Glad to be unhappy

Man wird gerade überall erschlagen von der Black-Friday-Werbung, und ich stelle ebenso zufrieden wie renitent fest, dass ich nichts brauche oder will, was natürlich sehr befreiend ist und ein wenig wohl auch Glückssache. Ich muss gerade keinen Preisen hinterherjagen, ich muss nichts im Auge behalten, nichts suchen, ich muss nicht einmal Geschenke besorgen, es ist überaus angenehm so.

Der große Werbedruck drängt mich also eher zu: Dann kaufe ich eben nichts, das habt ihr jetzt davon. Man wehrt sich, wo man noch kann, wie jämmerlich es auch ausfällt.

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Ansonsten Home-Office, sehr viel Arbeit, dazu Deadlines im freiberuflichen Teil des Tages, es ist alles etwas eng bemessen. Daneben weitere Krankmeldungen, auch aus der Schule, auch als Privatnachricht aus anderen Kreisen. Ungefähr jeder zweite Kontakt ist krank, war gerade krank oder wird noch im Laufe des Tages krank, man hört es schon.

Immerhin dabei ergiebiger Regen auf den Dachfenstern, beste und beruhigende Arbeitsstimmung also, vor allem mit der richtigen Musik. Und immerhin gehöre ich noch zur Bevölkerungshälfte ohne Infekt, das mal jeden Tag feiern. Ich habe Schulkinder, meine Chancen sind auf Dauer denkbar gering.

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Ich zitiere aus einem Handelsblatt-Artikel über Javier Milei, gerade gewählt in Argentinien: „Seine emotional engste Verbindung hatte er zeitlebens zu seinem Hund Conan, über dessen Tod ihn nun vier geklonte Welpen trösten, die nach libertären Ökonomen benannt sind.

Und dennoch soll man immer weiter die Nachrichten ernst nehmen. Es ist doch allmählich etwas herausfordernd, finden Sie nicht auch? Leben wir in einer satirisch gefärbten Dystopie, und wie konnte es denn bloß soweit kommen?

Bei mir um die Ecke bringt ein Polizist Grundschülern Verkehrsregeln bei, er weist dabei einen Passanten darauf hin, dass er bei Rot über die Straße geht – und wird daraufhin von ihm angegriffen (Meldung hier). Werden alle immer schneller verrückt oder kommt es einem nur so vor, ich kann es kaum noch abwägen und verbleibe einigermaßen ratlos.

Zumal es doch richtig wäre, sich bei der Feststellung, dass alle verrückt werden, stets zu fragen, ob „alle“ nicht fast zwingend auch den Fragenden inkludiert, denn wer ist man, sich über die Gesellschaft zu erheben.

Was aber heißt das alles nun wirklich? Schon gut, ich erwarte keine Antworten.

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Im Tagesbild sehen Sie, wie Weihnachten auf LKW-Anhängern in die Hamburger Innenstadt gekarrt wird, man kann gut erkennen, dass es groß ausfällt.

Eine riesige rote Christbaumkugel auf einem LKW-Anhänger

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Der Himmel über Hamburg

Es gibt eine neue Meldung zur Lage am Hauptbahnhof, zu den Maßnahmen, die von der Stadt ergriffen werden sollen, erst einmal ein runder Tisch, meine Güte. Man initiiert also Spitzengespräche, und ich hätte jetzt gedacht, diese zuständigen Leute würden aus beruflichen Gründen ohnehin miteinander reden, und zwar öfter, wenn nicht sogar dauernd.

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Beim diesmal etwas lustlosen Laubharken im Garten höre ich weiter die Deutschstunde von Siegfried Lenz. Ich halte es dabei für eine schöne Vorstellung, dass das ganze Werk gemäß der Erzählung mit Füller in Schulhefte geschrieben worden ist, sogar noch mit Tinte aus Fässern, es wird mehrfach erwähnt. Es ist ein dickes Buch, es wird also ein hoher Stapel Hefte gewesen sein, und ich stelle mir die langsame Handarbeit über viele Wochen heute sicher viel deutlicher vor, als ich es bei der ersten Lektüre des Buches getan habe. Ich habe in den letzten Jahren mehr mit der Hand geschrieben als in meiner Schulzeit, und mit bedeutend mehr Vergnügen dabei. Fast alles hier entsteht aus handschriftlichen Notizen, die aber meist nur aus Stichworten bestehen, seltener aus ganzen Sätzen.

Stelle ich mir alle Jahrgänge dieses Blogs handgeschrieben in Schulheften vor, ist es eine regalbrettfüllende Angelegenheit, ausreichend für mindestens ein selbstvergebenes Fleißsternchen. Heute wie damals aber würde Lehrpersonal zuverlässig überall an den Rand schreiben: „Das kann man kaum lesen!“

Die Söhne kennen das, man vererbt halt auch oder vor allem den Unfug.

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Gelesen: Peter Stamm: Der Lauf der Dinge. Seine sämtlichen Erzählungen. Es war ein verregneter, extragrauer Sonntag, da passte das gerade gut hinein. Viele angenehm kurze Texte ohne jede Politik, wenn Sie so etwas vielleicht einmal suchen … manchmal hat man doch nicht den Atem für den Konsum vielseitiger Erzählungen mit zahlreichen Verwicklungen und Ebenen, manchmal liest man auch morgens schon von Wahlen in Argentinien und ist dann für den Rest der Woche mit Nachrichten bedient und braucht andere Inhalte.

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Die Krankenquote im Umfeld steigt und steigt ansonsten, die halbe Stadt liegt mittlerweile flach, die andere Hälfte pflegt vermutlich, holt und bringt Medikamente. Ich will am Freitag bei einem Arzt etwas abholen, an der Tür der Praxis ein Schild: Wegen Grippe geschlossen.

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Die Tagesbilder werden allmählich knapp, ich mache zu wenig neue Fotos, das liegt am Monat, an der Dunkelheit und am Regen. Nur noch wenige Bilder habe ich auf Vorrat, und am Ende muss ich dann wie ein Tourist zu den Postkartenstellen dieser Stadt, um Motive nachlegen zu können. Peinlich.

Hier noch einmal die Alster, drüben, auf der anderen Seite, nicht bei uns im kleinen Bahnhofsviertel. Die Landlebenbloggerin hatte sich neulich einmal gefragt, wie denn die Menschen in den großen Städten bloß mit so wenig Himmel auskommen, aber hier an Alster und Elbe kommen wir schon klar, das wollte ich noch eben belegen.

Blick über die Alster von der Harvestehuder Seite aus, Richtung Sankt Georg. Im Vordergrund leere Stege auf dem Wasser.

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Finale

Im Hauptbahnhof wird das Finale des Jahres vorbereitet, die ganz große Weihnachtsdeko wird nun also montiert, diese gigantischen und großstadtgemäßen Kugeln und Figuren etc., die in der Wandelhalle wieder unter der Decke hängen werden. Die Riesenteile, bei denen ich immer denke, wenn die mal runterfallen, was einen bei dem an allen Ecken kaum noch zu übersehenden Verfall des Landes und der Stadt und bei dem allgemeinen Pessimismus längst nicht mehr wundern würde, und wenn die dabei jemanden erschlagen, das ist dann zumindest ein origineller Tod. Geradezu filmtauglich wird das sein.

Aber gut, das ist kein besonders besinnlicher Gedanke, pardon. Der innere Grinch ist stark in mir in diesem Jahr, ich halte mich nur mühsam zurück und garantiere im weiteren Verlauf für nichts. Nie schienen mir Besinnlichkeitsmarketing, Weltlage und eigene Verfassung inkompatibler.

Diese Weihnachtsdeko jedenfalls, vor und unter der sich die Touristinnen in Kürze wieder scharenweise grinsekatzenlustig und selfiehalber um ihre Smartphones drängen werden, um dann Bilder in die Kleinstädte und die Dörfer, in den Speckgürtel und auch ins Ausland zu schicken, guck mal, guck mal, wir in Hamburg, wir voller Glühwein, wir voller Bratwurst, wir mit Geschenken, sie hängt also schon, diese Deko, sie wird nur noch nicht beleuchtet. Es ist eine Frage von wenigen Tagen, vielleicht glimmt es dort aber auch schon, wenn dieser Text erscheint.

Die Wohltätigkeitsorganisation beginnt währenddessen mit dem Verkauf der Weihnachtsteddys in der Wandelhalle, und es ist vielleicht nur der Zufall der Minute, aber als ich da vorbeigehe, haben sie am Stand sogar reichlich Kundinnen. Auch mal etwas Nettes erwähnen, so ist es ja nicht, es wird gespendet.

Und der Weihnachtsmarkt bei uns um die Ecke, er wurde auch schon eröffnet. Glühweingeruch wabert wieder über die Straße und die ersten Kinder bremsen im Vorbeigehen ihre Eltern, weil sie die Standardsüßigkeiten der Saison sehen oder riechen, darf ich, darf ich.

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In der Bücherei gewesen, in die ich nun wieder deutlich öfter gehe, mehr Bücher von Alice Munro geholt. Ich habe über Alice Munro auch einiges nachgelesen, anlässlich des Nobelpreises ist damals immerhin viel über sie geschrieben worden, man wird also fündig. Nicht alles kann ich anhand der Geschichten, die ich lese, auch nachvollziehen, aber ich finde es doch unterhaltsam und spannend, das versuchsweise zusammenzubringen.

Ich bin allerdings kein intellektueller, sinnsuchender Leser, ich will meist nur Geschichten erzählt bekommen, schlimmer noch, Bilder eigentlich nur, und ich deute beim Lesen wenig und betrachte Literatur selten als Suchspiel und Entschlüsselungsaufgabe. Ich bin eher ein Leser von sehr geringem Verstand, deswegen schreibe ich auch keine Rezensionen, das ist ein ehrbares Handwerk für andere Leute. Die eigenen Grenzen auch stets beachten, mind the gap.

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Im Tagesbild die ansprechende Novemberstimmung an der Billerhuder Insel, auf der unser Garten ist. Hinter den Bäumen links liegt das Tierheim, von dort hört man, wenn der Wind passend steht, zu jeder Tageszeit den Chor der Gefangenen.

Blick über die Bille an der Billerhuder Insel, Boote an Stegen, grauer Himmel, Herbstlaub an den bäumen

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Die Beschaffenheit der Steine in dieser Stadt

In einem der kleinen Läden im Hauptbahnhof, im nicht eben attraktiven unterirdischen Bereich, steht ein Verkäufer in einem kleinen Laden. Er sieht aus wie der junge Frank Zappa, er sieht sogar ziemlich überzeugend so aus, auch seine Kleidung wirkt seltsam zeitgereist, und ich habe dann für den Rest des Tages einen unauslöschlichen Bobby-Brown-Ohrwurm.


Auch so ein Text, den rechte Bewegungen überall auf der Welt verbieten würden, wenn sie denn nur könnten, und sie können es sicher hier und da, haben es immer irgendwo gekonnt. Der Song ist selbstvertändlich auch nicht in US-Radios zu hören.

Der Verkäufer jedenfalls lehnt an seinem Tresen, er besieht sich den ewigen Strom der vorbeiziehenden Passanten und grinst. Es sieht etwas spöttisch, etwas herablassend aus, wie er den Leuten nachsieht, denn da draußen vor seinem kleinen Schaufenster ziehen unentwegt all die Trottel vorbei, die man kaum unterscheiden kann, erst ziehen sie von links nach rechts, dann ziehen sie wieder von rechts nach links, so denkt er vielleicht. Frank Zappa hätte das, da darf man wohl sicher sein, auch so gesehen.

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Am Nachmittag sehe ich wie immer zwischendurch aus dem Fenster auf den leeren Spielplatz. Es sind keine Kinder da, es ist heute zu kalt und zu grau, es ist ein unangenehmer Tag für die meisten. Nur ein Mann geht ihm Kreis und zwischen den leeren Schaukeln hin und her. Mit einem etwas bärenhaft schaukelnden Gang, der mir auf Alkoholkonsum hinzuweisen scheint. Er bleibt stehen und trinkt aus einem Flachmann, und das ist dann auch nett, wenn meine Gedanken von meinen Figuren so prompt und beflissen bestätigt werden. Der Mann geht zur Mauer am Rand des Platzes, legt die Hand auf einen Ziegel und befühlt ihn einen Moment, er nickt dann.

Er verlässt den Platz, er geht zu den Häusern gegenüber. Er fasst einen Stein an, der zur kunstvoll gemauerten Umrandung einer Haustür gehört, er tastet ihn ab, er nickt. Und das macht er dann noch mit mehr Steinen an mehr Häusern, auch an der Kirche. Es sieht nicht aus, als würde er etwas suchen, es sieht eher aus … als würde er ernsthaft die Beschaffenheit der Steine in dieser Stadt erkunden. Manchmal nickt er dabei, manchmal nickt er nicht.

Dann trinkt er noch einen großen, letzten Schluck, wirft den leeren Flachmann kopfschüttelnd in einen Mülleimer und geht weiter, langsam, etwas schaukelnd. Es gibt noch mehr Steine in dieser Stadt.

Und es gibt noch mehr Szenen, die man vom Fenster aus beobachten und nicht zuverlässig deuten kann.

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Im Tagesbild und fast ohne jeden Zusammenhang, wenn man von der herbstlichen Stimmung absieht, die Tretboote unten an der Alster im Novembermodus.

Tretboote an einem verlassenen Steg, Herbstlaub im Wasser, grauer Himmel

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Die eigene Geschichte

Mittwoch. Ein Office-Office-Tag. Der innere Bartleby ist stark in mir, ich möchte lieber nicht, aber die protestantische Arbeitsethik ist es auch, versteht sich, die mir übrigens ohne jeden religiösen Aspekt von der Familie erfolgreich mitgegeben wurde. Tatsächlich kann ich mich an niemanden mit kirchlicher Bindung erinnern, nicht einmal in der Großelterngeneration, aber vielleicht habe ich es auch nur nicht mitbekommen oder gewürdigt.

Was übrigens eines dieser Themen ist, bei denen man mit zunehmendem Alter immer noch mehr Erkenntnis gewinnt – wie wenig man doch mitbekommen hat als Kind, was man alles nicht verstanden und korrekt eingeordnet hat. Weil wichtige Informationen fehlten oder historische Zusammenhänge, weil man zu Relativierungen aller Art als Kind nicht in der Lage war, weil man zu mitmenschlichem Verständnis damals noch nicht geneigt war. In jedem weiteren Lebensjahr fällt einem noch etwas und dann noch etwas auf, das die eigene Geschichte anders wirken lässt, oder es geht zumindest mir so. Wie sich die Bilder der Eltern und der anderen Verwandten über die Jahrzehnte immer noch weiter verfeinern, wie man hier noch ein Detail und da noch eines ergänzt und alles auch endlich geschichtlich einordnet – es ist doch ein weiter Weg von den Affekten, Ängsten und Träumen der Kindheit zu einem eher sortierten, familienromanähnlichen Konstellationsbild, das man einigermaßen reflektiert betrachten und neu lesen kann, mit Ruhe, Gelassenheit und klareren Gedanken. Womöglich auch mit den eigenen Kindern im Hintergrund, bei denen sich gewiss manches wiederholen wird, wie man dann mit einem schon altväterlich wirkenden Nicken bei den ersten Anzeichen registriert.

Familienromanidee: Erst einmal Obiges abbilden, wie da jemand also sein Familienbild allmählich revidiert, vielleicht anlassbedingt, etwa nach einer Beerdigung, so etwas wird doch gerne als Aufhänger genommen. Ein paar Gespräche, ein paar gefundene, nachgelassene Briefe oder Tagebücher, die man auch immer nett zitieren kann, so etwas. Einige Konstellationen, welche die Hauptfigur ihr ganzes Leben lang für entscheidend gehalten hat, die er oder sie stets als Grundvoraussetzungen der seelischen Verfasstheit verstanden hat, sie verschieben sich dabei, erst nur in Andeutungen, dann mit zunehmender Deutlichkeit und Geschwindigkeit.

Auf einer anderen Erzählebene, die man trickreich und literaturpreisverdächtig in die Handlung ziehen müsste, wird den Leserinnen allerdings im letzten Viertel des Buches ein Verdacht Seite um Seite immer plausibler: Dieses neue Bild der Familie, welches die Hauptfigur im Rückblick erkennt, farbig ausmalt und neu betrachtet, dieses neue Bild, das sie so angenehm versöhnlich stimmt und ihr über viele Kapitel zu deutlich mehr Gelassenheit verhilft, zu einem friedlicheren Selbstverständnis auch – es ist ebenso falsch wie das alte Bild. Es sind nur variierte Fehlinterpretationen, diesmal der gutmütigen Art.

Und der Roman endet dann damit, dass die Leserinnen, die nun schlauer sind als die erzählende Instanz, ohne dass sie recht wissen, wie das eigentlich zuging, zumindest kurz über die schicksalhaften Verflechtungen in ihrer eigenen Familie, über ihre eigene Geschichte nachdenken und dann zusammenfassend denken: Ach, weiß der Geier.

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Im Tagesbild Hammerbrook, das hatten wir schon lange nicht mehr.

Blick über ein Fleet in Hammerbrook in morgendlichem Licht

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Was schön wird

Am Montagmorgen habe ich einen frühen Termin in einem anderen Stadtteil, ich fahre mit der U-Bahn dorthin. Ich sehe auf den Streckenteilen über der Erde eine besonders schön von der Sonne ausgeleuchtete Stadt in ansprechender Herbst-Deko, attraktive Büsche und Bäume sogar an den hässlichsten Ecken. Ich gehe ein paar Minuten durch eine Gegend mit wenig Verkehr, die Luft ist klar, fast winterlich scharf und ich werde im Laufe des Tages von mehreren Leuten hören, was ich auch witternd wahrnehme: Es riecht nach Schnee, obwohl doch Schnee in keiner meiner Wetter-Apps vorkommt. Und doch, und doch, es liegt so etwas in der Luft, man riecht das doch, man kennt das doch. Alle Welt beschließt, insgeheim richtig zu liegen, denn es ist ein sehr schönes Gefühl, auch einmal richtig zu liegen, und irgendwann wird es schon schneien, ein paar Flöckchen wenigstens, dann werden wir alle weise nickend sagen: Siehste!

Das wird schön, und wir brauchen auch die positiven Aussichten.

Auf den Wegen dann leider prompt die ersten Menschen mit lustig sein sollenden Rentiermützen und Plüschgeweihen. In den Schaufenstern jetzt überall die anschwellende Weihnachtsdeko, und am Straßenrand die Arbeiter der Stadt, ich sehe tatsächlich nur männliche Exemplare, welche die saisonale Beleuchtung für den allfälligen Einkaufsrausch im Dezember anbringen, der laut aktuellen Presseberichten aber eher bescheiden ausfallen wird.

Meine Mutter, die ich später am Tag sehe, weil ihr Telefon nicht mehr geht, sagt, ihr sei so, als wenn ein Unwetter käme, irgendetwas Besonderes, sie habe so ein Gefühl ums Herz. Noch während sie spricht, kommt Wind auf, Regen schlägt an die Fenster ihrer Wohnung. Sie sieht raus und sagt: „Es schneit!“, aber es sind nur kleine Birkenblättchen, die der Wind quertreibend in den Tropfen des Geniesels verwirbelt, leise rieselt das Laub.

Die Sonne verschwindet jedenfalls für ein paar Tage, und sehr gut inszeniert ist das alles wieder.

Der Dienstagmorgen ist dann geprägt von großer Unlust bei allen, die Familie ächzt und knirscht und setzt sich nennenswert zu langsam und nur unter großen Mühen in Bewegung. Im Grunde ein Tag zum Liegenbleiben, für „Ich will in meine Mupfel“, das fühlen wir alle überdeutlich, aber was nützt es.

Der Wind heult währenddessen ums Haus. Weil wir weiter oben wohnen, hört sich das bei uns schön dramatisch an, schon ab Windstärke sechs, auch wenn es im Erdgeschoss vielleicht noch nicht auffällt, und der Regen auf den Dachfenstern klingt bei uns heute nach Sintflut. Zeit für eine solche wäre es auch, wie man spätestens nach Kenntnisnahme der Nachrichtenlage unweigerlich denkt.

An einer Straßenecke steht „Free Palestine“ an der Wand, direkt daneben steht „Palestine fuck off“. Das sind hier so die Zeitzeichen.

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Gelesen und gemocht: Alice Munro, Die Jupitermonde, Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. Das Buch passt nicht in meine Reihe deutscher Autorinnen, die ich sonst gerade konsumiere, aber es lag da eben neben mir und ich war gerade zu erledigt, mir ein anderes Buch aus dem Regal zu holen, ich hätte dafür aufstehen müssen.

Solche Zeiten sind das nämlich.

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Im Tagesbild noch eben das Rathaus bei Nacht. Es ist doch überraschend, was man mit dem Smartphone auch bei Dunkelheit noch aufnehmen kann, fällt mir in diesem Herbst auf, und nicht nur mir. Ich lese den gleichen Gedanken mehrfach in den Timelines und Blogs. Da gab es wohl einen technischen Entwicklungssprung.

Das angestrahlte Hamburger Rathaus bei Nacht

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Die kleine Rettung zwischendurch

Montag, der 13. November. Noch eine nachgereichte Szene aus den letzten Tagen. Vor dem Hauptbahnhof geht einer hektisch im Kreis und schreit immer wieder: „Wir brauchen die Sarah-Wagenknecht-Partei!“ Kopfschütteln um ihn herum, man weiß auch nicht gleich, ist er irre, ist er überzeugt oder ist er einfach nur im Sold unterwegs, und kann man das heute überhaupt noch zuverlässig unterscheiden. An dem Schreienden vorbei gehen vier Teenagerinnen vermutlich arabischer Herkunft, die das kunstvoll ins Haar gewoben tragen, was wir in meiner Jugend ohne jedes Hintergrundwissen Palästinenserfeudel genannt und lose um die Hälse getragen haben. Es war damals eine vage rebellisch assoziierte Mode, der Nahost-Konflikt war gewiss nicht unser Thema, unsere Kenntnisse werden arg spärlich gewesen sein und es ist bereits etwa hundert Jahre her. Die Welt war eine andere.

Auf die Plakate der Grünen bei uns im Stadtteil hat man Zettel über die abgebildeten Köpfe geklebt, „Bald knallt es“ steht darauf und wir sind längst so weit gekommen, dass es kaum noch auffällt, man geht so daran vorbei.

In meiner Gegend – aber das mag bei Ihnen anders sein – fallen jetzt auch die letzten Verkehrsregeln, und zwar in fast lachhafter Geschwindigkeit. Die letzte Eskalationsstufe waren hier die Einbahnstraßen, die gibt es jetzt de facto nicht mehr. Jede und jeder fährt durch, wo es ihm oder ihr eben passt, Moment, ich lege wieder „Freiheit, Freiheit“ auf. Das ergab sich im letzten halben Jahr so, ich kann das zeitlich gut eingrenzen, und man muss sich diesen Effekt in etwa so vorstellen, als sei das ansteckend, was es in sozialer Hinsicht sicher auch sein wird. Erst wagt sich nur ein Autofahrer verkehrt in die Straße, dann zwei an einem Tag, dann plötzlich viele, und nun ist es im Grunde so, dass wir hier eine Autoscootersituation haben: Alle versuchen, irgendwie vorteilhaft und also möglichst schnell durch den Verkehr zukommen, wie auch immer. Aktuelle Meldungen bestätigen das, es gibt mehr Unfälle, deutlich mehr Fahrerflucht, mehr Aggression, wir drehen komplett durch.

Ein Sohn sprach neulich von Führerscheinplänen, er wird da dann ein antiquiertes Regelwerk erlernen müssen, es wird ihm vermutlich seltsam vorkommen. Aber noch einmal, es mag sein, dass ich hier als Bewohner der Großstadtmitte eine eher ungewöhnliche Ausprägung sehe. Wohnte ich etwa im Heimatdorf der Herzdame, mir fiele vielleicht gar nichts auf und ich weiß nicht, wie es in kleineren Städten zugeht, in Lübeck etwa oder in Minden.

Na, die Soziologie muss später fachkundig beantworten, was dieser schnelle Verfall einer Ordnung zu bedeuten hat. Ich verbleibe vorerst bei „Alle irre“, und weiß, wie flach durchdacht das ist. Aber meine Theorie, nicht wahr, meine Theorie kommt mir nach wie vor durch und durch stimmig vor, und vielleicht muss man weiter auch gar nicht denken. Leider.

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„Karsch und andere Prosastücke“ von Uwe Johnson durchgelesen und gemocht, besonders den ersten Text, „Osterwasser“, ein ganz hervorragendes Stück.

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Im Tagesbild ein Rettungsringlein, von unbekannter Hand an ein Brückengeländer im Hafen geklemmt. Die kleine Rettung zwischendurch vielleicht, oder aber ein Rettungsillusiönchen, suchen Sie es sich aus.

Ein Spielzeugrettungsring an einem Brückengeländer

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Währenddessen in den Blogs

Das Ende von Social Media der ersten Stunde. In Bezug dazu: Frau Kaltmamsell über ein Jahr Mastodon

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Über Minderheiten in Israel

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Nils Minkmar über linke Politik.

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Nicola mit einer Kritik an der SZ

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Frau Novemberregen über das Weinen

Ein Graffiti an der Oberhafenbrücke: More Love

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Das schwache Licht der Nordhalbkugel

Sonntag, der 12. November. Vorweg ein Dank für die überaus freundliche Zusendung von „all’orto“ von Claudio Del Principe, das ist ein Gemüsekochbuch, ein besonders schönes.

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Früher Wochenendmorgen am offenen Küchenfenster, es ist noch dunkel draußen, mein erster Kaffee. Kühl ist es geworden, sechs Grad, und es wird sicher bald kälter werden. Die Luft riecht spätherbstlich modrig und erdig vom Spielplatz her, wie Waldessenz mitten in der Stadt riecht es. Aus den noch halb belaubten Bäumen tropft und trieft es vom nächtlichen Regen. Es ist ausgesprochen ungemütlich, Rotkehlchen, Kohlmeisen und Spatzen sind heute zurückhaltend, leise Meldungen nur höre ich hin und wieder aus den Büschen. Die Fenster ringsum liegen zu dieser Stunde noch sämtlich im Dunkel, nur auf einem Schreibtisch in einem Arbeitszimmer ein Haus weiter steht ein stets beleuchteter Globus, ich sehe dort das schwache Licht der Nordhalbkugel.

Zwei Menschen gehen unten vorbei und reden leise, vermutlich höre ich gerade Russisch, aber sicher kann ich mir da nicht sein. Sie sehen in die Mülleimer vor den Häusern und an der Straßenecke, sie suchen Pfandflaschen. Jemand kommt kurz darauf schwarzgekleidet aus einer unbeleuchteten Souterrainwohnung und sieht sich mehrmals um, es sieht nach einem Moment aus einem Krimi aus, und vielleicht waren es auch nicht nur Pfandflaschen, nach denen da gesehen wurde.

Oben am Kirchturm die kreisenden Krähen, die haben alles gesehen. Die haben auch ein Auge auf mich.

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„Arnes Nachlass“ von Lenz durchgelesen und nicht gut gefunden. Man bemerkt die Schwächen seiner Figuren immer dann, wenn sie reden, denn das können sie nicht, sie sagen nur Texte auf. Aber die Hafenkulisse, die war gut, es war auch keine schlimm verschwendete Zeit. Dann „Wo warst du, Adam“, von Heinrich Böll, noch eine Bildungslücke geschlossen. Ein bitteres Buch vom Krieg.

Danach Erzählungen von Heimito von Doderer, den ich noch komplett vor mir habe. Es ist manchmal auch schön und beruhigend festzustellen, was man alles noch nicht gelesen hat, vielleicht kennen Sie das?

Über jeden fällt her, was ihm auf seiner Ebene zusteht, auf welcher er sich jeweils befindet und der Rang unserer Schwierigkeiten ist unserem Zustandswerte stets genau angemessen.

Schreibt der Herr von Doderer, und man möchte „Auch das noch!“ an den Rand schreiben.

Und wenn der Monat auch sonst bisher nicht viel taugt, als Leser bin ich doch hochzufrieden mit ihm, und das ist nicht wenig. Die Langstrecke ist mir mittlerweile bei Romanen wieder möglich, auch zwischendurch greife ich nun wieder öfter zum Buch, nicht zum Handy. Und ohne es unnötig verallgemeinern zu wollen, fühlt es sich für mich gerade gut und fast befreiend an, weniger online zu sein, auf eine Art auch selbstbestimmter.

Ein Graffiti an einem grauen Gestänge im Hafen: Read Books

Ich entnehme diversen Meldungen und Artikeln, dass ich auch mit dieser Entwicklung wieder nicht allein bin. Nie bist du ohne Nebendir, hieß es bei Ringelnatz, wenn auch in einem anderen Zusammenhang.

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Von Szene zu Szene

Sonnabend, der 11. November. Gesehen und sehr gemocht: Jane B … wie Birkin. Ein Film von Agnès Varda auf arte.

Gelesen: Australien und die Klimaflüchtlinge der Inselnation Tuvalu. Tuvalu ist wohl das erste Land, das wir verlieren werden.

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Ich gehe eine Straße entlang, es ist nur der übliche Weg um den Block. Mir kommt ein bekannter Theaterschauspieler entgegen, der sein Notizbuch in der Hand hält und Texte murmelt. Oft sehe ich ihn so, lernend, arbeitend, er ist ein Nachbar. Die Szene gewinnt einige Besonderheit durch einen bekannten Filmschauspieler, der auf gleicher Höhe gerade im Kofferraum eines Autos am Straßenrand wühlt, er scheint etwas zu suchen und nicht zu finden. Links Theater, rechts Film, ich gehe durch ihre Mitte und frage mich, was ich in dieser Szene mache, welche Rolle und Wirkung ich habe, wer hier was inszeniert und ich bin dann etwas beruhigt, als der nächste Passant einfach nur irgendwer ist, wie ich, kein Schauspieler, kein Promi. Irgendein Gesicht, vorbei, vergessen.

Später erst bin ich darauf gekommen, dass abseits des Improtheaters erst das Aufschreiben eine Szene zur Szene macht, dass der Zauber in diesem Fall also ganz bei mir lag, ich hätte etwas selbstbewusster durch die beiden spazieren können.

„So, na dann“, sagt der Filmschauspieler, schiebt sich etwas in die Jacke, macht den Kofferraum energisch zu und geht weiter, denn mehr Text hat er heute nicht. Mehr dichte ich ihm auch nicht an, als bloßer Chronist des Alltags. Aber ich könnte doch, denke ich, und ich finde den Gedanken kurz erfreulich, vielleicht sogar verlockend.

Ich setze mir meine Kopfhörer auf, ich lasse eine Playlist zufällig beginnen und warte, was der Soundtrack zu dieser Szene ist, denn die Begleitmusik ist bekanntlich immer wichtig und rundet alles erst ab. Es ist Vince Guaraldi, der verlässlich eine gute Wahl ist, mit dem Great Pumpkin. Jahreszeitlich ist das noch knapp passend, das kann man durchgehen lassen, es liegen auch hier und da noch Dekokürbisse in den Schaufenstern und legitimieren den Song.

Und dann einmal um die Ecke, gegenüber von den Holzbuden, die bald den Weihnachtsmarkt darstellen werden, da stehen die Busse und Wagen einer Filmproduktion auf dem Platz. Jemand trägt gerade große Lampen über die Straße, einer schleppt Kabelbündel und schwere Geräte, einer kocht Kaffee im Catering-Bus. Passanten bleiben stehen und gucken, ob es da gleich etwas zu gucken geben wird, einer zeigt mit dem Finger und wird mir dadurch für eine Sekunde zur Figur, die auf Figuren zeigt.

Aber das ist dann wieder für eine andere Szene. Ich teile die Neugier dieser Passanten ansonsten nicht und schlage mich also seitwärts zwischen die parkenden Autos, in die Kulissen und ins Dunkel, wo vermutlich kein Beleuchter hinkommen wird.

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Im Bild heute zwei Möwendarsteller vor der Binnenalster.

Zwei Möwen am Ufer der Binnenalster, Jungfernstiegseite. Im Hintergrund die Fontäne.

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