Gelesen, vorgelesen, gesehen, gespielt und gehört im Juli

Gelesen

Immer noch weiter in Safranskis “Das Leben Goethes” und parallel in Goethes “Dichtung und Wahrheit” und wenn es so weitergeht, dann schreibe ich das wohl noch montelang. Schön.

Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Daraus lese ich nur alle paar Wochen ein paar Seiten, aber es ist immer anregend, es bringt mich immer auf Gedanken, es ist immer grandios. Der Herr hat einen so unfassbar riesigen Wortschatz, man ist geradezu im Bällebad der Vokabeln.Und sollte man einen gewissen Adjektivdurst haben, ein paar Seiten Friedell genügen und der Tank ist auf Tage hinaus wieder voll.

Françoise Sagan: Ein gewisses Lächeln. Deutsch von Helga Treichl.
Unbenannt

Die Sagan schreibt so, wie es sich anfühlt, Jules und Jim zu sehen. Es geht selbstverständlich um die Liebe, was sonst.

Georges Simenon: Maigret amüsiert sich. Deutsch von Renate Nickel. Maigret hat Urlaub und leidet daran, wie alle Workaholiker. Er geht durch die Stadt und fühlt sich unwohl, versteht nichts mit sich anzufangen und sieht irritiert auf den Alltag, in dem er nichts zu tun hat. Ein vollkommen verständlicher und nachvollziehbarer Buchanfang. Dann passiert natürlich etwas und da er Urlaub hat, umkreist er den Fall nur vom Rand des Geschehens. Eine der Romane, in denen seine Madame häufiger vorkommt, weil er nicht ins Büro geht. Das Beziehungsleben der beiden wird vollkommen nebenbei vorgestellt und dennoch könnte man Aufsätze darüber schreiben. “Madame Maigret hatte nie Durst. Aber sie trank immer mit.” Die Krimihandlung stört da eher.

Ilse Helbich: Fremde. Die Dame kenne ich durch ein Radioninterview, das ich vor Jahren auf der Autobahn gehört habe. Da fiel sie mir auf, weil sie so klar und präzise sprach und weil sie so interessante Antworten auf Fragen zum Alter gab. Und ich habe mir ihren Namen tatsächlich zwei Jahre lang gemerkt, bis mir jetzt endlich ein Buch von ihr in die Hände fiel. Sie scheint in Interviews regelmässig interessant zu sein, siehe hier und hier, dann kann man sich das besser vorstellen. Mehr zum Buch “Fremde” findet man beim Perlentaucher. Ähnlich wie beim Spätwerk von Sarah Kirsch mag ich die Ruhe in den Texten. Die Ruhe und die Abgeklärtheit, die nie in Ennui oder arrogante Verachtung kippen. Damen, die nicht mehr geschrieben haben, weil sie es mussten, sondern weil sie es konnten. Sehr schön. Manchmal ein paar Sätze, in denen sie sich ähneln, die Damen, ganz deutlich sogar. Dann geht es wieder weit auseinander, koboldhaft vergnügt die Kirsch, würdevoll gelassen die Helbich. Bei der Helbich ist der Tod in den Texten sehr präsent, bei der Kirsch spukt er nur gelegentlich durch die Szene.

Horst Evers: Für Eile fehlt mir die Zeit. Ein Badeseebuch. Es handelt nicht von Badeseen, nein, aber man kann es prima an einem Badesee in einem Rutsch durchlesen.  Das perlt. Früher gab es übrigens an Badeseen oder anderen Ausflugsorten oft eine der beiden Limos, die es sonst nie gab, nämlich Mirinda oder Sinalco. Die schmeckten etwas anders als die sonst restaurant- oder familienfeiertypische Fanta, die waren immer etwas besonders, die hatten diesen Geschmack, an den man sich nie ganz gewöhnen konnte, weil es nie genug davon gab. Das trank sich also wie eine Jahrgangslimo und in diesem Sinne ist Horst Evers die Mirinda unter den deutschen Kolumnisten.

Carl Christian Elze:  Aufzeichnungen eines albernen Menschen. Dazu hier eine schöne Rezension. Das gefiel mir sehr, das ist wunderbar schräg bis grotesk, dabei in einem betont nüchternen, geraden Ton verfasst. Wenn der Herr hier mal liest – da gehe ich auf jeden Fall in.
Der Titel sprach mich an.

Hans Christian Andersen: Märchen. Das habe ich gelesen, weil ein Kind auf meinem Arm eingeschlafen war und ich das Handy nur noch halbwegs bedienen konnte, daher kam ich im Verzeichnis der Autoren in der Ebookbibliothek nur bis A. Die Märchen von Andersen habe ich seit der Jugend nicht mehr gelesen. Ich finde sie immer noch sprachlich wunderbar eingängig, besser kann der Ton für so etwas kaum getroffen werden. Und was für schöne Geschichten. Immer wieder hatte ich beim Lesen seltsam bunte Erinnerungsfetzen an die Illustrationen der Ausgabe, die ich früher mal besessen habe. Als würde man bei einer Kamera oder bei einem Beamer am Fokusring spielen und ganz schnell drehen, man sieht das Bild unscharf, unschärfer, schärfer, halt, scharf! – und da hat man aber schon weiter gedreht, ohne das Bild recht gesehen zu haben. Ich kann mich nicht richtig erinnern,werde aber das Gefühl nicht los, mein Unterbewusstsein weiß es ganz genau. Wenn ich nicht hindenke, dann weiß ein Teil von mir doch, wie die Bilder aussahen, ich merke das. Wenn ich aber darüber nachdenke, fällt mir nichts ein. Das Gehirn ist eine komische Sache.

Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung. Ich bin ja ein großer Fan von Herrn Treichel, von dem man meiner Meinung nach alles lesen sollte, auch die Lyrik, auch die Vorlesungen. Dieser Roman ist von den Feuilletons ordentlich vermöbelt worden, z.B. weil der Herr Treichel so monothematisch schreibt, das kann ich ihm allerdings nicht übel nehmen, ich verstehe das ganz gut. Und weil der Held des Buches kein Held ist, sondern eine eher jämmerliche Figur, das scheint nicht statthaft zu sein, da darf man sich kurz über die Kritiken wundern. Ich-Erzähler müssen wohl strahlen, glänzen und siegen? Sympathisch sein? Bitte was? Humor wird Treichel allenthalben attestiert, das immerhin. Wobei er kein Humorist ist, sondern ein sehr ernster Humorinhaber, das ist etwas anderes und erzsympathisch ist es auch. Mir gefällt das erste Drittel des Buches, weiter bin ich noch nicht. Ein Mann wird die Stimme seiner Mutter nicht los, hat sie dauernd im Ohr und lässt sich deswegen therapieren. Denkt beim Therapeuten darüber nach, ob es eigentlich besser ist, ein schwerer oder ein leichter Fall zu sein, beides hat immerhin Vorteile und Nachteile, und ich könnte dieser Art des Nachdenkens seitenlang folgen, andere scheint das eher zu irritieren. Das Gute ist, dass man dieser Art des Nachdenkens im Buch tatsächlich seitenlang folgen kann. Und das mache ich dann auch.

Vorgelesen

Gecko. Es ist überhaupt eine Schande, dass ich Gecko noch nie hier erwähnt habe, Gecko ist nämlich eine tolle Sache und bei uns seit Jahren im Einsatz. Eine werbefreie Bilderbuchzeitschrift, die Kinder von vier bis etwa sieben Jahren anspricht. Hier die Seite des Magazins. Das ist bei den Söhnen sehr beliebt und die ausgelesenen Ausgaben werden nicht schlecht, die kann man immer wieder hervorkramen und noch einmal lesen.
Gecko-Beispiel

Gecko-Abo

Gecko

 

Dimiter Inkiow: Ich und meine Schwester Klara: Die schönsten Geschichten zum Vorlesen. Mit Bildern von Traudl und Walter Reiner.  Das kannte ich gar nicht, das scheint aber sonst jeder zu kennen.  Kindgerecht groteske Geschichten in der richtigen Länge für die Bettkante und vor allem Geschichten die, das ist wirklich selten, für Sohn I und auch für Sohn II passend sind und auch tatsächlich beiden gefallen. Halleluja.

Gesehen

“Petterson und Findus”. Die Kinopremiere von Sohn II, er fand den Film sehr gut. Für Kinoeinsteiger gut geeignet, da sehr ruhig. Wirklich ruhig. Himmel, ist das ruhig. So ruhig, dass man als Begleitvater prima zwischendurch die Augen zumachen kann.

Gespielt

Mau Mau. Also die Steigerung von Uno, jetzt endlich ein Spiel mit richtigen Karten ohne alberne Tierbilder darauf. Und ich musste doch tatsächlich die Regeln nachlesen.

Tollabox. Eine Test-Tollabox wurde mir freundlicherweise von der Firma zugesandt, die haben wir uns dann an unseren Zwischenstopp-Tagen in Hamburg näher angesehen. Genau genommen haben wir sie uns exakt einen Vormittag lang angesehen, mehr Zeit war gar nicht. Das hat aber ausgereicht, um die Kinder zu begeistern, die fanden den Inhalt ziemlich super. Sie haben mit dem Inhalt Eis gemacht und Spiele gespielt und eine CD gehört und ich weiß gar nicht mehr, was sie alles gemacht haben, aber sie waren damit schwer beschäftigt und so soll es ja auch sein. Charmant ist natürlich das Unerwartete, in einer Tollabox sind eben Dinge, die man nicht ausgesucht hat. Und diese Dinge kann man so verwenden, wie es der Beipackzettel vorschlägt, man kann also etwa die Wackelaugen auf beliebiges Obst oder Gemüse kleben, siehe Bildbeweis.

Mangos sehen dich an

Man kann aber auch noch kreativer werden und die Wackelaugen auf Familienfotos kleben, das steigert den Spaß dann noch einmal beträchtlich. Ich fand den Inhalt gut gemacht, gut ausgesucht und auch gut aufbereitet, das hat bei mir und den Jungs einen hervorragenden Eindruck hinterlassen. Zumal man die Freude, ein Paket zu bekommen, nicht unterschätzen darf, die Sachen in dem Paket sind automatisch erst einmal mehr wert als andere Spielsachen. Weil sie Post für die Jungs waren, weil sie ein Paket aufmachen konnten. Das ist banal, aber vollkommen verlässlich, das klappt übrigens auch, siehe oben, bei der Gecko.

Gehört

George Ezra. Ein junger Sänger, dessen Jugend man nicht hört: “Budapest”. Feine Landstraßenmusik.  Aber auch schlimmster Ohrwurm des Monats. Wenn ich den noch einmal anmache, die Familie wirft mich vermutlich raus.

Nicola Conte. Der macht loungiges Zeug mit Retrodeko, das kann man hervorragend nebenbei hören, besonders wenn es draußen glaubwürdig nach Sommer aussieht.

Sowohl George Ezra als auch Nicola Conte waren übrigens Tipps aus dem Kulturspiegel. Ungefähr einmal im Jahr kaufe ich mir einen gedruckten Spiegel um zu sehen, ob es am Ende doch wieder ein lesbares Magazin geworden ist. Aber kein Gedanke, diese beiden Tipps waren das einzige, was ich interessant fand. Es gab mal Zeiten, da habe ich den Spiegel von vorne bis hinten gelesen. Das muss mittlerweile aber schon sehr, sehr damals sein.

 

Zwischenstopp in Hamburg

Bevor wir von Nordostwestfalen nach Eiderstedt weitergefahren sind, waren wir ein paar Tage in Hamburg. Das ist immer riskant, weil man natürlich in Versuchung kommt, doch wie gewohnt zu arbeiten, sich in der Wohnung festzuwühlen oder sonstwie im Alltag zu versumpfen, aber wir haben die Gefahren recht souverän umschifft. Allmählich lernt man doch aus den Vorjahren.

Weil Ferien sind, konnte mich Sohn I bei meiner mehr oder weniger gejoggten Alsterrunde begleiten, wobei er allerdings nicht gelaufen, sondern auf dem Fahrrad gefahren ist. Mit kritischem Blick auf den keuchenden Vater, mal etwas voraus fahrend, mal etwas zurückbleibend, mal in Achten um mich herum, man kennt das von jungen Hunden. Nach einem Kilometer wollte er wissen, ob mich beim Joggen schon einmal Igel überholt hätten, es ist nicht immer ganz einfach mit Kindern.

Zwischendurch turnte er ausgiebig auf den Fitnessgeräten und Parkbänken am Alsterufer herum. Er hatte genug Zeit, es war ganz einfach, mich immer wieder einzuholen. Irgendwann sah er auf und über die Alster, turnte dann wieder weiter. Sah dann doch noch einmal hoch und etwas länger hin, als würde ihn etwas irritieren. Und stellte dann etwas fest, was vielen Menschen an der Alster ganz offensichtlich vorkommt – wofür man aber anscheinend erst einmal etwa sechs, sieben Jahre alt werden muss, um überhaupt einen Sinn dafür zu entwickeln: “Papa, das ist schön hier.”

Sohn I vor Alster

Das war sicher eine gute Stelle, um sich erstmalig von einem Landschaftsblick hinreißen zu lassen, gar keine Frage. Wie spannend aber, wo er jetzt zum ersten Mal etwas ausdrücklich hässlich finden wird. Er muss mich doch wieder einmal im Büro besuchen und sich Hammerbrook ansehen. Dann merke ich vermutlich, ob sich das Kind geschmacklich vernünftig entwickelt.

Potts Park

Unbenannt

Der Potts Park ist ein Freizeitpark in Minden, der sich ausdrücklich an kleinere Kinder richtet. Er ist entsprechend unspektakulär ausgestattet, weil man nicht viel braucht, um etwa Dreijährige zu unterhalten, denn dort fängt es etwa an. Bei etwa elf Jahren wird es wohl aufhören, nehme ich an. Mit zwölf Jahren ist man vermutlich zu cool für den Park und geht dann erst wieder hin, wenn man eigene Kinder hat. Die Gerätschaften sind teilweise uralt, der Park ist von 1969, man sieht ihm das Alter auch deutlich an. Klingt negativ?

Unbenannt

Der Park ist ein Paradies für die Söhne, unsere jährlichen Besuche dort ein Höhepunkt des Sommers, gar keine Frage. Man kann sich problemlos einen ganzen Tag amüsieren, man kann sich an die eigene Kindheit erinnern, weil Spielgeräte aus den 70ern heute noch herumstehen, als hätte man sie gestern aufgebaut. Da steht tatsächlich meine Rutsche! Vom Spielplatz nebenan! Man kann zusehen, wie die eigenen Kinder Spaß haben, der genau zu ihrem Alter passst. Man kann alles immer wieder machen, nichts kostet extra. Man kann die Kinder alles machen lassen, die meisten Attraktionen sind auch für kleine Kinder selbständig machbar. Der Potts Park ist ganz entschieden einen Ausflug wert, man muss das mit Kinderaugen sehen, nur dann versteht man es. Vielleicht versteht man es auch nur ganz, wenn die Kinder noch keinen der großen Freizeitparks kennen, das kann ich mir vorstellen. Bei uns ist das so.

Unbenannt

Wir waren an einem Montag da, der Park war leer, wir hatten alles für uns.

Unbenannt

Ich habe viele Fotos gemacht, man kann sie als nostalgisch oder fortgeschritten skurril anmutende Zeugnisse eines seltsam aus der Zeit gefallenen Parks sehen – oder mit den Kinderaugen der Söhne als Erinnerungsbilder an den besten Spielplatz ihrer Kindheit, so viel Lob muss sein.

Man muss auch nicht alles verstehen, was man dort sieht. Stahl? Was?

Unbenannt

Bedienelemente mit einem gewissen Alter.

Unbenannt

Unbenannt

Ist aber egal, es funktioniert alles.

Man muss oft selbst Hand anlegen, etwa die Schlauchboote zur Rutsche hochtragen, wie es hier die Herzdame und Sohn II tun. Sehr geile Rutsche, wie man heute sagt.

Unbenannt

Digitale Anzeigen braucht hier kein Mensch.

Unbenannt

Unbenannt

Apropos Rutsche:

Unbenannt

Unbenannt

Unbenannt

Unbenannt

Hier gibt es Wunder, die nur noch bei kleinen Kindern Erstaunen hervorrufen.

Unbenannt

Und reelle Unterhaltung. Funktionierte damals, funktioniert heute.

Unbenannt

Alles in einem seltsam antiquierten Design.

Unbenannt

Unbenannt

Unbenannt

Unbenannt

Die Kinder werden sich an einen sehr bunten Park erinnern.

Unbenannt

Die Melancholie leerer Bänke sehen sie natürlich nicht. Egal.

DSC_0058_DOFP

Unbenannt

Woanders – diesmal mit einem Foodblog, Gifs, GPS und anderem

Küche: Manchmal entdeckt man ein Foodblog und staunt dann kurz, wie hübsch so etwas sein kann. Das ging mir gerade bei Tiny Spoon so.

Familie: Das ist wirklich ziemlich albern, aber ich lachte dann doch bei dem Gif Nr. 11.  Nicht direkt nach dem Essen ansehen.

Familie: Ein Artikel über GPS-Tracker für Kinder, eine ebenso abwegig erscheinende wie logische Aufrüstungsmaßnahme für Helikopter-Eltern. Also für nahezu alle Eltern, wenn man es recht bedenkt.

Familie/Reise: Bei der Frau Gminggmangg kann man gerade über etliche Einträge hinweg bei einem etwas anderen Familienurlaub mitlesen. Und das sollte man auch.

Reise: Wo ist das Meer? Ich kann die Situation nachvollziehen, ich wohne in einer deutlich abschüssigen Straße und werde dauernd von Touristen gefragt, ob die Alster da oben oder da unten liegt.

Familie: Das Nuf über Aufzughonks.

Familie: Was man als Vater so erfindet, wenn man genug Kinder hat. Ich würde das kaufen, versteht sich.

Familie: Eine Meldung zum Betreuungsgeld, die niemanden überraschen dürfte.

Gesellschaft: So geht Spaß in Deutschland.

Gesellschaft: Oliver Driesen war auf Borkum.

Feuilleton: Ein Interview mit dem Kinderbuchautor Andreas Steinhöfel.

Feuilleton: In der FAZ wird Helene Fischer erklärt.

Hamburg: Ein Artikel zur Sharing Economy in dieser Stadt.

 

Zum Willem

Unbenannt
 

Wenn man sich in Nordostwestfalen doch einmal zu einem Ausflug aufraffen kann, dann fährt man z.B. zum Willem, wie man hier sagt. Der Willem ist ein weithin sichtbares Kaiser-Wilhelm-Denkmal im Stil des späten Tschingbumm, eine monumentale Anlage, die man verblüffend weit sehen kann. Das ist auch ihr Hauptzweck.

 
Unbenannt

Das Denkmal steht an den ersten Hängen des Wiehengebirges, das kurz hinter Minden plötzlich aus dem Boden wächst, ohne jede Vorwarnung durch irgendein sanftes Hügelland. Als würde man aus der norddeutschen Tiefebene heraus gegen eine Wand laufen.

Zum Willem kann man mit dem Auto fahren, zu seinen Füßen ist ein Parkplatz. Die Denkmalsgaststätte dort ist schon lange geschlossen, der Kiosk auch, die ganze Anlage rund um den Parkplatz ist nicht gerade einladend, um es noch freundlich auszudrücken. Dennoch werben Tourismusmanager für die Gegend tapfer mit einem Poster des Willems auf dem der Slogan “Endlich… Urlaub” die Überschrift bildet. Nun ja. Auch als Texter muss man eben irgendwas liefern, ich kenne das Problem ganz gut.

Unbenannt

Unbenannt

Unbenannt

Unbenannt

Schilder künden oben den kompletten Umbau der Anlage an, wenn das so durchgezogen wird, dann gibt es dort bald ein ziemlich spektakuläres Ausflugslokal direkt unterm Denkmal, das sehen wir uns dann sicher wieder an. Man hat aber anscheinend gerade erst angefangen, dort herumzubuddeln.

Unbenannt

Unbenannt

Kinder finden den Willem ganz interessant, weil man an seinem Podest herumklettern kann – mehr aber auch nicht. Einen Spielplatz oder sonst eine kinderkompatible Einrichtung gibt es nicht. Immerhin stehen auf dem Parkplatz oft ein Eiswagen und eine Wurstbude, das hilft etwas. Der Ausblick in die Tiefebene, bei dem die Erwachsenen unwillkürlich kurz verharren und andächtig Anerkennendes murmeln, der interessiert die Kinder aber nicht ansatzweise. Das fiel mir schon ein paar Mal auf: Kinder haben überhaupt keinen Sinn für diese Ausblick-Sache, da reicht immer eine Sekunde mit der lapidaren Feststellung: “ja, da kann man runtergucken”. Na und? Das ist den Kindern völlig wurscht. Viel spannender ist, ob sie selbst irgendwo raufkönnen.

Unbenannt

Und rauf konnten sie dann auch noch, denn hinterm Denkmal starten mehrere Wanderwege durch den Wald, da geht es für unsere Verhältnisse schon tatsächlich gebirgig zu. Aber dieses total befremdliche Konzept, dass Wege auch bergauf führen können, das müssen wir mit den Söhnen des Flachlandes vor dem Bergurlaub in Tirol im nächsten Jahr noch einmal gründlich besprechen. Ein Kinderstreik nach hundert Metern, weil es noch nicht wieder bergab geht, verhilft einem jedenfalls nicht zu Wanderfreuden, daran ist zu arbeiten.

Unbenannt

Unbenannt

Viel weiter als bis zur ersten Schutzhütte konnten wir auf diese Art nicht kommen, dort immerhin fanden wir, liebevoll ins Holz der Sitzbank geritzt, die Vornamen zweier ehemaliger Mitschüler der Herzdame.

Unbenannt

Mit der Jahresangabe von damals und Herzchen, wirklich sehr romantisch. Da standen die Namen so mancher Liebespaare, der Vorname der Herzdame war aber nicht zu finden. Bei dem Schulausflug damals war wohl gerade niemand an Schnitzarbeiten für sie interessiert. Und ich hatte an dem Tag leider kein Messer dabei, sonst hätte ich das selbstverständlich sofort nachgeholt. Auch das wird vorgemerkt, versteht sich.

Aber habe ich überhaupt schon jemals einen Namen irgendwo ins Holz geschnitzt? Ich kann mich nicht erinnern. Ist das schwer? Mir fällt nur ein, dass ich mal zu Schulzeiten mit einem Lötkolben irgendwelche Frühstücksbrettchen bearbeitet habe, das war recht einfach, glaube ich,das konnte sogar ich. Beim nächsten Ausflug zur Schutzhütte nehme ich dann wohl besser einen Lötkolben mit. Immer die effizientere Lösung wählen, versteht sich.

 

Backen mit der Herzdame: Waldmeisterweingummitorte

Bis wir Kinder bekommen haben, war die Küche hier nur mein Revier, weil das Kochen in dieser Ehe fast ausschließlich mein Job ist. Gebacken wurde hier gar nichts, denn Backen mag ich nicht und die Herzdame hatte sich damit nie beschäftigt.

Waldmeisterweingummitorte

Erst durch die zahlreichen Kindergeburtstage, Kinderfeste, Kitaveranstaltungen und ähnlichen Erscheinungen ergab sich die Notwendigkeit, dauernd irgendwo Kuchen zu liefern, das war alternativlos. Man kann anscheinend keine Kinder großziehen, ohne dabei dauernd Kuchen zu backen, das ist hier so, Gegenwehr zwecklos. Dieses Backen hat die Herzdame übernommen – zunächst im mehr oder weniger passiv-aggressiven Widerstand nur mit Backmischungen und Halbfertigprodukten, dann nach und nach mit Rezepten aus ihrer Familie, schließlich sogar mit Rezeptheften, Foodblogs usw. Und weil dabei jetzt gelegentlich Ergebnisse herauskommen wie die nachfolgende Waldmeisterweingummitorte, mit der man auf jedem Kindergeburtstag wirklich Eindruck macht, werden hier in loser Folge ein paar Rezepte vorgestellt.

Woher dieses spezielle Rezept genau stammt, das lässt sich nicht mehr feststellen, es handelt sich um eine uralte Kopie aus irgendeiner Zeitschrift mit sehr viel Herzchen am Rand, mehr weiß man nicht. Es war aber damals die Lieblingskindergeburtstagstorte der Herzdame, die musste ihre Mutter wieder und wieder für sie machen. History repeating, das wird bei uns jetzt wohl auch so. Man braucht:

150 Gramm Löffelbiskuit
100 Gramm Butter
3 Blatt weiße Gelatine
1 Päckchen Götterspeise Waldmeister
100 Gramm Zucker
200 Gramm Frischkäse
2 Päckchen Vanillinzucker
3 EL Zitronensaft
Etwas grüne Speisefarbe
¼ Liter Sahne
Weingummi, viel

Nicht vergessen: Backen ohne Schürze ist ungültig, alte Regel.

Schürze

Biskuit

Die Löffelbiskuits in einen Gefrierbeutel und am besten auch noch in ein Handtuch einschlagen, es krümelt gleich nämlich wie Sau. Das verschlossene Paket vom Nachwuchs zertrümmern lassen. Ja, macht es kaputt, richtig kaputt, wir wollen das niedergemacht haben, plattgewalzt, zerstört. Die Kinder zehn Minuten gewähren lassen, das sollte reichen.

Biskuit

Biskuitpäckchen

Biskuitgemetzel

Die Butter weich werden lassen und mit den Biskutitrümmern gründlich verrühren, das kann ein williges Kind natürlich auch mit der Hand oder mit einem Gerät machen.

Biskuit und Butter

Rührgerät

Biskuittrümmerpampe in eine Tortenform füllen und von den Kindern sorgfältig andrücken lassen. Feste. Dann kalt stellen.

Biskuit in Tortenform

Die Gelatine in kaltem Wasser einweichen.

Herzdame hinter Gelatine

Götterspeise in ¼ Liter Wasser auflösen und 10 Minuten quellen lassen.

Götterspeise

50 Gramm Zucker einrühren, aufkochen, abkühlen lassen. Gelatine ausdrücken lassen und dann in die Götterspeise mischen.

Gelatine

Die Zitrone auspressen lassen. Wir machen das ohne Küchengerät, nichts als Kraft und Physik, auch wenn das vehementen körperlichen Einsatz erfordert. Kinder können sich ruhig einmal anstrengen. Kurz nach diesem Bild stand Sohn II übrigens auf der Zitronenpresse, die Zeit bis zum Absturz reichte aber nicht für ein gelungenes Foto.

Zitronenpresse

Den Frischkäse mit dem übrigen Zucker, dem Vanillinzucker und drei Esslöffeln Zitronensaft verrühren.

Grüne Speisefarbe, die in unserem kleinen Multikultiviertel natürlich vom Inder kommt, in die Götterspeise einrühren.

SpeisefarbeKurz bevor das Zeug fest wird, die Käsecreme mit einem Schneebesen unterrühren. Es kann durchaus eine halbe Stunde oder länger dauern, bis das Festwerden beginnt. Sahne schlagen und auch unterrühren.

Sahne

Dann die gesamte Masse, die jetzt auffällige Ähnlichkeit mit der Abdruckmasse beim Zahnarzt haben sollte, auf dem Tortenboden verteilen und glatt streichen.

Grüne Pampe

Mindestens 5 Stunden im Kühlschrank fest werden lassen. Dabei unbedingt die Kinder im Blick behalten, damit sie nicht per Fingerdruck prüfen, ob die Torte schon fest ist, dann hat man nämlich Spuren in der Torte, verdammt nochmal, das stört bei eventuell fälligen Fotos ganz ungemein und gefährdet den Familienfrieden.

Torte

Weingummi beliebiger Sorte von den Kindern nach Farben und Formen vorschulmäßig sortieren lassen.

Weingummi

Weingummi

Ansprechendes Muster auf die Torte legen – fertig.

Tortendeko

Das schmeckt jedem Kind, ist immer eine Überraschung und man ist garantiert nicht schon wieder der zehnte Apfelkuchenlieferant beim Sommerfest. Auch was wert!

Waldmeisterweingummitorte

Die Zubereitungszeit wird vom Rezept mit anderthalb Stunden angegeben, wir haben deutlich länger gebraucht, weil man unter Kinderbeteiligung die Küche wirklich unfassbar einsaut, das wirkt auf den Fotos seltsam, wenn man nicht zwischendurch aufräumt. Es ist überhaupt nicht zu fassen, was Backen mit Kindern in Küchen anrichtet. Aber Spaß macht es auch, doch, doch.

So Kugeln

Ich sitze am Nachmittag an meinem Schreibtisch unterm Dach im Elternhaus der Herzdame und tippe, die Söhne kommen aufgeregt angelaufen und erzählen, dass an der Straße so seltsame Kugeln liegen, sehr viele davon sogar. In verschiedenen Farben! Sie möchten bitte Eimer haben, um sie aufzusammeln. So Kugeln? Was denn für Kugeln?

Das wissen sie nicht, so bunte Kugeln eben. Also gehe ich mit und sehe mir die Kugeln an: Mirabellen aus dem Garten nebenan. Die kennen die Stadtkinder nicht, es wurde wohl höchste Zeit, dass wir wieder aufs Land gefahren sind, ihre Kenntnisse müssen dringend ein wenig erweitert werden. “Ah, de Hamborger Lüüd” höre ich neben mir, als ich in den Baum hinaufsehe, das höre ich hier immer, wenn ich mit der Herzdame und den Söhnen die Dorfstraße entlang gehe. “De Hamborger Lüüd”, man mag sich gar nicht vorstellen, dass wir hier die Stadt repräsentieren, am Ende müssen wir uns deswegen noch anständig benehmen.

Zwei ältere Damen stehen da unterm Mirabellenbaum und versuchen, ein paar Früchte zu ernten. Das klappt aber nicht so gut, denn die beiden Damen sind recht klein. Sie ziehen energisch an den Ästen, schütteln sie und machen lange Arme, das Ergebnis ihrer Bemühungen ist dennoch überschaubar. Wir werden sofort rekrutiert, wir werden auf der Stelle Mirabellenerntehelfer, die Jungs sind begeistert.

Mirabellenernte

Die Damen holen eine kleine Leiter, die Söhne holen Eimer und hängen kurz darauf im Baum und pflücken und pflücken. Die beiden Damen wirken etwas marypoppinshaft, wie sie da so unterm Baum stehen, nach oben äugen und komplett widersprüchliche Anweisungen geben. Mehr nach links, mehr nach rechts, das müsst ihr anders machen, nein, so wird das doch nichts, ihr müsst mehr hier rüber, mehr nach da hinten. Zwischendurch fällt einer der Damen ein, dass sie eher leicht und etwas provisorisch bekleidet ist und zudem noch riesige Lockenwickler im Haar hat, das mit der Mirabellenernte hat sich in diesem Jahr anscheinend eher spontan ergeben. Eigentlich wollten die beiden wohl nur ganz kurz nach dem Baum sehen. “Kann ich mich so überhaupt draußen sehen lassen?” fragt sie die andere Dame, rafft ihren Morgenmantel zusammen und fasst sich besorgt ins aufgewickelte Haar.

Die andere antwortet nach kurzem Blick auf Kleidung und Frisur: “Von deinem Anblick geht eh keiner mehr tot. Das ist völlig egal.”

Ich mag die Umgangsformen hier sehr. Es dauert nur ein paar Jahre, bis man sich daran gewöhnt.

Und jetzt…

Die Herzdame hat, wie hier berichtet, tausend Dinge im Kopf, die man in den Ferien endlich machen könnte, also muss man sie, wenn man Ruhe haben möchte, und das möchte ich einigermaßen dringend, irgendwie auf ein Abstellgleis befördern. Das geht am einfachsten, in dem wir in ihr Heimatdorf fahren. Denn die Erfahrung zeigt: Nordostwestfalen in Gruppensituationen unternehmen nichts, weil sie sich gemeinsam zu nichts entscheiden können. Dieses Volk hier ist sowohl willensstark als auch entscheidungsschwach, eine eigentümliche, faszinierende Mischung. Der Nordostwestfale als solcher kommuniziert auch nicht übermäßig gerne über seine felsenfesten Absichten, weswegen Gespräche zur Tagesplanung am frühen Morgen hier etwa so verlaufen:

Die Herzdame: “Und jetzt…”

Schwiegermutter: “Man könnte ja.”

Die Herzdame: “Oder aber.”

Schwiegermutter: “Jo.”

Wie man unschwer erkennt, folgt darauf keine direkte Aktion, nein, darauf folgt eher längeres Schweigen, in dessen Verlauf alle etwas unzufrieden werden, weil ja wieder niemand etwas entscheidet oder gar macht. Jeder trifft insgeheim gewisse Annahmen über die Vorhaben der anderen. Einen Austausch lehnt man aber eher ab, man könnte dabei immerhin in Gefahr geraten, den eigenen Plan ändern zu müssen. Jeder schweigt gegen die mutmaßlich abwegigen Ideen der anderen an. Man kann sich ganz gut entspannen dabei. Stunden und Stunden vergehen, es passiert rein gar nichts. Im Grunde stellt man sich Ferien genau so vor, ich habe mich damit arrangiert. Ich kann das sogar mitspielen, man lernt ja in Beziehungen auch immer etwas. “Und jetzt?” “Jo.”

Heute morgen wäre die Familie fast zum Einkaufen gefahren, das war wirklich knapp, aber gerade noch rechtzeitig fiel jemandem ein, dass niemand weiß, was man einkaufen soll. Und da niemand Lust hatte, dazu etwas zu sagen, blieben alle sitzen und da sitzen sie immer noch. Es ist heiß im Garten, man sitzt im Schatten, das kann so bleiben.

Ich fühle mich wieder in meiner Grundannahme bestärkt, dass die Gegend hier damals nur besiedelt wurde, weil irgendein versprengter Trupp der Westfalen bei der Völkerwanderung eines Morgens aufwachte und sich dann einfach nicht entscheiden konnte, in welche Richtung man denn mal weiterziehen könnte. Sie standen da so herum und niemand machte den ersten Schritt. Und sie standen und standen. Nach ein paar Wochen wüsten Schmollens ob der Unentschlossenheit der jeweils anderen dachte der erste Westfale, ach, wenn ich hier schon so herumlungere, rode ich doch schnell ein wenig Wald und baue mir ein Haus. Was man eben so macht, wenn man sich als Germane langweilt. Die anderen kamen dann nach und nach auf ähnliche Gedanken. Irgendwann sah das Ganze aus wie ein Dorf. Und auf diesen Grundstücken, in diesen Dörfern rings um den ehemaligen Rastplatz unweit der Weser leben die Familien noch heute. Die Weltgeschichte wogte jahrhundertelang hin und her, Grenzen wurden verschoben, Regierungen kamen und gingen, der Nordostwestfale blieb.  Ab und zu stehen die Nachfahren der ersten Siedler am Ackerrand und sehen mal in die eine, dann in die andere Richtung. Dann schütteln sie wieder den Kopf und machen Abendessen.

“Was essen wir denn heute?”

“Jo.”

Ich glaube, wir bleiben noch ein paar Tage.

Landstraße

Der Krieg, das Wir und das Kind

St. Nikolai

“Was wollt ihr denn Schönes machen?” habe ich die Kinder gefragt und Sohn II wollte die Kirche Sankt Nikolai besuchen und aus der Nähe ansehen. Die Kirche, die keine mehr ist, die Hamburger Gedächtniskirche. Zerstört im Zweiten Weltkrieg, nicht wieder aufgebaut, mühsam in Ruinen erhalten, ein Denkmal. Die hatte er schon ein paar Mal aus der U-Bahn gesehen, die ließ ihm keine Ruhe.

Sohn II wird bald 5, nach meinen Erfahrungen ist es nicht unüblich, dass Kinder etwa in dem Alter nach dem Krieg fragen. Nach dem Krieg an sich, nach dem letzten Krieg in Deutschland, nach dem Krieg, den sie gerade im Radio, im Fernsehen, im Internet zufällig mitbekommen haben, in Israel, in der Ukraine, in Syrien. Warum? Und wie genau? Sterben die in echt? Alle? Auch die Kinder? Was ist mit den Kindern, wenn die Eltern sterben? Wann ist hier wieder Krieg? Hast du Krieg erlebt?

Vielleicht liegt es an den Reaktionen der Erwachsenen, vielleicht liegt es an der Art, wie die Kinder das Wort erwähnt hören, es ist jedem Kind klar, dass Krieg ein Monsterwort ist, ein Begriff für das Grauen schlechthin. Nicht irgendein Wort, nicht irgendein Umstand. Was sie nicht wissen, ist die Art, in der das Wort einen Bezug zu ihnen haben könnte. Das Grauen ist in der Welt, aber wie weit ist es weg in Raum und Zeit? Beruhigend weit weg?

Viele Eltern scheinen das herstellen zu wollen, dieses Gefühl, dass die Welt immer nur am anderen Ende untergeht. In der Annahme, die Kinder seien nicht alt genug für die Erkenntnis der Wahrheit. Ich gehe davon aus, dass ein Kind, das fragt, eine ehrliche Antwort verdient hat. Es gibt Elend in der Welt, es gibt Krankheit, Armut, Krieg, nichts davon ist wirklich weit weg. Die Armen liegen nachts im ganz wörtlichen Sinne vor unserer Haustür, das wissen die Jungs, das sehen sie. Die Kranken sind neben uns, die Opfer des Krieges im Stadtteil. Vielleicht ist die Dame, die gerade neben uns Obst kauft und seltsam entstellt ist, aus Syrien. Ich leugne so etwas nicht, ich wüsste auch keinen geeigneten Zeitpunkt, zu dem man den Vorhang dann doch noch heben sollte. In zwei Jahren, in drei Jahren, wann denn? “Und übrigens, mein Kind, ist die Welt ganz anders, gar nicht so toll…”

Nein, das geht doch nicht. Ich beginne gleich mit der Wahrheit, ich reduziere nur so kindgerecht wie ich kann. Man kann sagen, dass es hier Krieg gab, dass es jetzt anderswo Krieg gibt, man sollte aber ganz sicher bei Fünfjährigen nicht gerade mit den grauenvollsten Aspekten und Details beginnen.

Übrigens verstehen Kinder Krieg, den Vorgang können sie nachvollziehen. Kinder sind keine Friedensengel, sie sind oft genug selber Krieger und sie können sich ganz gut ausmalen, was passiert, wenn man genug funktionierende Waffen zur Verfügung hat und wütend ist, sehr, sehr wütend – und wenn dann keine Erzieherin rettend eingreift und energisch erklärt, dass es jetzt aber mal gut ist.

Die Gedächtniskirche ist jedenfalls so etwas von kaputt, die Kirche ist gar nicht mehr da. Da stehen Reste von Außenmauern, zumindest teilweise, da steht der Turm, der ist gerade komplett eingerüstet. “Wird er wieder aufgebaut?” Nein, er wird nur erhalten, das ist wohl gar nicht so einfach. “Starben hier Menschen bei dem Angriff?” Das beantwortet er sich dann murmelnd selber, denn wenn etwas so Großes wie die Kirche zerschossen wird und zusammenfällt – natürlich.

“Die Bomben wurden aus Ninjaflugzeugen geworfen. Nachts. Sehr viele. Die Menschen sind in so Bunker gerannt.” So erklärt Sohn I das seinem kleinen Bruder, während er über die Ruinen klettert, die er übrigens schön findet. Er redet noch weiter und mir wird beim Zuhören klar, dass sie in der Kita oder in der Vorschule schon Wissen gesammelt haben. Die Kinder haben zusammengetragen, was sie über den Krieg wissen, was sie im Fernsehen gesehen haben, was die Eltern erzählt haben, die Großeltern, sie haben das diskutiert und sich ein Bild gemacht. So etwas wird dann den Eltern nicht erzählt, das merkt man nur zufällig.

“Das sieht gut aus, so wie das hier noch steht.” Sohn I sieht sich um und zeigt auf die Trümmer. Ich zeige nach oben, wo man den Himmel sieht und erkläre, dass da das Kirchendach war. Ich zeige ihnen die Bilder auf den Schautafeln, die zeigen, wie das hier einmal ausgesehen hat. Sohn II sieht zum Turm hinauf und lässt sich die Inschriften auf den Denkmälern in allen Sprachen vorlesen, Gebet für den Frieden, Prayer for peace und so weiter. “Hier ist viel mit Gebet und so”, erklärt Sohn I, “aber nicht, weil es eine Kirche ist. Sondern weil es eine war.” Dann prüft er, wie gut man in den Ruinen klettern kann. Gegenüber wird gebaut, es sieht ein wenig so aus, als würde man heute noch Trümmer wegräumen.

Hopfenmarkt

Die Glocke im Turm schlägt und beide Kinder sind überrascht, mit einer Glocke haben sie nicht gerechnet, schon gar nicht mit einer,die so auffallend schön klingt. Das freut sie, denn von dem etwas unheimlichen Gedenkding einmal abgesehen, hat dieser Kirchturm also noch einen erfreulichen Sinn, das finden sie toll.

“Wer hat den Krieg gewonnen?” fragt Sohn II, “wir?”
Und das ist dann der Zeitpunkt, an dem man mal eben einen Abriss der deutschen Geschichte im Zwanzigsten Jahrhundert herunterleiern müsste, was man natürlich nicht kann, zumindest nicht ad usum delphini. Man ist nie genug vorbereitet, um den Fragen von Fünfjährigen standzuhalten, das kann man vergessen, Aber was man doch sagen kann, weil es nun einmal die Wahrheit ist, an der es nichts zu rütteln gibt, und weil alles andere eine Lüge wäre: dass wir nicht gewonnen haben. Dass die anderen gewonnen haben und dass das auch noch gut so war. Weil das, was die Deutschen damals gemacht haben, nicht gut war, das waren nicht die edlen Ritter, im Gegenteil. Das ist für ein Kind überraschend und schwer zu verstehen, aber das Wir, das große, glückliche Wir, das vor ein paar Tagen gerade noch freudestrahlend Fußballweltmeister geworden ist, dieses Wir hat eben eine lange Geschichte und besteht aus Menschen, die mal schuldig waren und mal nicht. Das Wir besteht aus ganz normalen Menschen, zu allem fähig. Das Wir steht nicht unbedingt immer für die Krone der Schöpfung. Es wäre schön, wenn “wir” auch in der Vergangenheit alles so heiter und sportlich erreicht hätten, wie diesen WM-Titel da, aber so ist es nun einmal nicht. Das ist nicht einfach und auch überraschend, aber der Sohn denkt nach und man soll das Nachdenken der Fünfjährigen niemals unterschätzen. Das mit dem “ mal Schuld haben und mal nicht”, das findet er dann auch vollkommen einleuchtend, das kennt er nämlich ganz gut. Und irgendwo muss Verständnis eben anfangen.

“Gibt es hier wieder Krieg? Wann? Kann den immer irgendwer anfangen?”

Das ist die naheliegende Frage, die sich ihm aufdrängt und ich erkläre ihm, dass es im Moment nicht so aussieht und wir großes Glück mit diesem Land und dieser Zeit haben. Dass es aber andere Kriege gibt. Jetzt gerade, er weiß es ohnehin, was soll ich da verschweigen oder vertuschen. Ich erkläre auch, dass es auf jeden ankommt, dass es immer auch eine Entscheidung der Einzelnen ist, ob etwas zum Krieg führt. Das ist ihm klar, da muss ich gar nicht weiter reden. “Man muss in der Mannschaft der lieben Menschen sein” sagt er und nickt, das kennt er nämlich auch aus dem Kindergarten, “das ist wichtig. Wenn nur genug in der Mannschaft der lieben Menschen sind, dann gibt es auch keinen Krieg.” Und das ist prinzipiell natürlich nicht falsch. Man könnte es ebenso gut bibliotheksfüllend ausformulieren, aber egal, es passt schon. Dann will er ein Eis und sieht sich um,ob in den Trümmern nicht vielleicht ein Kiosk zu finden ist. Kinder neigen nicht zum Pathos und sind oft nur sekundenlang von etwas beeindruckt.

Friedensforschung für Anfänger, so kann man also auch einen Ferientag verbringen.