autovermietung geklärt, zu der man natürlich erst zurückgehen musste, was noch einmal eine Dreiviertelstunde dauerte, in der die Kinder größtenteils etwas apathisch, hungrig und durstig im Parkhaus auf dem Boden saßen und München tendenziell ziemlich doof fanden.

Dann wurde uns ein anderes Auto zugewiesen – und das Auto, das einzige, das wir überhaupt noch bekommen konnten, war dann wohl der kleine ironische Schlenker des Schicksals, den ich mir durch meine Idee verdient hatte, einmal etwas umweltfreundlicheren Urlaub zu machen. Also ohne Flugreise. Auf einem Biohof. Mit Besichtigung von weiteren Biobetrieben, regionalem Handwerk usw., ich wollte einmal etwas ganz anderes machen, als Pauschalreisen mit Flug und Halbpension. Und das Auto für uns war dann kein sparsam-sinnvolles Familienauto, sondern ein fetter SUV. Denn die Götter haben bekanntlich Humor.

Wir fuhren durch München nur durch, ganz ohne etwas anzusehen, wir wollten schnell weiter nach Reichertshausen. Bericht dazu in Kürze.

Irgendwas in München

 

Nachtrag zu gestern: Hier eine Rezension zu Vea Kaisers Blasmusikpop, das ich während der Zugfahrt sehr zufrieden gelesen habe.

 

Hamburg-München

Bozen-Krimi

 

Der Urlaub begann mit einem Kraftakt. Und damit ist noch gar nicht die sechsstündige Zugfahrt nach München gemeint, es ging schon vorher los. Denn da wir quasi direkt neben dem Hamburger Hauptbahnhof wohnen, können wir da nicht mit dem Auto oder mit der S-Bahn hinfahren, wie es normale Leute tun, nein, wir müssen da hingehen. Das ist ein kurzer Weg,  der sich aber faszinierend in die Länge zieht, wenn man auf ihm sieben Gepäckstücke und zwei Kinder trägt, hinter sich herschleift, vor sich herschiebt, rollt, zieht, was auch immer. Und, versteht sich, dazu noch eine Provianttasche ungeheuerlichen Ausmaßes. Denn aufgrund eines historisch vermutlich noch gar nicht so lange überholten Schutzinstinktes gehen Menschen – und vor allem Eltern – bekanntlich heute noch davon aus, dass man gerade auf Reisen schnell verschmachtet, und dem ist entschieden und kalorienreich vorzubeugen. Bordbistro im ICE hin oder her. Auf unserem Weg zum Bahnhof gingen wir an betenden Moslems vor einer Moschee vorbei, es war gerade der Morgen des Fastenbrechens, da war fröhliche Feststimmung am Straßenrand. Männer in arabischen Gewändern  steckten uns und den Söhnen noch mehr Proviant zu, Dattelgebäck, Mandeln und Süßigkeiten. Ich mag Multikultiviertel.

Es war am frühen Morgen schon beeindruckend warm in Hamburg, es ist überhaupt gerade dauernd so warm um mich herum, dass mir bald die Adjektive und Metaphern ausgehen. Womöglich nenne ich das Wetter dann einfach nur noch sommerlich. Früher haben wir heiße Tage ja auch nur schlicht Sommer genannt, ganz ohne jeden Beschreibungsbarock, wir hatten ja nichts! Wobei ich allerdings „es war Sommer“ nicht denken kann, ohne dass eine Maffay-Stimme in meinem Kopf „zum ersten Mal im Leben“ weitersingt, das ist auch schlimm.

Wir kamen also schon schweißgebadet am Bahnhof an, wo wir uns dann dank des beliebten Gesellschaftsspiels „abweichende Wagenreihenfolge“ in einer hysterischen Meute schwerstbepackter Reisender wiederfanden, die hektisch am Zug auf- und abliefen. Das Spiel wurde noch lustiger durch die Spaßvögel, die meinen, dass man in eine sich öffnende Zugtür immer SOFORT einsteigen muss, ganz egal , ob da noch jemand aussteigen möchte oder nicht. Es gab also in den Zugtüren gleich mehrere Knäuel verkeilter Menschen mit Koffern, Rucksäcken, Taschen – und ein allgemeines Aggressionspotential, das man so eigentlich gar nicht mitbekommen möchte, schon gar nicht am frühen Morgen. Der Kalorienverbrauch beim Einsteigen entspricht auf diese Art in etwa einer Schicht bei Blohm & Voss, und man braucht bis Hannover, um sich davon zu erholen. Wo man dann auch etwas überrascht feststellt, dass der Proviant allmählich bedenklich zur Neige geht.

Weingummi

 

Aber egal. Es gab die reservierten Plätze, es gab eine Klimaanlage, es gab einen Tisch, ich mag Zugreisen nach wie vor gerne. Der Zug war nicht pünktlich, Weichenstörungen, Baustellen, herumhängende andere Züge, aber das macht ja nichts, wenn man schon drin sitzt, das stört immer nur, wenn man draußen steht und auf den Zug wartet. Ich würde eine Zugreise jederzeit einer Autofahrt vorziehen. Zumal Sohn II im Zug nicht schlecht wird, das ist auch einen gewissen Aufpreis wert. Noch logischer würde ich es allerdings finden, wenn eine Zugfahrt deutlich billiger als eine Autofahrt wäre, soviel Öko muss schon sein.

Sohn I hatte ein Heft mit Übungsaufgaben für die Schule dabei, so eine Art Rätselblock. Das ist auch interessant, weil man heutzutage als Ganztagsschulkindvater gar nicht mehr mitbekommt, an welchen Aufgaben die Kinder gerade arbeiten. Ich führe mit Sohn I während des Schuljahrs täglich den Routinedialog auf, den Tausende anderer Eltern auch kennen werden:

Ich: „Wie war es in der Schule?“

Sohn I: „Gut.“

Ich: „Was habt ihr gelernt?“

Sohn I: „Nichts.“

Viel mehr Informationen sind ihm nicht so leicht zu entlocken, es ist eher zufällig, dass ein Gespräch zuhause doch einmal auf schulische Inhalte kommt und man dann merkt, aha, die machen da gerade was mit Blumennamen und so. Das ist ein wenig schade, weil ich doch denke, man könnte noch ein wenig mehr darauf eingehen, was sie da so treiben, aber wirklich schlimm ist es auch nicht.

„Woraus kann man Marmelade machen?“ Das war eine der Fragen in diesem Rätselblock, daneben dann Abbildungen von goldrichtigen Früchten, wie etwa Erdbeeren, und von offensichtlich falschen Gemüsesorten, wie etwa Weißkohl. Zu den richtigen Lösungen zählten allerdings auch Tomaten. Tomatenmarmelade? Bitte? Also rein technisch wird man aus Tomaten schon Marmelade machen können, keine Frage, aber dennoch – richtig fühlt sich die Antwort für mich nicht an. Und es ist vielleicht doch ganz gut, mit diesen Aufgaben normalerweise keinen Kontakt zu haben. Man würde ja aus dem abendlichen Diskutieren im Familienkreis gar nicht mehr herauskommen.

Ansonsten, keine Frage, ziehen sich sechs Stunden im Zug ganz beträchtlich. Es ist dann doch ein wenig langweilig, vor allem im norddeutschen Flachland. Eine Wiese, ein Acker, ein Busch, eine Schweinemastanlage. Repeat until Göttingen, ab da dann immerhin ein paar Hügel. Das Bordbistro ist auch nur beim ersten Besuch interessant und sich Bücher anzusehen ist nett, aber auch nicht die ganze Fahrt über. Ich mache die Augen zu und höre, was um uns herum gesprochen wird. Von links ein helles, leicht knarzendes Geräusch, mehrfach in schneller Folge, dann eine kleine Pause, gefüllt von einem erstaunten: „Hä?“. Das war ein etwa zehnjähriger Junge mit einem Rubik’s Cube, das habe ich auch lange nicht mehr gehört und gesehen. Und was ich dann auch gar nicht sehen wollte, das war die Mutter des Jungen, die irgendwann nach dem Spielzeug griff und ihrem Nachwuchs sehr souverän vorführte, wie man den Würfel zur Lösung dreht. Einfach so. Ganz fix. Ein paar Handgriffe. Das haben die Söhne nämlich auch staunend gesehen, und ich glaube, so ein Rubik’s Cube kommt mir lieber nicht ins Haus.

Weiter hinten erzählt ein Jugendlicher aus einer Klassenfahrttruppe seinem Freund, dass sein Passwort überall „falsch“ sei, denn dann würde ihn die Software bei Fehleingabe ja automatisch daran erinnern: „Ihr Passwort ist falsch.“ Perlen der Comedy, einfach so unterwegs aufgesammelt.

Ein junger Bayer drückt die Naturverbundenheit und Direktheit seiner Gegend sehr schön durch den bemerkenswerten Satz aus, den er seiner Freundin über den Gang hinweg zurief, ich bitte die eventuell nicht korrekte Schreibweise zu entschuldigen: „Wann i dahoam bin, muass i erst amoal kackn.“ So sind sie wohl, die Bayern.

Die Herzdame bereitete sich währenddessen lesend auf Südtirol vor. Ich habe im Klappentext gesehen, dass diese Kriminalromane, es gibt von dem Herrn mehrere, auch als Reiseführer geeignet sind, das wird dann vor Ort noch zu prüfen sein.

Bozenkrimi

 

Ich las, nicht ganz zu Südtirol passend, aber doch fast: „Blasmusikpop – oder wie die Wissenschaft in die Alpen kam“ von Vea Kaiser. Das habe ich auf dem Handy gelesen, das gefällt mir bisher sehr, und das kann ich auch jetzt schon empfehlen. Hervorragende Urlaubslektüre für Reisen in die Bergregion.

Direkt neben uns eine Familie, die Kniffel spielte, was mich unweigerlich an meine Jahre in Travemünde erinnerte. Wo ich im Winter Nachmittag um Nachmittag mit meiner Mutter und Hilde, der alkoholkranken Nachbarin, Kniffel spielte, wobei Hilde im Laufe der Stunden immer ordinärer und wüster fluchte, wenn die Würfel ihr nicht gefällig waren. In einer komplett verräucherten Wohnung, dicke und blaue Luft, der lederne Würfelbecher knallte immer wieder zwischen Sekt-, Bier- und Schnapsgläser auf dem Tisch, überquellende Aschenbecher daneben und jeder Punkt auf dem Blöcken immer ein Pfennig. Auf dem Sofa daneben Hans, der Mann von Hilde, mit dem immer gleichen Buch über den U-Bootkrieg auf dem Schoß, in das er allerdings kaum guckte. Ab und zu schlug er es dann doch einmal auf und sah auf ein Bild, ansonsten besah er sich stumm die Rauchschwaden, die er selbst auch ergänzte, mit unzähligen Reyno Menthol.

Das klingt nicht beeindruckend, ein Pfennig pro Punkt, das brachte aber manchmal erstaunlich viel Geld, wenn wir nur genug Stunden mit dem Spiel zubrachten. Es war auch nicht gerade schwer, gegen Erwachsene zu gewinnen, deren Konzentrationsfähigkeit irgendwann sichtlich unter Dimple oder Deinhardt litt. Aber eigenartig, aus heutiger Sicht ist das alles kaum noch vorstellbar. Es war doch eine seltsame Zeit, wenn man das jetzt so aufschreibt. Wie jede Zeit seltsam ist, wenn man sie mit ausreichend Distanz betrachtet, und sei es nur wegen der Mode. Irgendwas war immer absurd.

Dann fuhr der Zug in Fulda ein.

(Fortsetzung folgt)

Kurz und klein

Berlin (6)

Knut im Naturkundemuseum

 

Die Fortsetzung von diesem Text.

Ich muss es abkürzen, der zweite Tag Berlin überschneidet sich sonst im Blog noch mit der nächsten Station meines Reiselustsommers, also mit München. Und das klingt doch einigermaßen unverträglich.

Wir haben am Sonntagmorgen im Hotel gefrühstückt, was allmählich auch ohne größere Desaster abläuft, die Söhne erreichen da ein ganz angenehmes Alter. Sie können sich selber nehmen, sie drehen nicht mehr jeden Obstsafthahn auf, bis der ganze Frühstückssaal schwimmt, sie füllen sich nicht mehr zwei Kilo Müsli auf, sie werfen nicht mehr alles um, die Entwicklung ist erfreulich. Sohn I liest beim Esssen und möchte morgens nicht reden, das ist doch grundsympathisch.

Danach gingen wir ins Naturkundemuseum Berlin, das uns mehrfach empfohlen worden war. Es war nach wie vor zu heiß, um draußen herumzulaufen, es war, was uns gar nicht mehr vorstellbar erschien, sogar noch wärmer als am Vortag. Auf dem Weg zum Museum, beim Hotel gleich um die Ecke, sahen wir auf die Sandsteingebäude um uns herum, auf die Stromkabel der Straßenbahn, die gerade repariert wurden und teilweise etwas improvisiert von oben herabhingen – und Berlin sah aus und fühlte sich an wie in Barcelona. Sogar ziemlich überzeugend. Eine südliche Metropole am katholischen Sonntag, menschenleer und verschlafen, staubig und heiß, voller halbfertiger und verlassen wirkender Baustellen, die Gott weiß wann wieder von Arbeitern besucht werden würden. Am Bildrand alte Menschen, die zu einer Bank unter einem Baum schlurfen.

Ein Museum, dachte ich, das ist doch bestimmt halbwegs kühl. Das war allerdings nur partiell richtig.

Denn im Museum kommt man zuerst in einen großen Saal unter einem ebensolchenGlasdach, in dem das weltgrößte Dinosaurierskelett ausgestellt wird. Wenn man also am heißesten Tag des Jahres in ein Treibhaus möchte, dann ist man in diesem ersten Saal goldrichtig. Man kann ihn dennoch nicht fluchtartig verlassen, es ist nämlich ziemlich großartig, was man da sieht. Man steht und staunt und tropft. Man zerschmilzt vor den Riesen der Vergangenheit, die da stoisch bei jeder Temperatur herumstehen, unfassbar groß, unheimlich und ausdauernd. An den Wänden des Saals Bildschirme mit Computeranimationen, in denen die Skelette belebt werden, das ist alles sehr kindgerecht und begeisternd, das hat bei den Söhnen ganz wunderbar funktioniert. Und bei uns auch.

Naturkundemuseum Berlin

 

Es gab sogar ein Hinweisschild, das dem schönen Spiel “Gib mir Tiernamen” für mich ganz neue Dimensionen eröfffnet hat. Ich war wirklich begeistert.

Langschwanz-Schnabelechse

 

Danach in den Rest des Museum, wobei es sich um ein begehbares Wimmelbuch handelt, die gesammelten Werke von Ali Mitgutsch sind nichts dagegen. Eine Sammlung, die allein durch ihre unbegreifliche Größe schon beeindruckt, auch und ausdrücklich Kinder. Ein Saal und noch ein Saal, immer mehr und mehr, eine schier endlose Folge von “Guck mal” und “HAST DU DAS GESEHEN?” Und irgendwo dann der Saal mit den eingelegten Tieren. Kreaturen aller Art in Alkohol, runtergekühlt auf erfrischende 15 Grad. Und um die Regale herum lauter ekstatische Besucher, die “Schön! Schön!” riefen. Wegen der Temperatur, nicht wegen der Exponate, obwohl die auch absolut sehenswert waren.  Tiere, Steine, Nester, Muscheln, Planeten, Modelle, Filme, Vergrößerungen und Miniaturen, das Museum hat alles und von allem irre viel.

Antilope im Naturkundemuseum

 

Das ist so ein Museum, da beschließt man sofort, dass man gut noch einmal hingehen könte – und das denkt man sicher nicht in jedem. Wirklich große Empfehlung für Berlinbesuche. Auch ohne Kinder – aber mit Kindern geradezu Pflichtübung.

Skelett im Naturkundemuseum

 

Danach der letzte Spaziergang durch Berlin, immer auf der Schattenseite der Straße, dicht an der Wand entlang, bloß nicht mit dem Kopf in die Sonne geraten. Nebenbei noch zwei Phänomene festgestellt – in Berlin ist gar nicht alles voller Hundekacke, wie alle immer behaupten, zumindest nicht in Mitte. Und, noch ein Bemerknis mit Tier, in Berlin gibt es noch massenhaft Spatzen, die man in Hamburg gar nicht mehr sieht. Wie kommt das? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Berlin ist Spatzenstadt, da kann man kein Brötchen ohne diese Gesellschaft essen, die hüpfend und tschilpend den Krümeln nachjagt. Das ist noch wie früher und da merkt man erst, dass anderswo etwas verschwunden ist, besonders tatsächlich in Hamburg. Der Spatz kann nicht nisten und leben, wo es nur noch glatte Fassaden und Glasflächen gibt, da müsste man in Hamburg mal mit Herrn Teherani ein ernstes Wort reden.

Wir gingen im Gänsemarsch durch die schmale Schattenzone dicht an den Häuserwänden entlang zu Clärchens Ballhaus, das uns auch mehrfach empfohlen worden war. Da saßen wir dann wieder an einer Stelle, bei der man in den Gesprächen noch einmal beim Zweiten Weltkrieg landet, denn wenn man da im Freien sitzt, dann sitzt man dort, wo früher ein Haus stand – und das kann man noch ganz gut erkennen.

Clärchens Ballhaus

 

Da fehlt etwas, mitten in der Stadt, da ist ein Loch. Ein zugeschüttetes Loch, auf dem man sitzt und Kuchen oder Eis isst. Wie lange ist der Krieg noch einmal her? Sohn fragte nach. Reisen bildet, es ist schon richtig. Das Ballhaus gab es damals schon, die brüchige Fassade sieht aus, als hätte sie seit dem Krieg keiner angerührt, als könne man durch diese Fenster einfach noch in die Vierziger oder noch weiter zurück sehen, in eine Parallelwelt mit verschobener Zeit. Ab und zu kann man da auch heute noch Swing tanzen, es muss sich äußerst seltsam anfühlen. Wobei die Herzdame zu bemängeln hatte, dass man da eher selten Swing und andere Tänze aus der Vergangenheit tanzen kann, meistens nur so “normales Zeug.” Sie möchte Berlin dann doch eher so:

Danach gingen wir zum Bahnhof. Mehr Zeit war nicht. Der Weg fiel uns mit jedem Schritt schwerer, nach zwei Tagen hatten wir dann doch genug von der Hitze. Sohn II trug sehr tapfer zwei Sachen, die er hinter unserem Rücken an einer Baustelle entwendet hatte, ein ziemlich großes Brett und eine kaputte Dachschindel. Die waren nicht leicht zu schleppen, aber meine Bereitschaft, seine Schätze zu tragen, richtet sich manchmal doch nach der Größe der Gegenstände. Ein Brett und ein Steintrumm, was man als Kind eben so mitnimmt, wenn es einladend irgendwo herumliegt. Und er wäre nicht Sohn II, wenn er sich dazu nicht noch weitere Gedanken gemacht hätte: “Wenn wir öfter nach Berlin fahren, dann nehme ich immer ein Brett mit. Jedesmal. Daraus kann ich dann in Hamburg ja eine Hütte bauen. Und etwas drin aufbewahren, tote Tiere und Kronkorken oder so. Das nenne ich dann die Berlin-Hütte.”

Tom Sawyer lebt, denkt man in solchen Momenten. Er lebt und steht jetzt gerade grübelnd vor einem Stück Schnur oder dreht einen rostigen Nagel in der Hand oder stößt mit dem Fuß vorsichtig eine toten Katze an. Am Mississipi, an der Elbe, an der Spree. Egal.

So war das mit Berlin.

 

Berlin (5)

Die Fortsetzung von diesem Text.

Wir gingen zum Alexanderplatz, den kann man wegen des Fernsehturms immerhin auch als Ortsunkundiger gut finden. Auf dem Alexanderplatz die Weltzeituhr, die ich den Söhnen nicht erklären konnte, das hätte ich vorher nachlesen müssen, um mal wieder Eindruck als allwissender Vater zu machen. Sie fanden sie aber ohnehin gänzlich uninteressant. Mitten auf dem Platz standen jungen Menschen neben Boxen mit beachtlicher Leistung und machten Musik, wobei die musikalische Leistung nicht ganz so beachtlich war, das war eher vollkommen beliebiges Eckengeschrammel. Dennoch saßen zu Füßen der Musiker ausgesprochen freundlich gesonnene Zuhörer, hörten interessiert zu und klatschten aufmunternd nach jedem Stück. Wie ich bereits schrieb, in Berlin waren alle auffällig nett, sogar das Publikum der Straßenmusiker.

Currywurst

 

Am Rand des Platzes eine Currywurstbude. When in Rome, do as the Romans do, wir wollten also als gute Touristen selbstverständlich auch in Berlin Currywurst essen. Während wir in der Schlange standen, fiel Sohn II auf, dass zwischen den Holzplanken vor der Wurstbude Geld steckte, und er bückte sich, um die Münze herauszufummeln. Wobei er merkte, dass daneben noch eine andere Münze steckte, daneben noch eine weitere – und dann dauerte es nur noch wenige Sekunden bis zur begeisterten Feststellung: “Hier ist alles voll!” Woraufhin auch Sohn I vor der Bude in die Knie ging und die beiden waren erst einmal eine halbe Stunde damit beschäftigt, mit Feuereifer Münzen zu bergen. All die Münzen, die den Erwachsenen da oben beim Bezahlen der Würste und Buletten abgestürzt waren, nach denen sich dann keiner mehr gebückt hat. Oder die von Erwachsenenfingern nicht mehr aus den schmalen Ritzen geholt werden konnten. Centmünzen, Fünfzigcentmünzen, Euromünzen, da war alles dabei. Die Söhne konnten sich von der Beute zwei Currywürste holen, die sie dann mit unfassbar dreckigen Fingern aßen, und sie konnten auch noch an einer am Rand des Platzes stehenden Rummelbude Bälle auf Dosen werfen. Wobei sie dann Plastikhandschellen gewannen und sich zusammenketteten. Das sieht man auf Reisen als Eltern auch ganz gerne, dann gehen sie nämlich nicht so schnell verloren, so im praktischen Zweierpack.

Im Moment lohnt sich das Absuchen dieser Currywurstbude übrigens nicht mehr, die Söhne waren wirklich gründlich.

Oranienburger Straße

 

Zurück zur Oranienburger Straße, es wurde allmählich spät. Dort dann endlich auch einmal metropoliges Gedränge, auf der Ausgehmeile saß man dicht an dicht, vor den weit geöffneten Fenstern und Türen der Restaurants und Kneipen. An den Häusern war wirklich alles geöffnet, was nur geöfffnet werden konnte, weit aufgerissene Häusermäuler schnappten nach Luft und nach Touristen. Irritierend, dass einige Restaurants sich zum Verwechseln ähnlich sehen, als würde man im Kreis immer um denselben Block laufen, oder als würden Kulissen immer wieder an einem vorbeigeschoben – guck, da kommt das indische Restaurant schon wieder.

Es war immer noch unsinnig warm, wir gingen in einen Kiosk, um Eis zu kaufen. In dem Kiosk zwei junge Männer, die die Verkäuferin nach einem Putzeimer und Wasser fragten, sie müssten was sauber machen. Sie würden das auch bezahlen, fünf Euro, okay? Zehn? Und die Verkäuferin, schon deutlich im Rentenalter, drahtig und mit energischer Ausstrahlung, verschränkte die Arme vor der Brust, sah die beiden jungen Männer lange und ernst an und fragte dann, ob sie vielleicht nicht ganz dicht seien. Bei der Hitze und am späten Abend putzen zu wollen? Noch bei Trost, die Herren? Und die Herren bestanden weiter höflich auf ihrem Eimer, denn das musste nun einmal sein, wirklich. Sie bekamen aber nur eine leere Plastikdose für 10-Cent-Süßigkeiten, mit der sie dann sichtlich unzufrieden, aber doch dankend abzogen. Die Jugend von Berlin, so höflich und reinlich.

Und damit endete der erste Tag in Berlin, denn ein paar Meter weiter fielen wir in die Hotelbetten. Das waren bis dahin etwa elf Stunden Berlin, genug für fünf Blogeinträge. So ist das, wenn man mal kurz die Umgebung wechselt, man sieht einfach wieder mehr. Und wir hatten tatsächlich diesen wunderbaren Effekt, den man den Texten im besten Fall anmerkt, die elf Stunden fühlten sich länger an, viel länger. Der Tag sauste nicht vorbei wie die Werktage in Hamburg, der Tag ließ sich Zeit, viel Zeit. Das ist ein banaler und bekannter Effekt, dass die Stunden langsamer fließen, wenn man aus dem Alltag raus ist, aber je älter man wird, desto schöner ist es. Es ist wunderbar, wenn man ins Bett geht und der Tag lang und voll war, wenn nicht alles immer im Handumdrehen vorbei ist. Es ist angenehm, wenn das morgendliche Aufwachen und Aufstehen nicht erst nur gefühlte Minuten her ist, wenn man wieder ins Bett geht. Sondern tatsächliche und echte sechzehn Stunden, die einem auch wie sechzehn anständige, üppig portionierte Stunden vorkommen. Mit allem und scharf.

Ich muss das wieder öfter so hinbekommen.

Fortsetzung folgt.

 

Berlin (4)

Die Fortsetzung von diesem Text.

Karl-Marx-Allee

 

Wir sind dann fast die ganze Karl-Marx-Allee entlang gegangen, durch die an diesem Tag menschenleere und ausgesprochen verkehrsarme Prachtstraße. Wie überhaupt, das habe ich noch gar nicht erwähnt, sich Berlin dadurch auszeichnet, dass es nicht voll ist. Zumindest nicht an den heißesten Tagen des Jahres, zumindest nicht an einem Wochenende. Das verläuft sich alles sehr angenehm in den breiten Straßen. Wenn man die immer knüppelvolle Hamburger Innenstadt oder unseren Hauptbahnhof gewohnt ist, den man nicht mehr durchqueren kann, ohne anschließend Menschen tagelang zu hassen und sich nach Wüsteneien und Einöden zu sehnen, dann hat man selbst am Brandenburger Tor, wo die Touristen in Hundertschaften minütlich und busweise ausgekippt werden, überall genug Platz zum Atmen. In Städten, in denen es mal Könige, Kaiser, Diktatoren, Endkämpfe, Besatzer und dergleichen gab, sind die Straßen eben breiter.

Karl-Marx-Allee

 

Das fiel auch den Jungs aufs, und zwar schmerzlich. In der Karl-Marx-Allee gibt es nämlich richtig breite Fußwege, es gibt kaum Leute, es gibt nichts als Platz – und sie hatten weder Skateboard noch Waveboard dabei. Das war natürlich hart, da standen sie mit sehnsüchtigem Blick auf dem leeren Pflaster, auf dem man so überaus prima hätte herumkurven können – das gab ihnen für künftige Reisen schon etwas zu denken. Doch lieber immer alles mitschleppen, falls man mal irgendwo einen verlassenen Boulevard ohne Besucher findet? Und wenn man dann doch nichts findet? Das ist gar nicht so einfach.

Kino International

 

Den Söhnen fiel aber sonst an der Straße, die jeder Erwachsene sofort als hochspeziell erkennt, als sehr auffällig anders als der Rest der Stadt bebaut, übrigens nichts auf. Eine Straße eben. Mit Häusern. Was wieder etwas bestätigt hat, das mir schon seit einigen Jahren immer wieder auffällt, seit ich dauernd mit Kindern zu tun habe: Kinder sehen Architektur nicht gut. Sie haben wenig bis gar keinen Sinn dafür, sie können auch schlecht Alt- von Neubauten unterscheiden. Faszinierend, das war mir überhaupt nicht klar, bevor ich eigene Kinder hatte. Sohn I fällt jetzt erst allmählich auf, dass man Häuser irgendwie gruppieren kann, nach Stilrichtungen, Alter usw., er ist aber auch bald schon acht Jahre alt. Da fängt das wohl erst an. Das einzige Gebäude, das den Söhnen in Berlin besonders auffiel, war die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße, die hat aber auch, wenn sie plötzlich golden über die Häuser ragt, einen etwas märchenhaften Touch. Die Karl-Marx-Allee war für sie also nur irgendeine Straße in Berlin. Und das Wunder, das wir kurz darauf sahen, war für sie dann auch gar keines.

Karl-Marx-Allee

 

Für uns allerdings war es eines, für mich besonders. Da war nämlich eine Buchhandlung auf der Karl-Marx-Allee, in der es gerade eine Lesung gab, als wir vorbeigingen. Und die Lesung war brechend voll. Da saßen vierzig Leute oder mehr und hörten zu. Drinnen. Bei immer noch 35 Grad und absurd stickiger Luft. An einem Sonnabend. Abends. Da stand ich mit offenem Mund vor den Schaufenstern, das hat mich sehr beeindruckt. Für Hamburg kann ich mir das nur schwer vorstellen, wenn hier nicht gerade irgendwelche Superstars wie Max Goldt oder John Irving lesen, mit denen man auch Hallen voll auslasten kann. Das muss der Neid den Berlinern lassen, Lesungen können sie offensichtlich. Respekt!

Dann gingen wir zum Alexanderplatz, und die Söhne haben sich dort spontan und ganz alleine das Abendessen finanziert.

(Fortsetzung folgt)

 

12 von 12 im Juli

Ich stelle gerade fest, dass der 12. sowohl im Juli als auch im August neben den Reisezeiten liegt. Wie gemein ist das denn! Da kann man ja gar keine Anbgeberbilder aus südlichen Gefilden oder vom Meer posten! Das ist wirklich enttäuschend, im nächsten Jahr müsssen wir den Urlaub anders planen. Mehr so auf die 12 optimiert.

Der Tag beginnt mit dem Brötchenholen, das in diesem Haushalt immer an dem hängt, der zuerst Hunger bekommt, also immer an mir. Da wir in der Stadtmitte einer Millionenstadt wohnen, kann man auf dem kurzen Weg entspannt die Hipster-Stellenanzeigen in den Schaufenstern durchlesen.

Stellenanzeige Ottos Burger

 

Dann Frühstück. Mich treibt ja ein wenig der Ehrgeiz um, das einmal so schön hinzubekommen, wie der Herr Leitmedium (siehe hier). Das ist nicht einfach, das ist ein hochgestecktes Ziel – aber ich bin auf gutem Weg.

Ei auf Teller

 

Nach dem Frühstück etwas Textarbeit, ich trinke Club-Mate und schreibe über Berlin, ich nenne es Method-Writing. Dann steige ich in einen Zug nach Oldenburg, um dort Isa zu treffen. Worum es da wohl ging! Die Auflösung wieder später im Jahr, sagen wir September.

Da ich neulich darüber geschrieben habe, dass meine Zugreisen immer ganz normal ausfallen, fällt diese natürlich nicht mehr normal aus, das muss wohl so sein. Der Zug hat, das habe ich auch noch nicht erlebt, nur Wagen der 1. Klasse. Sie mussten wohl ein paar tauschen und haben in der Eile keine anderen gefunden, das will man sich gar nicht genauer vorstellen. In den neuen Wagen hatten sämtliche Reservierungen keine Gültigkeit, ein paar Wagen fehlten auch weiterhin, ich konnte dann während der Fahrt wunderbar Aspekte des Volkszorns studieren, man macht sich keinen Begriff.

Wenn man die Bevölkerung wirklich auf die Barrikaden bringen will, dann braucht man weder Migranten, noch Griechenland, noch Überwachung – es reicht, einfach die Sitzplatzreservierungen zu streichen. Das war nicht schön, und mir tat der etwa neunjährige Junge sehr leid, der alleine reiste und etwas verängstigt mitten zwischen keifenden Erwachsenen saß, die sich um Plätze stritten, die Zugbegleiter anbrüllten und immer wieder „So ja nun nicht!“ schnaubten.  Und die ganze Fahrt über versuchten, sich gegenseitig um die Plätze zu bringen. „Ich war nur auf Toilette!“ „Der Platz war frei!“ Mir tat auch die Mutter leid, die im Gang mit zwei weinenden Kindern auf dem Boden saß, alle drei sichtlich am Ende der Beherrschung. Der Junge hatte „Mio, mein Mio“ auf dem Schoß, das ist als Trost in solchen Momenten auch nur bedingt geeignet. Es hat mich aber doch daran erinnert, dass ich dieses Buch für Sohn I noch besorgen muss.

Ich habe dennoch versucht, etwas zu lesen.

Berlin-Moskau

 

Ein sehr gutes Buch, ich habe es damals, als es erschien, schon einmal angelesen (stellt sich heraus – es steht sogar schon im Regal ,und ich habe eine Doublettte gekauft. Aber es steht im Herzdamenteil des Regals, da gucke ich natürlich nicht dauernd nach, die Gütergemeinschaft endet dort). Ein wirklich gutes Buch, allerdings geht der Text, wie der Titel schon sagt, nach Osten – und der Zug fuhr nach Westen. Ich weiß nicht, ob andere Menschen da auch empfindlich sind, ich mag so etwas nicht. Das ist doch schlimm unstimmig.

In Bremen stieg ich in einen Regionalexpress und fuhr über Delmenhorst (bei der Durchfahrt immer leise singen, quasi Ehrensache) nach Oldenburg. Also Oldenburg in Oldenburg, wie der Zugbegleiter durchsagte, nicht etwa Oldenburg in Holstein. Der Mann vor mir erzählte seiner Begleitung, dass er aus Oldenburg in Oldenburg käme, aber jahrelang in Oldenburg in Hostein gelebt habe. Ob der bei seinen Erinnerungen immer im Geiste „in Oldenburg“ oder „in Holstein“ an jede Szene dranhängt? Schicksale gibt es!

In Oldenburg ging ich vorbei an geschlossenen und sehr lustlos wirkenden Eros-Centern und vorbei an dieser bemerkenswert emotionalen Wandbotschaft in die Stadt.

Graffiti

 

Vorbei auch an berlinerisch wirkenden Gastro-Tempeln.

Pommesbude in Oldenburg

 

Dahinter wird Oldenburg dann ganz hübsch.

Oldenburg an der Hunte

 

Die Stadt ist am Sonntag allerdings nicht direkt als turbulent zu bezeichnen.

Straße in Oldenburg

 

Solche Szenen geben Abzug in der Metropolennote, da muss man ehrlich sein.

Straße in Oldenburg

 

Aber man darf sich nicht täuschen lassen!

Zettel - Oldenburg schläft nicht

 

Und wenn man genau hinsieht, dann merkt man, die Stadt ist in Bereitschaft. Da geht noch was. Irgendwann.

Klappstühle in Olddenburg

 

Was viele gar nicht wissen, in Oldenburg sind die Häuser durchgegendert. Rosa und Blau, da weiß man, wo man hingehört. Moderne Zeiten!

Rosa und blaue Wände

 

In Oldenburg haben wir dann etwas gearbeitet, was man so macht. Dann sind wir zurückgefahren. Und da ich jetzt schon 11 Bilder verbraten habe, reicht es nur noch für das Feierabendbier, übrigens eines, das ich sehr empfehlen kann. Ganz hervorragend, ein wirklich äußerst schwarzes Schwarzbier, auf dem Etikett steht der sensationell bescheuerte Slogan: „Ein Schwarzbier der maritimen Boheme“ Mit ohne Sonderzeichen. Ich mag es dennoch.

Kohlentrimmer Schwarzbier

 

Alle anderen Beiträge zu 12 von 12 im Juli bei Caro.

 

Berlin (3)

Die Fortsetzung von diesem Text.

Weberwiese

 

Wir standen also in dem kühlen Hotelzimmer, aber wir mussten da wieder raus. Man fährt ja nicht in eine fremde Stadt, um sich im Familienverbund in einem Hotelzimmer vor den Lüftungsschlitzen der Klimaanlage mit erhobenen Armen zu drehen wie in einem altmodischen Gymnastiklehrgang, das geht ja nicht. Also zumindest nicht lange. Außerdem hatten wir eine Verabredung mit der anerkannten Berlinexpertin Patricia Cammarata, die mit präziser Ortskenntnis und scharfsichtigem Verständnis der hitzebedingten Bedürfnisse einen wirklich idealen Treffpunkt vorgeschlagen hat. Zu dem wir durch eine mühsam ergrübelte Kombination von Tram- und U-Bahnfahrt gekommen sind, man wird nie erfahren, ob wir dafür auch die richtigen Fahrkarten hatten. Zweifel sind allemal angebracht.

Der folgende Insider-Berlin-Tipp ist für alle Eltern richtig, die an den brüllend heißen Juli-Tagen in diese Stadt fahren, die neuerdings bekannt ist für Sommertemperaturen wie im Tal des Todes. Mit der U-Bahn zur Station Weberwiese, da auf das älteste Hochhaus der Stadt zugehen und vorher auf der Grünfläche abbremsen. Hinsetzen und warten, bis die Kinder im Springbrunnen sitzen, das dauert etwa 10 Sekunden. Mehr muss man nicht machen. Da gibt es Schatten, da gibt es eine historisch interessante Kulisse, überfüllt ist es auch nicht, und der kleine Teich um den Springbrunnen herum reicht für kleinere Kinder vollkommen aus. Das Wasser geht ihnen bis zu den Oberschenkeln, das ist ganz wunderbar so. Unsere Söhnen und der Nachwuchs von Patricia saßen gemeinsam im Brunnen, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Wir saßen auf einer Decke im Gras, um uns herum glühte Berlin. Zwischendurch ging ein winziger, kaum spürbarer Windhauch durch die Stadt, ein lauwarmes Lüftchen, nur wenige Grad kühler als die stehende Luft, kaum zu bemerken. Der schwächliche Rest eines Sommergewitters draußen in Brandenburg vielleicht, der mit allerletzter Kraft und vollkommen vergeblich versuchte, die Fontänen dieses Brunnens mitten in Berlin noch ein wenig aus der Richtung zu bringen, wenigstens ein paar Tröpfchen noch mehr Schwung und etwas Drall zu geben. Und vielstimmig und hoffnungsfroh jauchzend riefen die Menschen in dem kleinen Park: “Es kommt Luft!” Es kam dann aber nichts mehr. Gar nichts. So ist das im Binnenland.

Ich fand das aber alles sehr in Ordnung, auf dieser kleinen Grünfläche da. Das sind nämlich genau diese gelungenen Pausenstunden, für die man immer ein wenig Glück braucht, um sie auf Städtereisen gut hinzubekommen, und es sind auch die Stunden, in denen man sich mit den fremden Städten anfreundet und denkt, ach, man könnte auch mal wiederkommen. Schön hier. Dieses Anfreunden passiert gar nicht, während man vor den wichtigen Denkmälern und Prachtbauten oder in den großen Museen steht, das passiert in den Pausen. Bei mir jedenfalls. Ich hatte solche Stunden schon mit einer Flasche Vinho Verde ohne Gläser in einem Park in Funchal, vor kaltem Kaffee in einem Café in Marseille, stehend an einer Ampel in New York, ja, an einer Ampel, aber das geht auch wohl nur dort. Auf einem Balkon in Paris, in einem winzigen Garten in Glasgow, auf einer uralten Mauer in Saint-Malo und so weiter. Diese Stunden, wo Umgebung und Wetter und Stimmung und Begleitung passen, das sind dann auch die Stunden, an die man sich erinnert, wenn man wieder an diese Stadt denkt. Dieser obskure Hähnchenimbiss am Strand in Barcelona. Da war auch alles richtig und das war auch der einzige Moment, der in Barcelona richtig war. In London zum Beispiel hatte ich das nicht, London hat irgendwie nicht funktioniert. Da muss ich vielleicht noch einmal suchen gehen. Vermutlich bin ich am richtigen Platz einfach vorbeigelaufen, um schnell noch etwas aus dem Reiseführer zu sehen. Aber das bringt gar nichts.

Nach zwei Stunden im Wasser konnten die Jungs auch wieder etwas laufen. Die Sonne stand schon deutlich tiefer und wir konnten endlich das machen, was in fremden Städten eigentlich Pflichtübung für jeden sein sollte – einfach stundenlang durch die Straßen laufen, mit nichts als einer ungefähren Richtung als Plan. Und wenn man vor dem ersten Hochhaus Berlins sitzt, dann geht man hinterher nicht durch irgendeine Straße, dann geht man die Karl-Marx-Allee entlang.

Die Söhne in der Karl-Marx-Allee

 

Fortsetzung folgt.

Berlin (2)

Die Fortsetzung von diesem Text.

Berlineer Kronkorken

 

Wir standen also gut durch vor dem Brandenburger Tor, die Kraft der Kinder reichte nur noch, um in die nächste Eisdiele zu fallen. In eine ganz normale Eisdiele, noch schlimmer: in die Filiale einer Kette. Uns waren zwar mehrere hochspezielle Berliner Eisläden – sagt man schon Craft-Ice? – empfohlen worden, aber dazu hätten wir irgendwo hinfahren müssen, und dazu wiederum hätten wir durch die Sonne gemusst. Keine Chance.

In der Eisdiele hielten mich sämtliche anwesenden Kunden für mindestens milde irre, weil ich mir einen Latte Macchiato bestellte. Ein Heißgetränk. Aber hey, ich lass mir doch vom Wetter nicht meine Kaffeezeiten vorschreiben. Ich trank meinen Kaffee, die Söhne aßen Eis und verschwanden auf der Toilette. Nachdem ich in Ruhe ausgetrunken hatte, ging ich nachsehen, warum sie eigentlich nicht wiederkamen. Und sah nicht ohne Stolz, dass die kleinen urbanen Überlebenskünstler mit den Köpfen im Waschbecken steckten, unter dem kalten und voll aufgedrehten Wasserstrahl, mit dem sie auch schon ihre Kleidung und, nicht ganz absichtlich, auch sonst alles im Raum runtergekühlt hatten. Patente Kinder, das gibt es ja heute kaum noch.

Nachdem die Söhne durch diese Prozedur wieder halbwegs auf Normaltemperatur und etwas erfrischt waren, mussten wir uns entscheiden. Was macht man denn bloß, wenn es für alles zu heiß ist? Wenn man selbst bekannte und gekühlte Orte einfach nicht erreichen kann, ohne erst einmal minutenlang durch die abartige Gluthölle zur nächsten Station zu laufen? Und fünf Minuten Weg schon nach übler Zumutung klingen? Wir hatten vor der Fahrt wirklich reichlich Tipps für Berlin bekommen, die meisten über Twitter, das kann ich sehr empfehlen. Einfach mitschreiben, was da kommt, wenn man um Hinweise bittet. Das ist als Reiseführer so schlecht nicht. Was wurde uns empfohlen? Zum Beispiel:

Der Spreebogen, das Brandenburger Tor, der Reichstag (mehrfach), der Fernsehturm, der Alexanderplatz, der Potsdamer Platz, die Pfaueninsel, das Naturkundemuseum (mehrfach), eine Spreefahrt (mehrfach), das Tempelhofer Feld, der Klunkerkranich, die Roboter im Foyer des Museums für Post und Kommunikation, der künstlicher Wasserfall auf dem Kreuzberg, Tretbootfahren im Treptower Park, der Krausnickpark, der Hackesche Markt und die Höfe, das Scheunenviertel, der Kletterpark hinterm Mahnmal für Maueropfer, der Panoramapunkt Potsdamer Platz, das Wannsee-Hofcafé, Mutter Fourage, Shiso-Burger am Koppenplatz, Clärchens Ballhaus (mehrfach), die Berliner Eismanufaktur, Jockels Biergarten mit Spielplatz, Hokey-Pokey-Eis, der Schlachtensee, der Wannsee, Strandbad Weissensee. Und vermutlich habe ich noch einiges übersehen.

Wenn wir weitergefragt hätten, es wäre noch mehr zusammengekommen, gar keine Frage. Vermutlich würde es auch klappen, wenn man nur kurz vermeldet, wo man sich gerade befindet, und dann nach Zielen um die Ecke fragt, so eine Art Social Travelling. Vielleicht wäre es ganz interessant, sich einmal nur so durch eine Stadt zu bewegen,da werden die Follower zu Leadern, warum auch nicht. Gleich mal vormerken! Ich fand allerdings auch die Marcopolo-Reiseführer-App gar nicht schlecht, die es seltsamerweise kostenlos in den Appstores gibt – hier bei iTunes. Ich habe nicht einmal In-App-Käufe gefunden, und der Inhalt der einzelnen Städteführer scheint den Büchern doch sehr zu ähneln. Womit wollen die dann noch Geld verdienen? Ich verstehe es nicht. Ebenfalls kostenlos und brauchbar ist die Citymapper-App, die einem (nicht nur in Berlin) bei den Bus- und Bahnlinien und Fußwegen und generell bei der Navigation hilft. Das klappt sehr gut, verbraucht aber anscheinend reichlich Akku.

Wir haben an diesem Tag in Berlin aber keinen einzigen der zahlreichen oben gelisteten Tipps befolgt, wir haben dann notgedrungen und hitzebedingt etwas gemacht, was uns kein Mensch empfohlen hat. Weil es total uncool ist, spießig, profan und pauschaltouristisch anmutend. Weil so etwas eigentlich immer nur die anderen machen, die mit den Funktionswesten und den Strümpfen in den Sandalen. Wir haben also eine Stadtrundfahrt gemacht. Zweieinhalb Stunden lang. Mit einem dieser alten Doppeldeckerbusse, da haben wir uns natürlich unten hingesetzt, in den Schatten. Oben saßen genug Wahnsinnige im rötlichen Hummerlook, man muss ja nicht überall mitspielen. Wir saßen unten mehr oder weniger im Schatten, es war dennoch heiß. Aber wir waren immerhin fast die ganze Fahrt über aus der Sonne und es gab Fahrtwind, es war okay. Sohn II schlief sofort ein, das Motorengebrumm und das Schaukeln des Busses wiegten und wogten ihn ein, er wachte erst am Ende der Fahrt wieder auf. Das war auch sicher das Beste für ihn. Sohn I ging nach einer Weile dann doch einmal gucken, wo der unentwegt redende Erklärbär mit seinem Mikro eigentlich saß und merkte dabei, dass der oben unter einem Stück Verdeck saß, daneben noch ein freier Platz. Da hat er sich natürlich hingesetzt und der Erklärbär, ein etwas nostalgischer Altsozi mit bemerkenswert schrägem Humor und überzeugender Verzweiflung an den Zuständen in der Stadt, hat ihn die ganze Fahrt über direkt angesprochen und ein paar besonders kindgerechte Hinweise gegeben, das fand er ausgesprochen großartig.

Die Herzdame und ich saßen unten, passten auf, dass der schlafende Sohn II nicht von der Bank rollte, beschatteten je nach Sonnenstand das Kind und ließen die hitzetyrannisierte Stadt langsam an uns vorbeirollen. Ich glaube ja, Stadtrundfahrten werden etwas unterschätzt. Wenn man eine Stadt überhaupt nicht kennt, ist es doch ausgesprochen nett, vor den weiteren Erkundungen einmal alle Highlights so mühelos abgespult zu bekommen. Auch wenn im Bus um einen herum lauter, igitt, Touristen sitzen. Fast könnte man sich selbst wie einer fühlen! Man macht wirklich was mit, auf Reisen.

Haus in Berlin

 

Von der Teilung der Stadt ist übrigens so wenig übrig, dass sich das Thema auch einem interessierten Kind nicht mehr erschließt, nicht einmal ansatzweise. Checkpoint Charlie, was war das gerade? Wer gegen wen? Warum? Wie genau? Wie lange? Das kriegt man auf einer Stadtrundfahrt nicht geklärt, da würde man Tage und mehrere Museen brauchen. Was hängen bleibt: In Berlin ist irgendwie noch mehr vom letzten Krieg und der seltsamen Zeit danach zu spüren, die Geschichte springt einen hier an jeder Ecke an, das merken auch Siebenjährige.

Checkpoint Charlie

 

Nach der Stadtrundfahrt holten wir den Koffer aus dem sauteuren Schließfach und fuhren wir mit der Tram ins Hotel. Wir brauchten drei Stationen, um den Fahrkartenautomaten in der Tram zu verstehen, nach drei Stationen mussten wir allerdings auch schon wieder aussteigen. Mehrere Berliner Fahrgäste haben versucht, uns beim Ticketkauf zu helfen, gaben aber ziemlich gegensätzliche Hinweise und mehrfach welche auf Fahrkarten, die es vielleicht irgendwo gab, nicht aber an diesem Automaten der, wie wir kurz vor dem Aussteigen noch merkten, eh nicht in Betrieb war. Bei den Fahrkarten in Berlin gilt, was in Hamburg allerdings auch und sogar noch mehr gilt: es ist kompliziert. Wenn ich es recht erinnere, war das System in New York pappeinfach, ich werde nie verstehen, wozu man in deutschen Städten 46 Ticketvarianten braucht. Es nervt. Simplify your Nahverkehr, dem Demonstrationszug würde ich mich jederzeit spontan anschließen.

Berliner Hochhaus

 

Dann ins Hotel. Wir waren im Ramada Berlin Mitte. Das liegt an der Oranienburger Straße, und wie man hier nachlesen kann, ist das für touristische Zwecke gar nicht verkehrt. Wobei ich mich etwas ärgere, dass ich das mit der Gespenstermauer jetzt erst gelesen habe, so etwas will man doch sehen! Das wäre auch für die Kinder ausgesprochen toll gewesen. Jedenfalls solange da nicht tatsächlich zwei andere, eher schemenhafte Kinder erschienen wären. Nächstes Mal dann, denn nach Berlin müsssen wir aus noch zu erklärenden Gründen bald wieder. Im Hotel gibt es WLAN und, für mich am Morgen fast noch wichtiger, Wasserkocher und Kaffee auf dem Zimmer. Wenn ich König von Deutschland wäre, das wäre in allen Hotels längst Pflicht, denn als Frühausteher bin ich in fast jedem Haus lange vor dem Frühstück wach. Und eine Klimaanlage gab es auch, selten im Leben habe ich mich so über eine Klimaanlage gefreut. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, das Zimmer war geradezu nordisch frisch und wir standen eine ganze Weile einfach nur so in dem kühlen Raum herum, drehten uns im eisigen Luftstrom und gaben äußerst geistreiche Bemerkungen von uns wie etwa “Schön kühl.” “Ja, voll schön. Und kühl.” “Papa, hier ist es kühl. So schön.” “Toll, keine Sonne, Papa!”

Denn gerade auf Reisen kommt man als Familie viel mehr ins Gespräch als sonst im Alltag, und das ist natürlich auch ganz wichtig.

(Fortsetzung folgt)

 

Berlin (1)

Brandenburger Tor

 

Das Wochenende in Berlin hat erwartungsgemäß bestätigt, was ich seit einiger Zeit geahnt habe – die Söhne sind jetzt im idealen Reisealter. Weil sie jetzt zu alt für ein fortwährendes “trägst du mich bitte” sind, weil sie nicht mehr alle fünf Schritte wehklagend vor Anstrengung zusammenbrechen, weil sie nicht mehr vor jeder Quengelzone hochdramatische Szenen hinlegen, weil nicht mehr alles zu weit ist, auch wenn man nur eine Ecke weitergeht. Weil sie aber auch noch zu jung für die namenlose Langeweile sind, die Kinder ab, na, vielleicht etwa zwölf Jahren überfällt, wenn die uncoolen Eltern im Urlaub dauernd diese schrecklich uncoolen Sachen machen und sich auch sonst peinlich benehmen. Älter als vier und jünger als zwölf, in dem Alter geht wohl alles. Sie gehen auf eigenen Füßen und sogar weit, sie finden alles interessant, sie können noch auf allem herumklettern, in jeder Pfütze baden, jedes Tier streicheln, alles bestaunen und sich rasend schnell begeistern. Sie finden vielleicht nicht interessant, was ich interessant finde, aber egal. Ich gucke aufs Brandenburger Tor, sie balancieren lieber auf einem Zaun, das geht alles harmonisch auf, wenn man die pädagogischen Absichten etwas runterregelt. Und da das Zeitfenster, in dem man familiär gelungen und einfach verreisen kann, gar nicht so groß ist, versuchen wir jetzt tatsächlich, etwas mehr rauszukommen. Mal sehen, ob es gelingt.

Aber es war tatsächlich ein ziemlich spezielles Wochenende. Speziell heiß. Irre heiß. Geradezu lachhaft heiß. Eventuell habe ich auch meinen persönlichen Hitzerekord geknackt, ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so heißen Tag erlebt zu haben. 38 Grad in einer Stadt ohne Wind, ganz einfach war es wirklich nicht. Die Glanzkröte, wie Sarah Kirsch die Sonne gerne nannte, wirkte ganz so, als würde sie den ganzen Tag näher als sonst an der Erde sein, als wäre sie sciencefictionfilmmäßig bedrohlich verschoben, als hätte jemand den Sommer mal eben auf die Stufe “Grill” hochgeschaltet. Das war beeindruckend heiß, Respekt, das habe ich lange nicht so erlebt und die Söhne ganz sicher noch nie. In der Hinsicht kann Berlin definitiv was.

Wir sind mit dem Zug nach Berlin gefahren, denn im Gegensatz zu manchen anderen bekannten Bloggern mit Reisedesastern am laufenden Band, erlebe ich praktisch nie Zugprobleme. Wenn ich Zug fahre, dann kommt der pünktlich, fährt pünktlich ab und kommt zur rechten Zeit da an, wo er fahrplanmäßig hinsoll. Mit laufender Klimaanlage. Vielleicht sollte ich mich als privater Reisebegleiter auf Zugfahrten verdingen, einfacher könnte ich kein Geld verdienen. Einfach bei jemandem im Zug sein, sitzen und lesen – und alles passt für alle Beteiligten. Fast alles im Falle des letzten Wochenendes.

Denn leider hat ein ICE automatische Schiebetüren, und Sohn II hat die vollkommen unerklärliche Angewohnheit, Finger in Schiebetüren einzuklemmen. Geradezu regelmäßig und unbelehrbar. Die Hand auf die Tür legen und zusehen, wie die Hand zur Seite gezogen wird, weiter, noch weiter, bis der Spalt zwischen Tür und Rahmen zuschnappt und kräftig am Kinderfinger zieht und quetscht. Man muss es wohl nicht verstehen. An den gellenden Schrei durchs Ruheabteil werden sich einige Mitreisende sicher noch länger erinnern, dem Finger geht es mittlerweile wieder gut. Der Fingernagel blieb diesmal sogar dran, quais alles im grünen Bereich.

Im Berliner Hauptbahnhof dann gleich die erste Attraktion, da fahren nämlich Bahnen über Bahnen, das musste erst einmal länger bestaunt werden. Schienen auf mehreren Etagen! Wie krass ist das denn. Sohn I verkraftete nur etwas mühsam die erschütternde Erkenntnis, dass der Hamburger Hauptbahnhof gar nicht der größte Bahnhof Deutschlands ist, und also wohl auch nicht der größte Bahnhof der Welt. Das ist für kleine Lokalpatrioten natürlich nicht einfach. Aber er hat dann nach ein paar Stunden schon gemerkt, dass in Berlin irgendwie alles größer ist, dann ging es wieder. Das ist eben eine andere Liga, da vergleicht man nicht. Wie beim Fußball.

Wir haben den Familienkoffer erst einmal in ein Schließfach gelegt, ich wollte den Jungs schnell das Brandenburger Tor zeigen, bevor es zum Hotel ging. Vor den Schließfächern stand ein ausgesprochen melancholisch wirkender Bahnangestellter, der gerade einem älteren Ehepaar geduldig erklärte: “Dit kostet sechs Euro, wa. Ja, da kiekense, aber dit is der Preis. So isses hier, nich wahr.” Und dabei guckte er so, als wenn er Mitleid mit all den Touristen hätte, die da verblüfft vor den Geldeinwurfschlitzen standen und in den Taschen nach Münzen kramten. Er hatte einen langen Schnurrbart und hängende Schultern und wäre er nur ein wenig anders gekleidet gewesen, er hätte aus einer Geschichte von Schnurre kommen können, so ein Typ war das. Das war der erste Berliner, den wir getroffen haben, und so freundlich wie der waren sie dann alle. Keine Spur von der berühmten Berliner Unfreundlichkeit, wer weiß, wo die ist, vielleicht ist sie längst nach Hamburg gezogen. Es gibt hier genug Situationen, bei denen sich der Verdacht deutlich aufdrängt.

Schnell zum Brandenburger Tor ist im Prinzip eine naheliegende Idee, wenn man am Berliner Hauptbahnhof ankommt, das sind tatsächlich nur ein paar Gehminuten. Ein paar vollkommen schattenlose Gehminuten allerdings, über einen satanisch aufgeheizten Platz mit flirrender Luft. Vorbei am Reichstag und am Kanzleramt.

Ich: “Da arbeitet die Merkel.”

Sohn I: “Dann lass uns schnell weitergehen.”

Wir gingen und gingen und wurden immer langsamer, es wurde immer noch heißer. Sohn sagte sichtlich genervt: “In Hamburg ist viel mehr Schatten.” Der Bahnhof zu groß, die Luft zu heiß, noch war er von dieser Hauptstadt überhaupt nicht überzeugt.

Schatten gab es erst wieder an der Gedenkstätte für die ermordeten Sinti und Roma. Da Sohn I lesen kann, kommt man an so etwas nicht mehr ohne Erklärungen vorbei, ich weiche auch solchen Fragen kategorisch nicht aus. Das sind schwere Gespräche, die man bei lastender Hitze vielleicht gar nicht führen möchte, aber dem muss man sich stellen, wann und wo immer es einen trifft, finde ich. Und es sind Gespräche, die einen ziemlich überraschenden Verlauf nehmen können. In diesem Fall landeten wir bei der Frage, warum diese Gedenkstätte genau so gestaltet ist, wie sie ausssieht, nicht irgendwie anders. Man kann das nachlesen, warum sie so gestaltet ist, aber Symbolik überzeugt Siebenjährige nicht recht. Das Wasser als endlose Tiefe, is’ klar, Papa. Das versteht doch keiner? Warum überhaupt ein Symbol, nicht ein richtiges Denkmal? Oder ein Bild? Viele Bilder? Und während ich noch nach Worten suchte, die bei dem Wetter in meinem Kopf genau so flirrten wie die Luft vor mir, während ich noch überlegte, wie man Symbole erklären soll, wie man angesichts dieser Stätte überhaupt etwas erklären soll, haben die Söhne plötzlich gemerkt, dass man auf dem Zaun ringsum prima balancieren konnte. Und das war dann auch gut. Der Zaun ist lang und führt unter Bäumen längs, die Kinder waren erstaunlich lange beschäftigt.

Dann sagte ich ihnen, dass da vorne das Brandenburger Tor sei. Das kennen sie natürlich aus Nachrichtenfilmschnipseln, aus der Tagesschau-App, von Fotos, Münzen und Zeichnungen, das Brandenburger Tor kennt vermutlich jeder. Und es ist schon beeindruckend, wenn man es zum ersten Mal sieht. Es ist groß, pompös, prahlerisch, es ist Tschingbumm auf den ersten Blick. Und auch schön. Oder nicht? Den Söhnen reichen fünf kurze Minuten für die Betrachtung des Bauwerks, dann sind sie damit schon komplett fertig. Ohne abschließendes Urteil, egal, was kommt jetzt? Eis? Limo? Freunde treffen? Aber hinterher haben wir gemerkt, dass sie es schon cool und wichtig fanden, es gesehen zu haben. Kennt schließlich jeder, das Teil. Sie jetzt auch. Doch, das hat was.

(Fortsetzung folgt)